Neueste Gutachten bestätigen, dass Florian P. (14 Jahre) beim Einbruch in einem Supermarkt in Krems-Lerchenfeld in diesem Sommer von einem Polizisten mit einer Kugel in den Rücken erschossen wurde. Ein Artikel zum „Fall Krems“ von Emanuel Tomaselli.
Zwei Jugendliche brechen Anfang August in Krems-Lerchenfeld in einen Merkurmarkt ein und fangen rücklings zwei Kugeln von der Polizei ein. Der 14-jährige Florian P. stirbt, sein 17-jähriger Freund liegt schwer verletzt in Untersuchungshaft. Wer Fragen stellt, gilt als HetzerIn gegen die Polizei und SympathisantIn des Verbrechens. Wer kriminell agiert, muss eben mit „dem Schlimmsten“ rechnen, tönt es von der Innenministerin abwärts. Ein Sittenbild einer Gesellschaft, die nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise steckt.
Gesetz und Moral
Gesetze gelten grundsätzlich für alle Menschen gleich – in der Praxis jedoch stoßen besonders die Habenichtse an ihre Grenzen. Ein Beispiel: Insiderhandel mit Aktien, Steuerhinterziehung und andere Finanzbetrügereien etwa sind gesetzlich verboten, wie auch Einbruch oder Banküberfall. Wie viele Kriminelle jedoch sitzen für Finanzvergehen im Gefängnis und wie viele für Einbrüche?
Zugegeben, dies ist eine rhetorische Frage. Wenige Menschen haben so viel Geld zur Verfügung, dass sich Finanzkriminalität im großen Stil für sie auszahlen würde. Und die, für die es sich auszahlt, haben einige Vorteile auf ihrer Seite: sie sind nahe am Gesetzgeber (das österreichische Gesetz zur Bankenrettung etwa wurde vom Vorsitzenden des Sparkassenverbandes geschrieben), sie agieren in Graubereichen und haben einflussreiche FreundInnen und TopanwältInnen auf ihrer Seite. Es mag zwar nicht ganz legal sein, mit Insiderwissen an einem Tag 100.000 Euro zu verdienen (wie der ÖMV-General mit ÖMV-Aktien im Frühjahr 2009) – aber eines Schulterklopfers von seinesgleichen kann er sich sicher sein. Nur wenn es gar nicht mehr anders geht, muss einer von ihnen über die Klinge springen und wird der Meute zum Fraß vorgeworfen: In Österreich hat Helmut Elsner den schwarzen Peter gezogen.
Lerchenfeld
Auch im Kremser Stadtviertel Lerchenfeld, fernab von der barocken Kulisse des netten Städtchens und seiner Jugendberatungstelle, deren SozialarbeiterInnen mit offenen Ohr auf die Sorgen der Jugend warten, eingezwängt zwischen Gewerbeparks, Industriebetrieben, dem Hafen, den grauen Wohnblocks und den geschmacklosen Einfamilienhäusern, die verzweifelt versuchen ein kleinbürgerliches Leben vorzugaukeln, auch dort leben Menschen, die sich vorgenommen haben, es zu was zu bringen.
Florian war ein auffälliger Schüler, sagen seine Lehrer. Nicht auffällig im Sinne von gewitzt oder intelligent, nicht so frech aber auch wie der Sohn des Herrn Doktors, nein, auffällig eben. Eine Lehrstelle hat er gesucht für den Herbst. Amtsbekannt war er auch, der Florian. Und er ist eingebrochen, mit einem Freund. Laut Polizei hätten sie in der Fleischabteilung gewartet, um die eintreffenden BeamtInnen und den Manager des Merkurmarktes mit Hieb- und Stichwaffen (Schraubenschlüssel und Gartenharke) zu attackieren. Und da ist’s passiert: Drei Schüsse, einer davon ins Herz des 14-Jährigen und einer durch beide Oberschenkel des Freundes.
Der Merkurmarkt blieb am kommenden Morgen für einige Stunden zu – „Wegen Einbruchs geschlossen“. Die beiden PolizistInnen sind geschockt – sie können von ihren KollegInnen erst drei Tage nach dem viel zu frühen Tod Florians einvernommen werden. Der Freund wird nicht so sehr geschont, sondern in Untersuchungshaft genommen – wegen Tatwiederbegehungsgefahr. (Dies hat den Vorteil, dass er keine Möglichkeit hat, sich an die Presse zu wenden.) Florians Mutter wird zur Identifizierung ihres toten Kindes am Morgen ins Krankenhaus gerufen..
Dutzende Jugendliche trauern um ihren Freund, die Kameras knipsen, die SozialarbeiterInnen warten im Beratungszentrum, auf dass die Sorgen der Jugendlichen an sie herangetragen werden. Die Jugend von Lerchenfeld formiert sich zu einer Demonstration durchs Barockstädtchen.
