Island steht durch die internationale Finanzkrise vor dem wirtschaftlichen Abgrund. Nach tagelangen Demonstrationen in der Hauptstadt Reykjavik ist nun die Koalitionsregierung bestehend aus der konservativen Unabhängigkeitspartei und der Samfylkingin (Sozialdemokratie) zurückgetreten. Von Niklas A. Svensson
Vergangenen Freitag trat Islands Ministerpräsident Geir H. Haarde zurück und kündigte für 9. Mai Neuwahlen an. Über das Wochenende kam es zu Rücktritten führender Vertreter der Sozialdemokratie aus Ministerämtern bzw. der Funktion des Notenbankchefs. Am Montag fiel die Koalition endgültig auseinander. Aus der Sicht des konservativen Regierungschefs seien die SozialdemokratInnen nicht mehr regierungsfähig. Er habe den Eindruck mit drei verschiedenen Parteien konfrontiert zu sein. Mit anderen Worten: die Sozialdemokratie steht zu sehr unter dem Druck der Protestbewegung und ist für die Bürgerlichen daher kein verlässlicher Partner mehr.
Massenproteste auf den Straßen von Reykjavik
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise, die das isländische Bankensystem im Oktober wie ein Hammerschlag getroffen hatte, organisierte die Bewegung “Stimme des Volkes” wöchentliche Protestaktionen vor dem Parlament. An der Spitze dieser Bewegung stehen vor allem Intellektuelle und KünstlerInnen.
Die Sozialdemokratie war als Teil der Regierung beschäftigt die Krise mitzuverwalten und rief zu einem “nationalen Schulterschluss” auf. Die Links-Grüne Partei ist zwar in der Opposition, hat sich jedoch längst in kleinbürgerlichem Reformismus verloren und wurde von dieser Protestwelle völlig überrascht. Die Gewerkschaften unterstützten zu Beginn mehr oder weniger die Linie der Sozialdemokratie. Wir haben es also mit einer klassischen Krise der Führung der traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung zu tun.
Trotzdem gingen den ganzen Herbst lang jeden Samstag 2-3,000 Menschen auf die Straße. Ende November schienen die Proteste erste Wirkung zu zeigen. Die Gewerkschaften forderten erstmals den Rücktritt einer Reihe von Regierungsmitgliedern. Die liberale Fortschrittspartei, die über eine Basis unter den Farmern verfügt, wählte einen neuen Vorsitzenden, der offen für ein Ende der Koalitionsregierung eintritt.
In der Bewegung selbst kam es zu einer tiefgreifenden Diskussion über die Ursachen der Krise und die eigenen Ziele. Der Ruf nach einer neuen Verfassung, in der die Bevölkerung mehr Mitspracherechte hat, wurde laut.
Eine Woche des Protests
Als der Althing am 19. Jänner wieder zusammentreten sollte, blockierten 2000 DemonstrantInnen das Parlamentsgebäude und verhinderten für eine Zeit lang die Sitzung. Die darauf folgenden Tage gingen die Demos weiter, es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen jungen DemonstrantInnen und der Polizei. Wie auch in Griechenland stellten Jugendliche den Gros der ProtestteilnehmerInnen, doch sie hatten ganz klar die Sympathie der ArbeiterInnenklasse im Rücken. Einige Belegschaften entsandten sogar Delegationen zu den Demos.
Viele hofften, der Rücktritt des Ministerpräsidenten würde der Bewegung die Spitze nehmen und den Zorn der Menschen besänftigen. Es herrschte in der Regierung wohl die Angst, dass es bei der für Samstag zu erwartenden Demo zu einer Eskalation kommen könnte. Der Effekt dieses Schritts war jedoch ein ganz anderer, wie folgendes Zitat aus dem Weblog einer Demoteilnehmerin zeigt:
“Die Energie war unglaublich – ganz anders als der stark vorhandene Zorn, die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die bisher vorgeherrscht hat. Es ist als hätte unser jüngster Erfolg (die Ankündigung des Ministerpräsidenten Neuwahlen auszurufen) eine ungeahnte Energie ausgelöst, die gestrige Demo war fast wie eine Feier. Es war fantastisch hier zu sein, im Zentrum des Wandels und in solch einer bewegenden Zeit in der Geschichte unserer Nation.” (Power to the People, Isländischer Wetterbericht, 25. Jänner 2009)
Der populärste Slogan auf den Demos lautete: „Vanhæf ríkisstjórn!“ (“Die Regierung ist unfähig”). Mit nationalromantischen Liedern wurde das Recht der Bevölkerung auf das Land beschworen. Immer wieder kam es zu spontanen Protestaktionen vor der Notenbank, wo der Rücktritt des Vorstands gefordert wurde. Die Regierung betonte in den letzten Monaten beständig, dass sie auf keinen Fall zurücktreten würde. Schlussendlich konnte sie diesen harten Standpunkt aber nicht mehr halten. Der Grund dafür ist vor allem in den Prozessen an der Basis der sozialdemokratischen Partei zu sehen.
