Gerade in Zeiten der Krise beschwört die herrschende Klasse die „nationale Einheit“. Einer, der sich dem Nationalismus stets entschieden entgegengestellt hat, war Josef Strasser, der Kopf der sozialdemokratischen „Reichenberger Linke“, der heuer seinen 150. Geburtstag feiern würde. Sein Beitrag zur Frage des proletarischen Internationalismus hat nichts an Aktualität eingebüßt. Von Julia Brandstätter.
Marx und Engels haben einst geschrieben, dass die ArbeiterInnen gar kein Vaterland haben. Wie kommt es dann, dass in der Arbeiterklasse nationalistische Ideen solchen Anklang finden können?
Für die Bürgerlichen, die bei jeder Gelegenheit die nationale Einheit betonen, ist die Antwort einfach: Wir alle sind Teil einer großen Interessensgemeinschaft, der Nation. Die Unternehmer und die Arbeiterschaft sind vergleichbar den einzelnen Gliedern und Organen im Körper, die jeweils ihre Funktion erfüllen müssen, damit das Ganze gedeihen kann.
Hinter der Forderung nach nationalem Zusammenhalt in Krisenzeiten verbirgt sich nur der Wunsch der herrschenden Klasse, ihre Interessen nach wie vor durchsetzen zu können und in der Arbeiterklasse „die Sklavenlaster, die Anspruchslosigkeit, die Unterwürfigkeit zu erhalten, das heißt den wirtschaftlichen und politischen Status quo, das kapitalistische Eigentum und den bürgerlichen Staat, zu konservieren“, schreibt Strasser im Jahr 1912 in „Der Arbeiter und die Nation“.
Das hat die frühe Arbeiterbewegung verstanden und organisierte sich deshalb auch als Internationale! Die Arbeiterbewegung entstand als internationalistische Kraft. Die Idee, dass die „Proletarier aller Länder“ sich zu einer Internationalen vereinen und über alle Grenzen hinweg den Kapitalismus stürzen, war eine der großen Ideen, aus der die ersten SozialistInnen die Kraft und den Optimismus schöpften, die es brauchte, um sich unter schwierigsten Bedingungen ganz dem Aufbau einer revolutionären Arbeiterbewegung zu verschreiben. Als sich der Reformismus in der Sozialdemokratie durchzusetzen begann, kamen jedoch auch nationalistische Ideologien immer stärker zum Vorschein. In der Habsburgermonarchie war die reformistische Herangehensweise des Austromarxismus (Otto Bauer, Karl Renner) an die nationale Frage, mit der den slawischen Nationen das Recht auf nationale Selbstbestimmung de facto abgesprochen wurde, neben dem offenen Deutschnationalismus der Parteirechten, ein wesentliches Element, das den immer stärkeren Einfluss nationalistischer Ideen auch in der ursprünglich internationalistischen tschechischen Arbeiterbewegung begünstigte.
Strasser war ein strikter Gegner des Nationalismus, der auch in den eigenen Reihen salonfähig wurde. In seiner Arbeit entzaubert er die Mythen der nationalistischen Ideologie, etwa die Existenz eines „Nationalcharakters“ oder eines „Nationalgefühls“, indem er schlüssig aufzeigt, dass in jeder Nation unterschiedliche Klasseninteressen zueinander in Widerspruch stehen. So steht der Idee von der „Größe und Macht der Nation“ das fehlende Interesse der ArbeiterInnen an einem brutalen, auf Expansion ausgerichteten Nationalismus entgegen. Denn dieser geht einher mit Aufrüstung und außenpolitischer, oft sogar militärischer Aggression auf Kosten der Arbeiterklasse und widerspricht jedem sozialistischen Prinzip. Die „Größe der Nation“ lässt sich auch nicht an der „nationalen Kultur“ messen. Eine „nationale Kultur“, die alle Deutschen oder alle ÖsterreicherInnen miteinander teilen würden, ist eine Illusion. Dafür sorgt allein schon die profitgetriebene Kulturindustrie, die global für eine immer größere Anpassung kultureller Standards sorgt. Außerdem existieren selbst in Kulturfragen Klassengegensätze. Denken wir nur an die Konflikte um den Charakter des Bildungssystems. Während die ArbeiterInnen Interesse an einem freien Zugang zu Schule und Universität haben, geht es den Bürgerlichen in erster Linie um die Reproduktion der Eliten und die Ausrichtung des Bildungssystems nach den Bedürfnissen der Wirtschaft.
