Im Dezember erhielten wir eine kritische Rückmeldung zu unserer ablehnenden Haltung zur vorliegenden gesetzlichen Corona-Impfpflicht. Wir veröffentlichen sie hier gemeinsam mit unserer Antwort.
Wir sehen in den Entwicklungen seit dem Schriftverkehrt unsere Position bestätigt. Einerseits betrifft das die epidemiologische Wirksamkeit der Impfung, die bei Omikron relevant niedriger ist. Obwohl Impfungen also individuell vor schweren Verläufen schützen, sind sie nicht der „Zauberschlüssel“ zur Lösung der Pandemie, den sich viele erhofft hatten.
Andererseits ist das am 16. Jänner vorgestellte Gesetz de facto wirkungslos. Dies nicht zuletzt, weil die technische (ELGA) und administrative (unterbesetzte Verwaltungsorgane und Gerichte) Umsetzung der Pflicht gar nicht sichergestellt wird. Bis 15. März wird die Pflicht daher gar nicht kontrolliert. Danach soll die Polizei willkürliche Personenkontrollen durchführen – wogegen sich sozialdemokratische und freiheitliche Personalvertreter bereits öffentlich ausgesprochen haben. Die Phase drei – wo dann systematisch und automatisiert angezeigt werden soll – wird, wenn überhaupt, zu einem unbekannten Zeitpunkt per Verordnung in Kraft gesetzt werden. Die Regierung braucht derzeit breiten Konsens und „Stabilität“, um im Amt zu bleiben, die gesellschaftliche Spaltung wurde ihnen „zu heiß“. Die parlamentarische Durchsetzung des Impfpflichtgesetz hat daher nur politische Gründe, die „Impfpflicht“ ist eine gesichts- und stabilitätswahrende Maßnahme einer gescheiterten Regierung. Einen signifikaten positiven Einfluss auf das Pandemiegeschehen und die Erhöhung der Impfquote wird das Gesetz jedoch nicht haben.
Liebe Funke Redaktion,
leider muss ich euch mitteilen, dass ich mein Abo kündige. Der Funke ist „für die Impfung“, aber „gegen die Impfpflicht“. Da kann ich leider nicht mit. Es ist sehr unsolidarisch sich nicht impfen zu lassen. Leider verstehen das viele nicht. Das mag zwar die Schuld der Regierung sein, die für viele nicht vertrauenswürdig ist. Aber leider löst das nicht das Problem. Ich stimme euch zu, dass die Regierung viel versäumt (hat) bei der Pandemiebekämpfung. Trotzdem dürfen wir den uneinsichtigen ImpfgegnerInnen nicht ihre „Freiheit“ auf Kosten der anderen lassen. Und das tut der Funke indem er sagt, die Impfpflicht ist eine böse Klassenkampf Maßnahme von oben. In Deutschland wurde letztes Jahr eine Masern Impfpflicht eingeführt, nachdem immer mehr Bobo Eltern gemeint haben, sie brauchen ihre Kinder nicht impfen lassen. Das finde ich gut.
Trotzdem weiterhin viel Erfolg für eure Arbeit.
Mit solidarischen Grüßen
Sarah
Liebe Sarah,
Wir bedauern, dass du als langjährige Abonnentin dein Abo kündigst, begrüßen es aber, dass du beschreibst, was zu dieser Entscheidung geführt hat. Deine Begründung deutet aber an, dass du unsere Position teilweise falsch interpretiert hast, teilweise stimmen wir deinen Begründungen nicht zu. In diesem Sinne möchten wir unserer Position noch einmal zusammenfassen und klarstellen.
Wie du richtig geschrieben hast, sind wir für die Impfung. Wir haben in einer ganzen Reihe von Artikeln argumentiert, dass man sich impfen lassen sollte, um sich selbst zu schützen, aber auch sein Umfeld und sagen auch, dass man für die Impfung werben soll. Wir sind überzeugt, dass es ein bezeichnendes Symptom für die Verrottung und Irrationalität des kapitalistischen Systems ist, wenn die Herrschenden einen großen Teil der Bevölkerung nicht einmal mehr von einer sinnvollen, rationalen Maßnahme überzeugen können.
Warum sind wir dann gegen die Impfpflicht? Zuerst einmal wollen wir klarstellen: Wir sind konkret gegen die Impfpflicht, die die österreichische Bundesregierung für COVID-19 angekündigt hat, nicht abstrakt gegen jede Form von Impfpflicht zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen. Es geht uns um die Frage: Ist sie eine progressive oder eine reaktionäre Maßnahme im gesamtgesellschaftlichen Kontext?