Die Sozialdemokratie und die Massenorganisationen
Schon im Herbst zeichnete sich in Umfragen ein deutlicher politischer Umschwung ab. Die konservative Unabhängigkeitspartei verlor demzufolge ein Drittel ihrer WählerInnen. Die Links-Grüne Partei konnte sich verdoppeln. Die Sozialdemokratie blieb stabil bei rund 27 Prozent. Die Linke hätte bei Neuwahlen bereits im Herbst ca. 60% der Stimmen erhalten. Die Führung der Sozialdemokratie bevorzugte jedoch eine Fortsetzung der Großen Koalition und hoffte auf ein Abebben der Bewegung. Es kam jedoch anders. Die Proteste gingen weiter und wurden intensiver. Und das hatte über kurz oder lang einen Effekt an der Basis der Sozialdemokratie.
In den letzten Wochen hat auch die Sozialdemokratie massiv an Unterstützung verloren. Die Hälfte ihrer WählerInnen wolle laut Umfragen bei den kommenden Wahlen die Fortschrittspartei wählen, dessen neuer Vorsitzender offensiv das Ende der Regierung propagierte.
Angesichts der drohenden Wahlniederlage kam die Basis jedoch in Bewegung. Bei einer Stadtparteiversammlung in Reykjavik letzten Dienstag wurde gegen den Willen der Parteispitze eine Resolution verabschiedet, in der das Ende der Koalition und Neuwahlen gefordert wurden. Der Vizevorsitzende stellte sich an die Spitze der parteiinternen Opposition und somit offen gegen die Parteivorsitzende Ingibjörg Sólrún Gísladóttir. Bei der Versammlung forderte ein Funktionär den Rücktritt der sozialdemokratischen Abgeordneten und erntete dafür großen Applaus. Die Stadtpartei von Reykjavik ist eindeutig die größte und einflussreichste Basisorganisation der isländischen Sozialdemokratie. Der dort getroffenen Beschluss musste somit Folgen haben. Die Spaltung in der Parteispitze ist somit das direkte Ergebnis des Drucks von unten von der Basis der Partei. Die Parteilinke steht für die Bildung einer Regierung mit der Links-Grünen Partei.
Die Links-Grüne Partei ging unter dem Eindruck der Proteste ebenfalls weiter nach links. Ihre Abgeordneten nahmen ab Weihnachten offen an den Protesten teil. Ihre deutlichen Zuwächse in den Meinungsumfragen sind wohl damit zu erklären.
Wirtschaft im freien Fall
Laut Prognosen aus der Zeitschrift The Economist wird die isländische Wirtschaft in diesem Jahr um 10 Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosenrate dürfte sich verzehnfachen. Die Währung hat 40% ihres Werts verloren, was zu dramatischen Preisanstiegen bei Importwaren geführt hat. Der Lebensstandard der Menschen ist durch diese Entwicklung stark bedroht.
Die Verschuldung der privaten Haushalte und vor allem der jungen Menschen ist enorm. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass es sich meist um Fremdwährungskredite in Euro handelt und die meisten Kreditrückzahlungen an die Inflation geknüpft sind. Mit steigender Inflation steigt also auch die Zinsbelastung. Diese materiellen Verschlechterungen liegen dieser für Island bisher unvorstellbaren Protestwelle zugrunde.
Die Staatsverschuldung ist von 29% des BIP auf 109% des BIP angestiegen. Das bedeutet, dass die Bankenkrise dem Land 80% des gesamten Bruttonationalprodukts gekostet hat. Die Hälfte davon geht in die Rückzahlung der von den Banken akkumulierten Schulden. 25% des BIP gehen in die Rekapitalisierung der Banken. 10% muss für die Notenbank aufgewendet werden, deren Fremdwährungsreserven im Zuge der Krise zusammengeschrumpft sind wie Schnee in der Frühlingssonne. Vielleicht kann in Zukunft ein Teil des Geldes durch den Verkauf von Unternehmen im Eigentum der Banken wieder hereingebracht werden. Derzeit verlieren selbst diese Posten jedoch beständig an Wert.
