Vor hundert Jahren, am 17. September 1911, eskalierten Teuerungsproteste („Hungerrevolte“) in Wien in heftigen Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei.
Lebensmittel waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich sehr teuer. Das lag zum einen an der agrarischen Rückständigkeit des Landes: Ein großer Teil der Lebensmittel musste importiert werden, die Zölle trieben die Preise nach oben. Zum anderen wurde mit Lebensmitteln spekuliert, was die Situation weiter verschärfte. Gleichzeitig gab es eine große Wohnungsnot in Wien. Aufgrund eines starken Zuzugs sowie Spekulationen mit Grund, Wohnungsbau und Baumaterial und wenigen Neubauten von kleinen und somit billigeren Wohnungen (u. a. aufgrund des Steuersystems) gab es zu wenige verfügbare Wohnungen. Die Mieten wurden von den Hausbesitzern immer weiter nach oben getrieben, und immer mehr Menschen lebten gemeinsam auf engstem Raum.
Im Sommer 1911 kam es zu einer starken Teuerungswelle, die sogar große Teile des Kleinbürgertums (gutverdienende Selbstständige) zur Verzweiflung brachte. Dementsprechend angespannt war die Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung und es kam zu verstärkten Protesten. So musste z. B. der Simmeringer Lebensmittelmarkt von der Polizei geschützt werden, es gab spontane Demonstrationen gegen Hausbesitzer, die die Mieten erhöhten.
Sackgasse Parlament
Die Sozialdemokratie hatte mit der Erringung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) 1906 einen wichtigen Erfolg erzielt. Es hat sich aber sehr schnell gezeigt, dass über die Arbeit im Parlament keine entscheidenden Fortschritte für die ArbeiterInnen zu erzielen waren. So endete z. B. eine Initiative für die Legalisierung billiger Fleischimporte ohne Erfolg, da diese durch die bürgerlichen Parteien unter Druck von Großgrundbesitzern verhindert wurde. Der Kaiser und die bürgerliche Regierung machten immer wieder klar, dass man in Österreich „nicht parlamentarisch regieren kann“ und ließen dem Parlament keinen Spielraum. Für die Sozialdemokratie ergab sich daraus eine schwierige Situation, parteiintern wuchs die Kritik an der offensichtlich erfolglosen parlamentarischen Orientierung der Partei.
Angesichts der massiven Teuerung forderte die sozialdemokratische Basis aber Ergebnisse. Diesen Druck gaben die Gewerkschaftsführung sowie die Landesorganisation Niederösterreich im Parteivorstand weiter und verlangten außerparlamentarische Aktionen. Victor und Friedrich Adler lehnten dies ab, weil sie zurecht annahmen, dass die Regierung mit Gewalt gegen solche Demos vorgehen würde. Doch unter dem Eindruck von Streiks und offenen Misstrauensbekundungen aus etlichen Gewerkschaftsvereinen wurde für 17. September eine Ringstraßendemonstration beschlossen.
Die Unruhen
Es kamen rund 100.000 Arbeiter¬Innen, Forderungen waren z. B. „Nieder mit den Fleischwucherern“ und „Die Grenzen auf“ (für argentinisches Fleisch, Anm.). Das massive Polizeiaufgebot und der Einsatz von Militär (1.800 Mann und 220 Berittene, 135 Polizeiagenten und die gesamte Wache im 1. Bezirk, dazu als Reserve sechs Infanteriebataillons und 16 Kavallerieeskadrons) wurden als Provokation wahrgenommen. Als die ersten Militärhelme gesehen wurden, ging ein erzürnter Aufschrei durch die Menge.
Als sich das Gerücht breitmachte, dass vom Rathaus aus auf die Demonstration geschossen worden war, explodierte die Stimmung. DemonstrantInnen fingen an, das Rathaus zu bewerfen. Polizei und Militär gingen mit Gewalt gegen die Menschen vor. In der Innenstadt wurde eine Bühne für sozialdemokratische RednerInnen errichtet, die die Menge beruhigen wollten und sie aufforderten nach Hause zu gehen. Es kamen jedoch ständig neue Leute dazu. Sie wurden abgedrängt in Richtung der Außenbezirke. In Ottakring gesellten sich immer mehr sogenannte Randalierer zu den Protesten. Kaum eine Straßenlaterne oder Fensterscheibe blieb heil, es wurden Barrikaden errichtet, es gab direkte Straßenschlachten mit der Polizei. Hier wurde nun auch der Schussbefehl vom Militär gegeben. Obwohl sich einige Soldaten widersetzten und über die Köpfe der Menschenmenge schossen, wurden sechs Personen getroffen.
Es gab aber auch eine starke Solidarisierung seitens der Bevölkerung, die Kämpfenden wurden mit Steinen versorgt.
Die Revolte konnte bis zum Abend nicht unter Kontrolle gebracht werden, insgesamt dauerten die Proteste in Ottakring, Fünfhaus, Meidling und Favoriten noch bis zum 21. September an.
Durch das Vorgehen von Polizei und Militär starben drei Personen direkt, darunter der 19-jährige Schlossergehilfe Franz Joachimsthaler, eine weitere erlag einen Monat später den Verletzungen. Ein Angeklagter beging im Zuge des Prozesses Selbstmord. Es gab 126 zum Teil Schwerverletzte, auf der anderen Seite 23 verletzte Polizisten.
Die Prozesse gegen Demonstranten wurden als Abschreckung genutzt, es wurde mit allen Mitteln versucht, die Strafen möglichst hoch zu setzen. So wirkte die Selbstgefährdung der Demonstranten strafverschärfend, man könnte sich etwa an zerbrochenen Fensterscheiben schneiden.
Am Tag nach den Unruhen schrieb die sozialdemokratische „Arbeiterzeitung“: „Wir fordern (deshalb) alle Arbeiter und Parteigenossen auf, jede weitere Demonstration zu unterlassen (…). Vertraut eurer Partei! Wir werden das Notwendige tun.“ Die Menschen sollten sich auch nicht auf der Straße versammeln, sondern wieder zur Arbeit gehen. Man wollte jegliches weitere Blutvergießen vermeiden. Ein für später geplanter Generalstreik wurde abgesagt.
Da unter den Verhafteten vor allem Junge und Unorganisierte waren, distanzierte sich die Sozialdemokratie von der Revolte, man würde sie zwar verstehen, aber nicht billigen.
Die Parteispitze wollte mit dieser Demo in erster Linie Druck auf die Regierung erzeugen, damit das Thema Teuerung wieder im Parlament behandelt werde. Aber dieses Mittel der „außerparlamentarischen Konfliktsymbolisation“, wie es der Historiker Rudolf Ardelt nennt, blieb offensichtlich ohne Wirkung.
In der offenen Konfrontation mit der Regierung hatte die Partei nichts zu bieten. Deshalb verlor sie in diesen Tagen auch die „Kontrolle“ über die ArbeiterInnen. Aus Angst, sich wieder die Finger zu verbrennen, setzte sie in Zukunft das Mittel der außerparlamentarischen Massenaktionen nicht mehr ein. Insofern waren die Teuerungsunruhen eine wichtige Zäsur in der Herausbildung der Politik der Partei, die geradewegs in den offenen Verrat zu Beginn des Ersten Weltkriegs führte.
Helene Steiner
Vorsitzende der SJ Wien/Alsergrund