Während das kapitalistische System von einer Krise in die nächste schlittert, treten alte Widersprüche wieder zutage. Überall auf der Welt kommt es zu Instabilität, Polarisierung und gewaltigen politischen Umwälzungen. Im Rahmen dieses Prozesses brechen ungelöste nationale Fragen rund um den Globus erneut und mit neuer Kraft auf – von Katalonien über Kurdistan bis Irland. Von Ben Curry (Juli 2019).
Und nicht nur in der nationalen Frage vollziehen sich diese gewaltigen Umwälzungen. Das Aufkommen neuer politischer Bewegungen und Formationen, von Sanders über Corbyn bis Podemos, spiegelt die Sackgasse des Systems wider und die Tatsache, dass die Massen – mangels einer Partei mit einem klaren, revolutionären Programm – nach einem Ausweg suchen.
Die marxistische Methode
Für Marxisten stellt die nationale Frage eine der herausforderndsten und komplexesten Fragen dar – eine Frage, für die es keine „allgemeingültige“ Formel gibt. Wenn wir uns damit befassen, ist unser erster Grundsatz immer das Ziel, die Arbeiterklasse der ganzen Welt zu vereinen, um für den Sturz des Kapitalismus zu kämpfen.
Grundsätzlich wollen Marxisten Grenzen abschaffen, nicht neue errichten. Dennoch haben die Marxisten, insbesondere Lenin und die Bolschewiki, das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Nationen verteidigt, bis hin zur Loslösung. Das erscheint zunächst widersprüchlich. Wollen wir denn nicht alle Grenzen abschaffen? Warum verteidigen wir dann das Recht, neue Grenzen zu errichten?
Im Jahr 1903 diskutierte die Russische Sozialdemokratische Partei (RSDLP), zu der auch die Bolschewiki gehörten, über genau dieses Problem. Russland wurde damals wegen der grausamen Unterdrückung der Ukrainer, Georgier, Weißrussen, Litauer, Juden und anderer nationaler Minderheiten als „Gefängnis der Nationen“ bezeichnet. Die russischen Marxisten wendeten sich gegen die zaristische Unterdrückung und schrieben sich die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen auf ihre Fahne.
Diese Haltung wurde damals von Rosa Luxemburg kritisiert, die sich in einem erbitterten Kampf gegen den polnischen Nationalismus befand. In dieser Debatte unterstrich Lenin zu Recht, dass man den polnischen Nationalismus am besten dadurch untergräbt, dass die russische Arbeiterklasse (die Arbeiterklasse der Unterdrückernation) offen erklärt, dass sie kein Interesse an der Fortsetzung der russischen zaristischen nationalen Unterdrückung hat. Die Politik der Verteidigung des demokratischen Rechts unterdrückter Nationen auf Loslösung zielte daher darauf ab, die Einheit der Arbeiterklasse gegen ihren gemeinsamen Feind zu festigen.
Diese Methode hat sich als 100% korrekt erwiesen. Ohne diese Politik hätte der Ausbruch der Russischen Revolution von 1917 wahrscheinlich zur Abspaltung verschiedener Republiken von der Sowjetunion geführt. Diese nationalen Bewegungen hätten den Bolschewiki als rein „russischer“ Partei misstraut.
Mit anderen Worten, der Zugang der Marxisten in ihrer Position zur nationalen Frage ist dadurch gelenkt, nationale Feindseligkeit und Misstrauen abzubauen, um so den Weg für wirkliche, internationale Klasseneinheit freizumachen.
Marx und die nationale Frage
Zu verteidigen, dass Nationen das Recht haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ist jedoch eindeutig nicht dasselbe wie immer für Unabhängigkeit und Loslösung einzutreten. Wir können die Scheidung einer Ehe als Analogie nehmen. Natürlich verteidigen wir das Recht beider Partner sich scheiden zu lassen. Heißt das, dass man fordern sollte, dass jede Ehe geschieden wird? Nein, natürlich nicht!
