In der ganzen Menschheitsgeschichte treffen wir auf Beschreibungen von umgehenden Seuchen, Krankheiten, die ganze Landstriche entvölkern und Städte leeren. Ebenso alt sind die Versuche, die Seuchen zu beherrschen. Von Vincent Angerer.
Schon im antiken Rom, zur Zeit der Antoninischen Pest von 165 bis etwa 190, wurde die Pockenepidemie mit einem „Biest“ verglichen, das Reich und Arm gleichermaßen dahinraffte. Die Seuche galt allgemein als einbrechende Naturgewalt. Oft wurden Ausbrüche auch als Zorn der Götter interpretiert. Allerdings sahen die Menschen nicht tatenlos zu, sondern sie beobachteten die Krankheit sowie ihre Verbreitung und machten die ersten Verallgemeinerungen. Auch wenn über Bakterien und Viren noch nichts bekannt war, bemerkten die Menschen, dass eine genesene Person einen Schutz gegen die Krankheit hatte. Die meisten trugen von einer überstandenen Pockeninfektion eine lebenslange Immunität davon. Daraus schloss man, dass sich irgendetwas in den Genesenen befinden muss, das sie schützt. Dieser Schutz musste sich irgendwie im Körper, womöglich in den Körperflüssigkeiten, befinden.
So begann man mit der Technik der „Variolation“ – ein Prozess bei dem gesunden Menschen der Eiter einer Pockenbeule von einem Kranken mit mildem Krankheitsverlauf unter die Haut eingeführt wird. Dies löst bei der „geimpften“ Person einen weitaus milderen Krankheitsverlauf aus. Bereits Jahrhunderte vor der ersten modernen Impfung in Europa war diese Technik unter anderem in Indien und China bekannt, wie Darstellungen von Variolationen aus dem 15. Jahrhundert zeigen.
Produktivkräfte und die Revolution der Impfung
Die Geschichte kennt zahlreiche solche Versuche, im Rahmen derer Körperflüssigkeiten von Gesundeten oder Kranken als eine Art Impfstoff eingesetzt wurden. Doch in allen vorkapitalistischen Produktionsweisen konnten solche Versuche nur ein geringes wissenschaftliches Niveau erreichen – die Entwicklung der Produktivkräfte (Wissenschaft und Technik) war unzureichend. Erst der Kapitalismus konnte die materielle Grundlage für einen bahnbrechenden Fortschritt setzen. Im Jahr 1796 entwickelte der britische Arzt Edward Jenner, beflügelt von der industriellen Revolution, einen Pockenimpfstoff. Er realisierte, dass die bewusste Infektion von Menschen durch den ungefährlichen Kuhpockenvirus auch eine sogenannte Kreuzimmunität gegen den tödlichen Pockenvirus hervorruft. Er prägte auch den modernen Begriff des Vakzins, da er den Virus von Kühen (lat. vacca) übernommen hatte. Der Impfstoff löste eine Welle von Begeisterung und gleichzeitigem Entsetzen aus. Die Impfstoffe erwiesen sich als äußerst effektiv im Kampf gegen den gefährlichen Erreger – ein massiver Befreiungsschlag gegen Leid und Krankenbett.
Dieser immense Fortschritt wäre ohne die Entwicklung der materiellen Grundlagen für die Wissenschaft unmöglich gewesen. Die neuen Produktionsbedingungen des Kapitalismus schufen hierfür überhaupt erst die Basis und ständig neue Ausgangsbedingungen der tieferen Durchdringung und Überwindung der vorgefundenen Natur durch Technik und Wissenschaft.
Die Wissenschaften stellten sich in den Dienst der modernen Industrie. So auch die Chemie. Laboratorien, die bisher nur Refugien belesener Professoren und Gelehrter waren, wurden plötzlich zum notwendigen Teil zahlreicher neu entstehender Industrien. Neue Chemikalien und Stoffe, die die Produktivität der Arbeitskraft steigern konnten, waren heiß begehrt. Jede neue Revolution der Produktivität schaffte die Bedingungen für eine neue Revolution in der Wissenschaft und umgekehrt. In diesem Kontext wurde die Arbeitsstätte der modernen Chemikerin und des Biologen geschaffen.
Die Kehrseite der Medaille
Doch ebenso wie der Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelte und die moderne Impfforschung und Impfstoffproduktion schuf, erlegte er ihnen die eiserne Beschränkung des Profits auf. Aus dem mittelalterlichen alchemistischen Medicus wurde der neuzeitliche Apotheker und aus dem neuzeitlichen Apotheker wurde der Pharmakonzern.