Die Sprache ist das wahrscheinlich wichtigste Werkzeug zur Entwicklung aller anderen Gebiete der Kultur. In der Monarchie tobte ein heftiger Streit über die Vormachtstellung der einen oder anderen Sprache bzw. das Recht von Minderheiten und Zuwanderern, ihre Muttersprache zu lernen und zu sprechen. Und auch heute bringen nicht nur hartgesottene Nationalisten, sondern auch gewöhnliche ArbeiterInnen immer wieder ins Spiel, dass sie sich in der Arbeit nicht mehr auf Deutsch verständigen können, oder dass ihre Kinder in der Schule nicht mehr gut Deutsch lernen würden. Josef Strasser zeigte zwar Verständnis für diese Sorgen von ArbeiterInnen, machte sich jedoch über die deutschtümelnden Sprachverteidiger lustig, die selbst keinen geraden deutschen Satz formulieren konnten. Viel wichtiger war ihm aber, das Recht der zugewanderten ArbeiterInnen auf ihre Muttersprache (z.B. in Form von muttersprachlichem Unterricht für deren Kinder) zu verteidigen. Darin sehen auch wir die Möglichkeit für Arbeiterkinder ausländischer Herkunft, die nötige Bildung zu erwerben, um später einmal nicht in die Rolle von LohndrückerInnen gedrängt zu werden.
Strasser stellte sich deshalb auch gegen jede Form der vom Staat erzwungenen „Assimilation“, weil dadurch nationale Minderheiten erst recht ins nationalistische Eck getrieben würden. Indem die Arbeiterbewegung für gleiche Rechte eintritt, kann sie erst das Vertrauen der meisten ArbeitsmigrantInnen gewinnen, die meist noch an ihrer Muttersprache und der Kultur ihres Heimatlandes hängen.
Das Lohndrückertum ist damals wie heute das stärkste Argument der nationalistischen Demagogie und spaltet damit inländische und ausländische ArbeiterInnen. Den einheimischen ArbeiterInnen wird vorgegaukelt, eine Politik der geschlossenen Grenzen würde ihre Lohn- und Arbeitsbedingungen verbessern. Die damalige Sozialdemokratie lehnte ursprünglich eine Politik der Einschränkung des „freien Personenverkehrs“ ab. Strasser schreibt:
„Nein. Das Proletariat muß Freizügigkeit fordern. Nicht aus irgendeiner nebelhaften Freiheitsvorstellung heraus. Die Freizügigkeit ist ja eine sehr fadenscheinige Freiheit. Nur scheinbar gibt sie dem Arbeiter die Möglichkeit, seinen Aufenthaltsort nach seinem Belieben zu wählen. In Wirklichkeit bedeutet sie, daß die Bewegung des Proletariers nur durch das Verwertungsbedürfnis des Kapitals bestimmt werden darf und daß er sich diesem unterordnen muß, wenn er nicht verhungern oder verkommen will.“
Strasser betont auch, dass im Kapitalismus ein Zuwanderungsstopp von Arbeitskräften ein Unding ist und von den Gewerkschaften mit der Organisierung der ArbeitsmigrantInnen beantwortet werden muss. Die Antwort auf Arbeitskräftemangel wären letztlich Kapitalflucht oder die Einstellung der Produktion, wenn diese nicht mehr profitabel ist. An diesem Punkt endet nämlich stets die nationale Rhetorik der Kapitalisten und ihrer PolitikerInnen, die im Zweifelsfall das Profitinteresse über alles andere stellen.
Für Strasser hat jeder Mensch unterschiedliche Interessen, die teilweise in Widerspruch zueinanderstehen. Auch ArbeiterInnen haben nicht von vornherein ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, meist stehen sie unter dem Einfluss bürgerlicher, reaktionärer Weltanschauungen. Doch gerade in Krisenzeiten, wenn die kapitalistische Wirklichkeit oft schmerzhaft die eigene Existenz gefährdet, erweisen sich die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen meist als die stärkeren. Strasser argumentiert, dass die Zurückdrängung des Einflusses der Nationalen damit beginnt, dass die Arbeiterbewegung den Widerspruch zwischen ihren Reden und ihren Taten aufzeigt. Im Gegensatz zu den Reformisten lehnte Strasser jedes Konkurrenzieren mit den Rechten, wer der bessere Patriot sei, entschieden ab. Die Aufgabe von SozialistInnen besteht vielmehr darin, die ArbeiterInnen zu sozialistischem Klassenbewusstsein und zu proletarischem Internationalismus zu erziehen. Denn nur so kann die Spaltung der Arbeiterklasse überwunden werden, was eine Grundvoraussetzung im Kampf zur Überwindung des Kapitalismus ist.