Die Frage, ob Marxisten in einem bestimmten Fall für das Selbstbestimmungsrecht eintreten, ist immer eine konkrete Frage. Marx, Engels, Lenin und Trotzki haben unter verschiedenen Umständen nationale Bewegungen in Europa unterstützt oder abgelehnt. Ihr Kriterium war immer: Dient es den Interessen der Arbeiterklasse?
In den 1840er Jahren war Marx beispielsweise der Überzeugung, dass der Sieg des Kampfes der englischen Arbeiter (z. B. der Chartistenbewegung) für die irische Befreiung ausschlaggebend sei. In den 1860er Jahren vertrat er jedoch die gegenteilige Ansicht, nämlich dass die Abtrennung Irlands von England die notwendige Voraussetzung für die sozialistische Revolution in England selbst sei.
Die Loslösung Irlands hätte noch weitere positive Auswirkungen für die Arbeiterbewegung gehabt. Die Unterdrückung führte zu wachsenden nationalen Spannungen zwischen britischen und irischen Arbeitern in britischen Städten. Die Kapitalistenklasse verstand es, diese Feindseligkeiten zu nutzen. Die Unabhängigkeit Irlands hätte dazu beigetragen, den nationalen Hass zu überwinden und den Boden für die Einheit zwischen irischen und englischen Arbeitern auch in England zu bereiten.
Wir sehen also, wie Marx und Engels die Unabhängigkeit Irlands aus einer internationalistischen Perspektive unterstützten. Bei der Beurteilung der vielen Erscheinungsformen der nationalen Frage heute sind die Schriften der großen marxistischen Lehrer eine wahre Fundgrube an Erfahrungen und Beispielen für Flexibilität und Sensibilität im Umgang mit dieser Frage.
Nationale Frage wieder aktuell
Es zeugt von der Tiefe der heutigen Krise, dass die nationale Frage selbst in den Ländern wieder auftaucht, in denen sie jahrhundertelang als „gelöst“ galt. So etwa in Schottland, wo die Union mit England und Wales – bis vor kurzem – 300 Jahre lang relativ unbehelligt bestanden hatte.
Warum ist sie also wieder aufgeflammt? Der eigentliche Grund liegt in der wirtschaftlichen Situation. Die Krise der 1970er Jahre führte zu einer Periode des Klassenkampfes, an dem Arbeiter in ganz Großbritannien beteiligt waren. Doch mit den Niederlagen der Arbeiterbewegung in den 1980er Jahren (Bergarbeiter, Druckereiarbeiter, Hafenarbeiter usw.) blieb die Entwicklung nicht einfach stehen. Die Menschen suchten weiterhin nach Antworten auf ihre Probleme.
Wenn dann die Arbeiterklasse aufgrund ihrer reformistischen Führung keinen Ausweg aufzeigen kann, tritt unter Umständen die nationale Frage im großen Stil wieder zutage, wobei die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Nationalisten scheinbar die Lösung haben. So war es in Schottland.
Und wenn die Arbeiterklasse aufgrund ihrer reformistischen Führung nicht in der Lage ist, einen Ausweg zu finden, kann die nationale Frage in großem Stil wieder auftauchen, wobei kleinbürgerliche und bürgerliche Nationalisten einen Ausweg zu bieten scheinen. Dies war in Schottland der Fall. Bislang hatte die Scottish National Party (SNP) als rechte Partei gegolten. Unter den Arbeitern genoss sie wenig Unterstützung und wurde die „Tartan Tories“ genannt.
Doch mit dem Aufstieg des Blairismus hat die SNP Labour von links überholt. Die schottischen Nationalisten konnten durch das Versprechen der Unabhängigkeit von England Lösungen bieten, die Labour jahrzehntelang nicht angeboten hatte. Viele der politisch bewusstesten Arbeiter und Jugendlichen haben sich daher der schottischen Unabhängigkeit als möglicher Lösung für die Probleme der Einsparungen, der Armut und des Leids zugewandt, die der britische Kapitalismus ihnen aufbürdet.