Die Entwicklung der Merck Gruppe, deren Geschichte als Apotheke im späten 17. Jahrhundert beginnt, zeigt diese Dynamik besonders gut auf. Von einer kleinen Apotheke entwickelte sie sich zu einem mittelgroßen Unternehmen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits einen globalen Markt mit Kokain belieferte. Das Unternehmen verdiente an dem Verkauf verschiedener selbst produzierter Medikamente und Stoffe ein Vermögen und konnte in den 1890ern in die USA expandieren. Heute ist die Merck Gruppe ein millionenschweres multinationales Unternehmen. Doch diese Entwicklung hat eine neue Dynamik geschaffen. Die medizinischen Stoffe werden nicht auf Basis der reellen gesellschaftlichen Notwendigkeit entwickelt, produziert und verteilt, sondern auf Basis der Profiterwartung. Impfstoffe, Medikamente und sonstige Artikel werden auf einem Markt als Waren produziert – die für das Unternehmen einen entsprechenden Gewinn abwerfen müssen.
Die chemische Fabrik Merck (heute Merck KGaA) um das Jahr 1886.
Auch jene Pharmakonzerne, die heute Corona-Impfstoffe anbieten, haben jeweils Milliarden an öffentlichen Geldern vom Staat kassiert. Private, profitorientierte Konzerne wurden mit öffentlichen Geldern eingedeckt, um Wirkstoffe entwickeln und testen zu lassen, was sie dann zu Profit machen. An diesem Prinzip wird so eisern festgehalten, dass die Verträge zwischen den Staaten und den Konzernen streng geheim sind, und sich die Regierungen weltweit völlig abhängig von diesen Konzernen sind.
Pandemien sind kein Geschäft
Tatsächlich gibt es rund um Impfstoffe ein fundamentales Problem für die Pharmakonzerne – sie sind nicht sehr profitabel! Ein Pandemieimpfstoff bringt schlichtweg zu wenig Geld, da es für das entwickelte, getestete und produzierte Medikament nach der Eindämmung der Pandemie zu wenig Nachfrage geben wird. Zudem ist gerade in armen Ländern der Bedarf an dieser Prävention groß, und gerade hier sind keine hohen Preise zu erzielen. Die Forschung und die Errichtung von Produktionsanlagen rentieren sich für profitorientierte Investoren im Normalfall nicht.
Dies sieht man nur zu gut an der aktuellen Lage. Für die aktuelle Pandemie wäre früher ein Impfstoff verfügbar gewesen, wenn man 2004 nicht die Entwicklung eines Sars-CoV-1 Impfstoffes gestoppt hätte. Diese Forschung wurde damals eingestellt, weil die SARS-Epidemie im Sommer 2003 eingedämmt werden konnte. Entgegen den wissenschaftlich fundierten Thesen, dass neue Coronaviren auf Menschen überspringen würden, wurden diesen Forschungsprojekten die Gelder entzogen.
Für fast alle der großen Pandemien der letzten Jahre gibt es noch heute keinen Impfstoff. Lediglich gegen Ebola existiert ein Impfstoff, wobei davon ausgegangen werden kann, dass die Entwicklung bei entsprechender Finanzierung erheblich beschleunigt hätte werden können. Das ist die Kehrseite der Entwicklung der Wissenschaften im Kapitalismus – sie steht immer unter den Knüppeln der Profitaneignung.
Die neue Corona-Impfung
Angesichts skrupelloser und undurchsichtiger Machenschaften des Kapitals und der Regierungen, die Menschen als Impfobjekte behandeln. sorgen sich viele Menschen bezüglich der Impfungen. Kann man diesen Konzernen überhaupt trauen? Daraus folgt wiederum die Frage: Kann man dem Impfstoff trauen?
Der Impfstoff der Firma Pfizer/Biontech verwendet einen erst in den letzten Jahren in der Krebsforschung entwickelten Ansatz, der für besonders viele Kontroversen sorgt – er verwendet Messenger-RNA (mRNA) die an die Zellen sozusagen einen Steckbrief der Bauteile des neuartigen Coronavirus übermittelt und so eine schützende Immunreaktion auslöst.
Bild: pixabay.
Um dies zu verstehen, ist ein kurzer Überblick über den normalen Prozess des Lebens hilfreich. Jeder Mensch, der einen Blick auf Kindheitsfotos geworfen hat weiß, dass er dieselbe Person ist, die auf dem Foto abgebildet ist. Doch gleichzeitig ist er es nicht – je nach Alter hat sich der Mensch verändert, ist gewachsen, hat sich im Aussehen verändert und ist auch in seinem Denken eine scheinbar völlig andere Person. Einerseits gibt es den Menschen von damals noch, andererseits gibt es ihn nicht mehr. Tatsächlich sterben jede Sekunde Teile unseres Körpers ab, doch ebenso wie alte Teile absterben, bilden wir die ganze Zeit neue Teile. Dieser Prozess ist der Prozess unseres Wachsens und Alterns, kurz unserer Entwicklung.