Das Budgetdefizit wird schätzungsweise 10% des BIP des kommenden Jahres ausmachen. Ab 2010 muss die Regierung die jüngst gewährten IWF-Kredite zurückzahlen. Dies wird mit massiven Einschnitten im Sozialbereich oder Steuererhöhungen einhergehen. Mit anderen Worten: Die Bevölkerung wird für die Krise zahlen müssen! Laut IWF könnte dies „das teuerste Bankenrestruturierungsprogramm aller Zeiten im Vergleich zur Größe der betreffenden Ökonomie“ werden.
Die Regierung versucht diese Perspektive runter zu spielen. Doch die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache. Der Lebensstandard der isländischen Bevölkerung ist in den kommenden Jahren schwer bedroht.
Lasst die Banker für die Krise zahlen!
Diese hohe Verschuldung ist jedoch das Ergebnis der Spekulationsgeschäfte einer kleinen Clique an der Spitze des isländischen Staates. Die Verantwortlichen für die Krise versuchen sich jetzt abzusetzen und ziehen in ihre Luxusvillen im Ausland. Die Krise sollen aber jene zahlen, die sie auch verursacht haben, nicht aber die einfache Bevölkerung.
Die Sozialdemokratie und die Links-Grüne Partei müssen in dieser Situation ein sozialistisches Programm in Angriff nehmen. Der einzige Weg vorwärts ist auf der Grundlage einer sozialistischen Ordnung möglich. Ein Grundelement für eine neue Politik muss die Enteignung der Unternehmen sein, die sich bisher in den Händen der Finanzspekulanten befanden. Es kann nicht sein, dass nur die Verluste sozialisiert werden und die Profite in privater Hand verbleiben.
Kreditrückzahlungen müssen nach oben hin stark begrenzt werden. Keine Delogierung von Menschen, die ihre Kredite jetzt nicht zurückzahlen können. Auf der Grundlage dieser Forderungen würden die linken Parteien die kommenden Wahlen haushoch gewinnen und der Lebensstandard der Menschen könnte gesichert werden.
Perspektiven
Die Hoffnung der herrschenden Klasse ist, dass die jetzige Bewegung an Schwung verlieren wird und die neue Regierung dann wieder stabile Verhältnisse schaffen kann. Doch solche eine Entwicklung ist äußerst unwahrscheinlich. Die Versuche des Unternehmerverbandes die Löhne einzufrieren und Einschnitte im Sozialbereich beschließen zu lassen, sind ein fertiges Rezept für eine Intensivierung des Klassenkampfes auf Island. Der Protest gegen die alte Regierung in den vergangenen Monaten ist nicht vielmehr als ein Vorspiel für militantere Kämpfe in der kommenden Periode.
Island ist ein kleines Land an der Peripherie Europas. Doch die isländische Bevölkerung hat das Zeug dazu ganz Europa ein lehrstück zu geben. Was heute in Island passiert, kann bald schon in irgendeinem anderen europäischen Land passieren. Die isländische Regierung ist die erste Regierung, die aufgrund der Finanzkrise gestürzt wurde, sie wird aber nicht die letzte sein. Die Protestbewegung in Island könnte bespielgebend für die ArbeiterInnenbewegung in vielen anderen Ländern werden.
Schon jetzt haben wir gesehen, wie die linken Parteien und die Gewerkschaften unter dem Eindruck der Krise und der Protestbewegung nach links gegangen sind. Doch das ist erst der Anfang. Wenn die Menschen ihren Lebensstandard verteidigen wollen, dann müssen sie ihre traditionellen Organisationen in echte Kampforganisationen transformieren. Dies ist aber nur möglich, wenn sich auch in Island eine starke marxistische Strömung in diesen Organisationen herausbildet.
* Eure Krise zahlen wir nicht! Lasst die Banker zahlen!
* Nein zu Stellenabbau! Arbeit für alle!
* Nein zur Erhöhung bei den Kreditzahlungen!
* Für eine Linksregierung mit einem sozialistischen Programm!