Die grundlegende Position der Marxisten bleibt unverändert. Wir treten für die Einheit der Arbeiterklasse ein. Wir kämpfen für eine Sozialistische Föderation von Schottland, England, Wales und Irland, als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas. Wir erklären nach wie vor, dass eine „Unabhängigkeit“ auf kapitalistischer Basis keine wirkliche Unabhängigkeit bringt. Die Austerität, die Armut und die Ausbeutung, denen die schottischen Arbeitnehmer entkommen wollen, würden fortbestehen, weil sie von der Krise des Kapitalismus angetrieben werden.
Doch das Unabhängigkeitsreferendum 2014 markierte einen entscheidenden Wendepunkt. Obwohl die Nein-Stimmen knapp überwogen, traten Massen von Arbeitern und Jugendlichen auf die politische Bühne, und ihre Vorstellung von Unabhängigkeit entsprach keineswegs der jener, wie sie die rechten Nationalisten vertraten.
Wir können diese nationalen Bestrebungen nicht mit einer Handbewegung und der Aussage „der Sozialismus wird all diese Probleme lösen“ abtun. Marxisten erheben daher die Losung einer unabhängigen Arbeiterrepublik Schottland als Teil einer sozialistischen Umwälzung auf diesen Inseln und als einen Schritt in Richtung einer sozialistischen Föderation.
Aber auch hier ist die Geschichte damit noch nicht zu Ende. Die nationale Frage wird sich so lange weiterentwickeln, bis der Kapitalismus selbst gestürzt ist. In der kommenden Periode ist es nicht ausgeschlossen, dass der sich zuspitzende Klassenkampf in England – insbesondere die Wahl einer linken Labour Regierung – die Unabhängigkeitsbewegung eine Zeit lang überlagern könnte. Dies hängt jedoch in hohem Maße von der Fähigkeit der Labour-Führer in Großbritannien ab, feinfühlig mit den nationalen Bestrebungen der schottischen Arbeiter umzugehen, die einen progressiven Kern haben.
Der stärkste Impuls für den schottischen Nationalismus ging 2014 von den Blairites aus, die im Rahmen der „Better Together“-Kampagne die gleiche Position wie die Tories vertraten.
Trotz der Wahl von Corbyn und der Wahl eines linken Parteivorsitzenden – Richard Leonard – in der schottischen Labour-Partei bleiben die Parteiführer in der nationalen Frage blind, wie die anhaltende Weigerung der Labour-Partei zeigt, das Recht auf ein zweites Referendum zu unterstützen.
Katalonien
Auch in Katalonien haben wir eine ähnliche Entwicklung erlebt. Bis 2017 hatte die katalanische Nationalbewegung in vielerlei Hinsicht nicht das gleiche Ausmaß erreicht wie die Entwicklungen in Schottland. Doch am 1. Oktober 2017 versuchten die führenden Nationalisten in Katalonien, ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten. Sie rechneten damit, dass der spanische Staat das Referendum unterdrücken würde, und hofften daraus politisches Kapital schlagen zu können. Einen wirklichen Kampf wollten sie allerdings nicht anzetteln.
Der korrupte spanische Staat reagierte mit einem Ausmaß an Repression, das an die Franco-Ära erinnert. Die rückständige spanische Kapitalistenklasse hatte die nationale Frage nämlich nie gelöst und konnte den spanischen Staat in entscheidenden Momenten nur durch brutale Repression zusammenhalten.
Jedoch waren alle Parteien überrumpelt, als Millionen von katalanischen Arbeitern gegen die brutale Unterdrückung durch den spanischen Staat mobilisierten, um das Referendum zu verteidigen.
Trotzki sagte einmal, dass Nationalismus „die äußere Hülle eines unreifen Bolschewismus“ sein kann. Auf den „Nationalismus“ der Tausenden von linken katalanischen Feuerwehrleuten, Krankenschwestern und Schülern, die sich mutig gegen die staatliche Repression in Spanien gewehrt haben, trifft das auf jeden Fall zu.