Engels beschrieb ihn bereits treffend:
„jedes organische Wesen ist in jedem Augenblick dasselbe und nicht dasselbe; in jedem Augenblick verarbeitet es von außen zugeführte Stoffe und scheidet andre aus, in jedem Augenblick sterben Zellen seines Körpers ab und bilden neue.“
Durch die Errungenschaften der Wissenschaft können wir diese Erkenntnis von Engels heute noch besser nachvollziehen. Die Wissenschaft ist seither viel tiefer in die Dynamik des Lebens eingedrungen und kann beschreiben, wie in jedem Augenblick die wichtigsten Funktionsträger unseres Körpers (Proteine) in unseren Zellen gebildet werden.
Die Zellen sind die kleinsten Einheiten aus denen wir zusammengesetzt sind, und doch beinhalten die meisten von ihnen den gesamten Bauplan unseres Körpers (ausgenommen sind spezialisierte Zellen wie etwa rote Blutkörperchen). Das alleine ist bereits ein faszinierendes Faktum. Der Bauplan, der sich in unseren Zellen befindet ist in der sogenannten DNA gespeichert, diese liegt zum größten Teil gut geschützt von einer Membran im Kern der Zelle. Um auf Basis dieses Bauplanes tatsächliche Körperteile zu produzieren, muss die Information im Zellkern zuerst umgeschrieben und dann weiter zu den sogenannten Ribosomen übermittelt werden, damit dort aus dieser Information Proteine gebaut werden können. Die hierfür umgeschriebene, übersetzte DNA wird Messenger RNA (mRNA) genannt, und enthält somit den Bauplan für die Herstellung von Proteinen. Gewissermaßen ähnelt dieser Prozess einem industriellen Fließband. Der originale Bauplan bleibt im Planungscenter der Fabrik, während eine Kopie zu den Arbeitern geschickt wird, die dann jedes Teil dem Bauplan entsprechend zusammenfügen. In unserem Körper übernehmen die Ribosomen diese Aufgabe. Der Unterschied ist, dass an den Ribosomen nicht Plastik oder Metall verarbeitet werden, sondern Aminosäuren, die Bausteine von Proteinen.
Die neuen mRNA Impfstoffe setzen nun bei genau diesem Prozess an. Über die Impfung wird dem Körper ein künstlicher Bauplan zugeführt, der an den Ribosomen verarbeitet wird. Hier entstehen dann die gewünschten Proteine – im Fall des neuen Coronaimpfstoffes entstehen Teile die dem Coronavirus entsprechen. Das Immunsystem soll gegen sie Antikörper entwickeln um somit Schutz vor der Erkrankung durch das Virus gewährleisten.
Darin liegt generell die revolutionäre Rolle der Impfungen. Nicht in der „Impffreiheit“ also der Freiheit von Impfungen, sondern in der Freiheit durch Impfungen. Der Mensch ist nicht frei: Er muss essen, trinken, atmen. Diese Bedürfnisse sucht er sich nicht aus, sondern findet sie als gegeben vor. Indem er aber vorsorgt, sich das Essen im Voraus organisiert und durch Planung und Voraussicht sein Leben gestaltet, kann er frei werden.
Wie Engels sagte:
„Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“
Genauso ist es auch mit Impfstoffen. Freiheit bedeutet, die Notwendigkeiten und die objektiven Gegebenheiten der Welt immer besser zu verstehen. Sie bedeutet, sich nicht von Bakterien oder Viren oder auch Krebs ans Krankenbett fesseln zu lassen, sondern die materielle Welt immer besser zu verstehen und sie somit immer besser zu beherrschen.
Kontrolle und Eigentum
Die kulturelle Entwicklung der Menschheit erfordert die demokratische Kontrolle der Arbeiterklasse über die Gesellschaft. Doch die Entwicklung, Produktion, Verteilung und Anwendung der Covid-Impfstoffe erfolgen nach den Gesetzen des Marktes, wo sich der Starke gegen den Schwachen durchsetzt. Statt Kooperation sehen wir hemmende Konkurrenz, statt Aufklärung und Beratung militärische Impfkampagnen, Geheimverträge und Druck. Dies ist kein Zeugnis über die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfung, sondern ein vernichtendes Urteil über den Kapitalismus und die herrschende Klasse.
(Funke Nr. 190/20.1.2021)