Florian und sein Freund hatten einen ähnlichen Traum wie viele Menschen: Sie wollen mehr im Leben, sie wollen was erleben, sie wollen was Besonderes machen. Ihnen wird’s nicht gegeben, sie haben sich entschlossen zu nehmen. Die Moral des Finanzhais ist um nichts besser als die des Einbrechers – beide zielen darauf ab, sich auf Kosten anderer zu bereichern,. Während Letzterer als Krimineller verfolgt wird, gilt Ersterer als erfolgreich. Es sind die praktischen Verhältnisse, welche moralische Vorstellungen formen.
Einerlei ob bewusst oder unbewusst, in letzter Konsequenz sind es die ökonomischen Verhältnisse, die ein Verhalten unter einer bestimmten Klasse von Menschen gesellschaftlich akzeptiert machen oder nicht. Das Gesetz aber kennt nur Paragraphen – und politische Freundschaften wie wir heute auch aktenkundig bestätigt wissen. Auch hier formen praktische Zustände freundliche Staatsanwälte.
Das Gesetz für die Polizei?
Das Gesetz gilt auch für den Todesschützen. Sicher geht es den beiden PolizistInnen nicht gut. Sicher müssen sie sekundenschnell entscheiden. Wie eine Ärztin, oder ein Kranführer oder eine Busfahrerin. Eine Busfahrerin wird entlassen, wenn sie falsch abbiegt, ein Kranführer kommt in die Nachschulung, eine Ärztin kann ihren Fehler meist vertuschen. Die zwei Kremser PolizistInnen, ihnen wird ziemlich sicher nichts passieren. Das österreichische Waffengebrauchsgesetz sieht vier Voraussetzungen vor, die den lebensgefährdenden Einsatz der Schusswaffe legitimieren:
„1. bei gerechter Notwehr“,
„2. zur Unterdrückung eines Aufstandes oder Aufruhrs“,
„3. zur Erzwingung der Festnahme oder Verhinderung des Entkommens einer Person, die einer gerichtlich strafbaren Handlung, [die] nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, überwiesen oder dringend verdächtig ist, das für sich allein oder in Verbindung mit ihrem Verhalten bei der Festnahme oder Entweichung sie als einen für die Sicherheit des Staates, der Person oder des Eigentums allgemein gefährlichen Menschen kennzeichnet;“
„4. zur Erzwingung der Festnahme oder Verhinderung des Entkommens eines Geisteskranken, der für die Sicherheit der Person oder des Eigentums allgemein gefährlich ist.“
Die öffentliche Diskussion konzentriert sich allein auf die Notwehr, allerdings trifft es im Fall Florian P. eher der Punkt drei: Zwar gilt für ExekutivbeamtInnen der Abwägungsgrundsatz, welcher jedoch so schwammig formuliert ist, dass das Hinbiegen kein großes Problem darstellen sollte. Gesetze sind in Rechtsform gegossenen Normen des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelles, und Privateigentum ist die Basis kapitalistischer Produktion, und daher unantastbar. Schon Friedrich Engels stellte fest: „Der Staat ist eine besondere Formation bewaffneter Menschen zum Schutze des Privateigentums“.
Unsicherheit und Sündenbock
Und was hat dieser scheinbar zufällige Vorfall mit der Krise zu tun und warum setzen die Medien alles daran, ihn auszuschlachten? Ein Blick auf die Lage der ÖsterreicherInnen stellt den Zusammenhang schnell her: Für eine Bevölkerung, von der 53 Prozent unter vermehrtem Druck am Arbeitsplatz leiden, 56% unter psychosomatischen Problemen und 35% bereits Burnout-Syndrome verspüren (Untersuchung des Humaninstituts in Klagenfurt), kann Kriminalität ein Blitzableiter sein. Die Bekämpfung der Kriminalität wird in den Massenmedien zu einer gemeinsamen Volksanstrengung stilisiert, die Unsicherheit, die das Leben aufwirft, wird greifbar gemacht, das heißt, Ängste werden auf Einbruch und Drogenhandel abgelenkt und mit rassistischen Vorurteilen gemischt. Hierzulande brechen „Ostbanden“ und einige auffällige Jugendliche jede Nacht 20-30 Wohnungen und Geschäfte auf – aber jeden Tag verlieren 600 Menschen ihren Job.
Es ist Zeit, dass aus Angst Wut wird. Zeit, dass die Wut zielgerichtet in Demos und Streiks, den Kampfmitteln der ArbeiterInnenklasse, einen Ausdruck findet. Zeit, dass wir die Ursache unseres Unwohlseins richtig benennen: Kapitalismus – du stehst dem Menschen im Weg!
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Nr. 90 unserer Zeitung „Der Funke“.