In der Frage der COVID-19-Impfpflicht heißt das konkret: Kann die Maßnahme der Impfpflicht in Österreich 1. die Pandemie beenden und 2. Hilft sie dabei, die Herrschaft der Kapitalisten über die Arbeiterklasse zu beseitigen?
Die erste Frage können wir heute noch klarer als vor ein paar Wochen mit einem deutlichen „Nein“ beantworten. Die Explosion der Corona-Fälle in Dänemark mit einer Impfrate von 80% zeigt, dass die existenten Impfungen keine Wunderwaffe gegen das Virus sind. Insofern ist der Vergleich mit der Masernimpfung, die tatsächlich einen umfassenden Impfschutz herstellt, sachlich nicht gerechtfertigt. Während die Pharmakonzerne Milliardenprofite mit der Impfstofflieferung in Industrieländer gemacht haben, wurden die Länder der sogenannten „3. Welt“ mit völlig unzureichenden Impfstofflieferungen sich selbst überlassen.
Eine Patentfreigabe wurde von denselben Regierungen aktiv verhindert, die jetzt die „Solidarität“ der Ungeimpften erzwingen wollen.
Evolutionsbiologisch völlig vorhersehbar war so, dass ständig neue Virusvarianten wie die jetzige Omikronvariante entstehen würden, gegen die die Impfstoffe einen viel geringeren Schutz bieten, was zu massiven Impfdurchbrüchen führt. Das Virus schert sich nicht um diese oder jene nationale Maßnahme, erst recht nicht um die Impfpflicht in Österreich, die jedenfalls so konzipiert ist, dass die Impfentscheidung weiter lang verzögert werden kann.
Das Privateigentum an den großen Konzernen und die Aufsplitterung in die Nationalstaaten, also das was den Kapitalismus ausmacht, hat sich in den letzten beiden Jahren so immer wieder als entscheidend dafür erwiesen, dass die Pandemie nicht aufgehalten werden konnte.
So bleibt noch die zweite Frage offen: Hilft die Maßnahme dabei, die „Herrschaft des Menschen über den Menschen zu vernichten“? Eindeutig nicht – sie führt im Gegenteil dazu, dass die Arbeiterklasse gespaltet wird und der reaktionären Führung der Impfgegnerbewegung aus FPÖ und Verschwörungstheoretikern eine gewisse Massenbasis zugetrieben wird, die ihnen die permanente Organisierung von Demos mit zehntausenden TeilnehmerInnen erlaubt. Erinnern wir uns: Noch Anfang Oktober demonstrierten an den Wochenenden lediglich ein paar hundert Corona-Kritiker, während alleine knapp 7000 KindergartenpädagogInnen streikten und auf die Straßen gingen! Die Impfpflicht ist eine zynische Spaltungsmaßnahme, die die sich aufstauende Wut in der österreichischen Gesellschaft in eine für die Regierung und die Kapitalisten ungefährliche Richtung lenkt. Außerdem fließen über sie dem bürgerlichen Staatsapparat weitere Machtmittel zu, die in Zukunft sicherlich gegen progressive Bewegungen viel entschlossener eingesetzt werden, als heute gegen Coronaleugner. Schon jetzt gibt es in den Medien Diskussionen von RechtsexpertInnen darüber, wie dieses Gesetz Folgewirkungen nach sich ziehen kann, der viele Gesetzesmaterien und Rechtsprechungen (Mietrecht, Arbeitsrecht, Versicherungsrecht…) zuungunsten von Lohnabhängigen und Mietern drehen könnte.
Die Impfpflicht ist so eine Mischung: Einerseits entstanden aus irrationaler Verzweiflung der Herrschenden, die gegen jegliche wirkliche wissenschaftliche Evidenz hoffen, dass die Pandemie mit so einer national begrenzten Maßnahme, die die kapitalistische Profitmacherei der Pharmagiganten nicht antastet, aufgehalten werden kann, andererseits aus zynischer Berechnung, einen massiven Ausbruch des Klassenkampfes durch eine Maßnahme der Spaltung zu verhindern. Daher sind wir gegen das Gesetzesprojekt der Impfpflicht und appellieren an die Führungen der Arbeiterbewegung, endlich den Kampf gegen diese Regierung und ihr permanentes Versagen angesichts der herrschenden Krise aufzunehmen.
Ich hoffe, diese Darstellung hat einige offene oder unklare Fragen geklärt. Danke dafür, dass du uns auch weiterhin viel Erfolg für unsere Arbeit wünschst, wir werden weiter energisch für den Sturz des Kapitalismus kämpfen und hoffen, dich mit unserer Arbeit, vielleicht unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, in Zukunft wieder von einem Abo überzeugen zu können.
Solidarische Grüße,
Florian Keller, für die Funke-Redaktion
(Funke Nr. 200/20.1.2022)
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