Nationalismus kann aber auch die äußere Hülle eines heranreifenden Faschismus sein. Das sehen wir im Fall des spanischen Nationalismus, der vom spanischen Establishment – den Überbleibseln des franquistischen Regimes – als Antwort auf die Ereignisse in Katalonien in reaktionärer Weise aufgepeitscht wurde.
Die Ereignisse in Katalonien vermittelten auf eindrückliche Weise die Lehre, wie wichtig es für die Linke ist, eine richtige Haltung in der nationalen Frage zu haben. Die linke Partei Podemos hat leider eine Position der „Äquidistanz“ zwischen dem katalanischen und dem spanischen Nationalismus eingenommen – als ob die beiden dasselbe wären!
Der spanische Nationalismus, der von Parteien wie der PP, Ciudadanos und Vox vertreten wird, steht in einer verkommenen, rechtsgerichteten und faschistischen Tradition. Aber die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hat einen fortschrittlichen, republikanischen Charakter. Im Gegensatz zu den Podemos-Führern geben die Marxisten in Katalonien daher die Parole aus: Für eine katalanische sozialistische Republik als Funke für die iberische Revolution!
Kurdistan
In wenigen Teilen der Welt haben die Widersprüche des sterbenden kapitalistischen Systems ein so akutes und schmerzhaftes Ausmaß erreicht wie im Nahen Osten. Nach dem Arabischen Frühling spürten die imperialistischen Mächte den Boden unter ihren Füßen wegbrechen. Das von ihnen geschaffene Kräfteverhältnis war erschüttert. In Syrien führte dies zu einem Ringen um Einfluss, mit extrem reaktionären Folgen.
Der rasche Wechsel von Revolution und Konterrevolution hatte tief greifende Auswirkungen auf das Schicksal des kurdischen Volkes, der weltweit größten nationalen Gruppe ohne Heimatland. Vierzig Millionen Kurden leben hauptsächlich in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran.
Als die syrische Revolution 2011 begann, war die Entwicklung zu einer Machtübernahme der Arbeiterklasse möglich. Wenn es in Syrien eine revolutionäre Partei gegeben hätte, hätte diese die Losung der Notwendigkeit einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens und vor allem die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse und das Recht auf Autonomie für die verschiedenen nationalen Gruppen ausgegeben. In Syrien leben in den bevölkerungsreichsten Regionen zahlreiche ethnische und religiöse Gruppen: nicht nur Araber und Kurden, sondern auch Sunniten, Alawiten, Drusen, Christen und andere.
Mit dem Abgleiten in den Bürgerkrieg und dem wachsenden Einfluss der Islamisten in der Opposition, bewog die Vorherrschaft der Reaktion die Kurden im nördlichen Gebiet von Rojava dazu, die Kontrolle über ihre eigenen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände zu nehmen. Jenseits der Grenze zum Irak wurden die kurdischen Regionen unterdessen immer mehr vom restlichen Staat getrennt. Der Wunsch der Kurden, sich von einem sektiererischen und unterdrückerischen Regime in Bagdad loszusagen, ist leicht zu verstehen.
Diese parallelen Entwicklungen haben bei Millionen von Kurden die Hoffnung geweckt, dass die Gründung eines eigenen Staates in greifbare Nähe rücken könnte.
Vor diesem Hintergrund rief Barzani, ein Rechtsnationalist in Irakisch-Kurdistan, 2017 zu einem Unabhängigkeitsreferendum auf, das mit 92,73% eine große Mehrheit fand. Was waren die Folgen? Die Mächte in der Region fürchteten das Echo, das dies bei ihrer eigenen kurdischen Bevölkerung erzeugen würde, und versuchten, Barzani und die irakischen Kurden einzuschüchtern. Sowohl der Iran als auch die Türkei haben ihre Grenzen geschlossen, während das irakische Regime Truppen nach Kirkuk schickte, um den Ölfluss zu kappen.
Am Rande sei erwähnt, dass die Barzani-Gang versucht hat, ihre Kontrolle über die mehrheitlich kurdischen Gebiete hinaus auf Städte wie Kirkuk und andere auszuweiten, wo eine gemischte Bevölkerung lebt. Es ist verlockend, die Welt in Schwarz und Weiß, in unterdrückte und unterdrückende Nationen zu unterteilen. Aber die Bourgeoisie in den unterdrückten Nationen strebt im Grunde danach, selbst zum wichtigsten Unterdrücker zu werden!