Josef Strasser – Kompromissloser Kämpfer
Josef Strasser (1870-1935) war ein Arbeiterkind, seine Eltern schickten ihn aber auf das Gymnasium. Als Gymnasiast gründete er mit Freunden den „Verein zur Ermordung sämtlicher Potentaten Europas“, nahm Kontakt mit Victor Adler auf und wurde Sozialdemokrat. Er avancierte schnell zum Kopf der nordböhmischen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, die aufgrund ihrer internationalistischen und revolutionären Ausrichtung als „Reichenberger Linke“ bekannt wurde. Auch seine Frau Isa, Kindergärtnerin und Reformpädagogin, engagierte sich in der sozialdemokratischen Jugend- und Frauenbewegung.
In Reichenberg, wo deutsche und tschechische ArbeiterInnen lebten, begann sich Strasser intensiv mit der nationalen Frage auseinanderzusetzen. Angesichts des grassierenden Nationalismus verfasste Josef Strasser das „Manifest der österreichischen Radikalen“ (1912), das später unter dem Titel „Der Arbeiter und die Nation“ veröffentlicht wurde und eine breite Diskussion innerhalb der Zweiten Internationale auslöste. Rosa Luxemburg und Lenin nahmen die Kampfschrift wohlwollend zur Kenntnis.
Ein Jahr nach Erscheinen des Manifests zog das Ehepaar Strasser zurück nach Wien, wo Josef „die Rolle des politischen Führers mit der des journalistischen Außenseiters“ bei der Arbeiter-Zeitung vertauschte. Die Strassers blieben der antimilitaristischen und internationalistischen Linie auch nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs treu. Als scharfe Gegner der Burgfriedenspolitik und Anhänger der „Zimmerwalder Linken“ wurden sie Vorstandsmitglieder des 1916 reaktivierten Vereins Karl Marx. 1917 kam ihr Sohn Peter zur Welt, der in der Illegalität unter dem Austrofaschisten eine wichtige Rolle im Widerstand spielen und dabei mit Trotzkis Anhängern eng kooperierte und nach 1945 erster Verbandsvorsitzender der Sozialistischen Jugend werden sollte.
Nach anfänglichem Zögern traten die Strassers aus Protest gegen die reformistische Politik des Austromarxismus in die Kommunistische Partei ein, wo Josef die Redaktion der Wochenzeitung „Die soziale Revolution“ und später der „Roten Fahne“ übernahm. Immer wieder geriet er in Konflikt mit Moskau – er betonte wiederholt die Notwendigkeit einer demokratisch organisierten Partei („Nur durch Demokratie in der Partei werden die Arbeiter reif zur Diktatur über die Bourgeoisie“) – bis er sich 1929 aus Protest gegen den Stalinismus aus der Redaktionsarbeit zurückzog. In der Folge waren er und seine Frau auch in Kontakt mit Leo Trotzki, die beiden sympathisierten mit der Linken Opposition.
Ein Jahr vor der Niederschlagung der Sozialdemokratie und der Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates im Jahr 1934 schrieb er noch einen hellsichtigen Artikel über „Das Ende des Austromarxismus“, in dem er zu dem Schluss kommt: „Der Austromarxismus erweist sich, wenn man ihm auf die Fäuste, nicht auf das Maul sieht, als Reformismus. […] Die Marxsche Auffassung, daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein muß, wurde als altmodisch belächelt. Die austromarxistische Lehre kennt kein handelndes, kein kämpfendes Proletariat. Nach ihr macht der Arbeiter seine Geschichte nicht, er erfährt, er erleidet sie, wobei nach und nach, schier unmerklich, die leidende Arbeiterklasse automatisch, nach den immanenten Gesetzen des Kapitalismus, zur triumphierenden wird, der Kapitalismus sich mehr und mehr mit sozialistischem Inhalt erfüllt. Das war die Geheimlehre des Austromarxismus.“