Von Seiten der USA wurde nichts zum Schutz der nationalen Rechte der Kurden unternommen. Seit dem Aufstieg von ISIS stützen sich die USA zunehmend auf die Kurden als die kompetenteste Kampftruppe der Region. Marxisten warnten davor, dass die Kurden (und andere kleine und unterdrückte Nationalitäten) nur Kleingeld für die USA und andere imperialistische Mächte in ihren Beziehungen untereinander sind. Das hat sich als durchaus zutreffend herausgestellt.
Unter diesen Umständen unterstützen die Marxisten das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung. Allerdings haben wir erklärt – und die Ereignisse bewiesen das –, dass die Unabhängigkeit nur durch den Sturz von Erdogan in der Türkei, den Ayatollahs im Iran ect. durch die Arbeiter in der ganzen Region erreicht werden könne.
Mit anderen Worten: ein demokratisches, unabhängiges Kurdistan kann nur als Teil des Kampfes für eine sozialistische Föderation im Mittleren Osten realisiert werden. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen nationalistischen Anführer haben an einer so gearteten Lösung der Kurdenfrage ein Interesse.
In Kurdistan zeigt sich vielleicht mehr als anderswo, wie der Kampf für die Selbstbestimmung der unterdrückten Völker im Imperialismus eng mit dem internationalen Kampf der Arbeiterklasse für den Sozialismus verbunden ist. Ohne eine internationalistische und eine Klassenperspektive ist es in der Tat unmöglich, das komplexe Geflecht nationaler Widersprüche, das im gesamten Nahen Osten besteht, zu entwirren, und es wird nur zu einer weiteren Quelle von Elend und Leid für die Menschen.
Kein einfacher Prozess
Während die Krise des Kapitalismus in Schottland, Katalonien, Kurdistan und anderswo zum Entstehen fortschrittlicher nationaler Kämpfe geführt hat, hat die Bourgeoisie anderswo die nationale Frage geschürt, um den aufkommenden Klassenkampf zu unterbinden. Selbst wenn dies bedeutet, die Situation an den Rand eines Bürgerkriegs zu treiben, ist dies der herrschenden Klasse bei weitem lieber, als zuzulassen, dass ihr ihre Macht und ihre Privilegien entgleiten.
In den Jahren 1968-69 nahm der Ausbruch der Bürgerrechtsbewegung in Nordirland revolutionäre Züge an, inspiriert von den Ereignissen in Frankreich. Die britischen Kapitalisten trieben die Entwicklung absichtlich weg vom Klassenkampf und hin zum Sektierertum.
Die Tories kollaborierten aktiv mit loyalistischen Paramilitärs in Bezug auf sektiererische Morde. Unterdessen versorgte ein Teil der Bourgeoisie im Süden Irlands die Provisional IRA – eine rechtsgerichtete, antikommunistische Organisation – mit Geld und Waffen. Der Einsatz von individuellem Terror durch die PIRA hat die Kluft zwischen den Religionen noch vergrößert. Dies war für die britische herrschende Klasse sehr viel günstiger als die Konfrontation mit einer geeinten, revolutionären Arbeiterklasse.
Anfang 2018 erlebten wir das Erstarken der paschtunischen Tahafuz-Bewegung (PTM) in Pakistan. Pakistan wurde 1947 mit der Teilung Indiens durch den britischen Imperialismus künstlich geschaffen. Dieses Verbrechen führte zum Tod von mehr als zwei Millionen Menschen durch kommunale Gewalt. Bis zum heutigen Tag ist die nationale Frage ungelöst. In Kaschmir sehen wir, wie die herrschende Klasse in Pakistan und Indien diese offenen Wunden nutzt, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und den nationalen Chauvinismus im eigenen Land zu schüren.
In Pakistan ist die Kapitalistenklasse nicht in der Lage, einen stabilen, demokratischen Staat zu errichten. Vielmehr bedient sich die herrschende Klasse, die vor allem in der Region Punjab ansässig ist, brutaler Unterdrückung, um zu verhindern, dass zentrifugale Kräfte Pakistan auseinander reißen. In den paschtunischen Stammesgebieten hat dies zu Tausenden von gewaltsam Verschleppten geführt, deren Angehörige aus Furcht vor den Konsequenzen schweigen.
Doch im Jahr 2018 wurde diese Situation unerträglich. Rund um die PTM wurden Massendemonstrationen und Versammlungen von Hunderttausenden unterdrückten Paschtunen organisiert. Aber die Paschtunen sind nicht die einzige unterdrückte Nationalität in Pakistan. Die unterdrückten Hazaras ließen sich von der PTM inspirieren, ebenso wie die Belutschen.
Der pakistanische Staat befürchtete nichts mehr, als dass sich diese Bewegung mit dem Kampf anderer unterdrückter Gruppen vereinen und den Klassenkampf in Pakistan entscheidend vorantreiben könnte. Tatsächlich traten Marxisten gerade dafür ein, dass die PTM den Kampf der Paschtunen mit dem Kampf anderer unterdrückter Gruppen – und vor allem mit den Kämpfen der Arbeiter – verknüpfen müsse.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die herrschende Klasse Pakistans gegenüber denjenigen in der PTM-Bewegung, die der Bewegung eine rein nationalistische Orientierung geben wollten, eine sehr wohlwollende Haltung einnahm. Diesen Nationalisten ist es leider gelungen, die Führung der PTM zu übernehmen. Was also als vielversprechende Bewegung begann, wurde von der herrschenden Klasse bewusst in nationalistische Bahnen gelenkt.
Eine konkrete Frage
Anhand dieser wenigen Beispiele können wir sehen, wie vielfältig die nationale Frage sein kann. Keine nationale Frage gleicht der anderen. Und von einer Minute auf die andere hört dieselbe nationale Frage auf, so zu sein, wie sie zuvor war. Die einzige Konstante ist die Veränderung selbst.
Bürgerliche und kleinbürgerliche Nationalisten nutzen den Nationalismus gern für ihre eigenen Zwecke: entweder um die Arbeiterklasse zu spalten oder um sich eine privilegierte Stellung zu verschaffen. Die herrschende Klasse ist sich durchaus bewusst, wie sie nationale Unterschiede nutzen kann, um ArbeiterInnen zu entzweien und zu spalten.
Die marxistische Methode hingegen zielt darauf ab, die fortgeschrittensten und klassenbewusstesten Arbeiter mit den nötigen Ideen, Slogans und Strategien auszustatten, um den Rest der Klasse von nationalen, ethnischen und religiösen Vorurteilen abzubringen und so die Mauern niederzureißen, die die Kapitalisten errichten.
Aber die richtigen Slogans, die richtige Strategie und die richtigen Forderungen zu finden, ist keine einfache Aufgabe. Es gibt keine vorgefertigten Formeln. Man muss vielmehr zunächst jede Frage genau untersuchen, um ihre Dynamik herauszuarbeiten. Die nationale Frage sollte vor allem als Prozess verstanden werden. In diesem Prozess sind die sich ändernden Einstellungen der verschiedenen Klassen ausschlaggebend für eine richtige Einschätzung.
Glücklicherweise haben Marx, Engels, Lenin und Trotzki einen reichen Fundus an Literatur zu diesem Thema hinterlassen, der von allen Marxisten und klassenbewussten Arbeitern studiert werden sollte. Es handelt sich dabei um die gebündelten Erfahrungen, die Marxisten bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen in der Vergangenheit gesammelt haben.
In Zukunft werden die Widersprüche des Kapitalismus einen immer zugespitzteren Charakter annehmen. Die nationalen Antagonismen werden sich weiter verschärfen. Wir müssen darauf vorbereitet sein eine klare und eindeutige Politik in der nationalen Frage zu verfolgen.