Vor genau 100 Jahren, im Jänner 1918, wurde Österreich von einem gewaltigen Massenstreik erschüttert. Hunger und Kriegsmüdigkeit hatten das Fass zum Überlaufen gebracht und die Revolution in Russland gab der Arbeiterschaft die Hoffnung, dass eine menschliche Welt möglich ist. Von Gernot Trausmuth.
Es war bereits der vierte Kriegswinter. Wer hätte gedacht, dass es so lange dauern würde, als im Sommer 1914 die ersten Soldaten vom Südbahnhof aufbrachen und gegen Serbien zogen? Wie groß war damals die Begeisterung auf den Straßen Wiens. Der „kleine Mann“ spürte plötzlich diese Größe, die ihm nur die Nation zu geben schien. Die Blumenverkäuferin jubelte den vorbeiziehenden Truppen in ihren schmucken Uniformen zu. Auf den Straßen wurde ein Junge von seinen Mitschülern verprügelt, weil er „Hoch Serbien!“ rief. Nicht einmal die Sozialdemokraten konnten sich dieser nationalen Begeisterung widersetzen.
Sozialdemokratie und Krieg
In der „Arbeiter-Zeitung“ schrieb der Chefredakteur Austerlitz am Tag der Kriegserklärung schwarz auf weiß vom „Tag der deutschen Nation“, und dass sich die Sozialdemokratie nun schützend vor die Heimat und das „deutsche Volk“ stellen müsse. Nicht alle in der Partei waren über diese nationalistischen Töne erfreut, doch Widerstand gegen den militaristischen Moloch, der schon über Jahre aufgerüstet worden war und der nun alles mit sich riss, schien zwecklos. Außerdem ging es in diesem Krieg doch auch gegen den Zarismus, der wie kein anderes Regime einer demokratischen und sozialen Zukunft entgegenstand.
In der Parteivorstandssitzung hatte sich ein Gefühl der Ohnmacht breit gemacht. Es war, als würde eine Naturkatastrophe über alle hereinbrechen, die niemand aufzuhalten vermag. In dieser Stunde war nur noch eines zu leisten: Die Parteistrukturen, die Gewerkschaften und die vielen Vorfeldorganisationen der Sozialdemokratie, die sich in den Jahren vor dem Krieg so prächtig entwickelt hatten, mussten mit allen Mitteln weiterbestehen. Die Arbeit von 25 Jahren durfte nun nicht aufs Spiel gesetzt werden, schon gar nicht durch „leichtsinnige Abenteuer“.
„Soldaten des Hinterlandes“
Zu Weihnachten 1914 war der Krieg entgegen erster Erwartungen noch nicht zu Ende, an den Fronten tobte ein blutiger Kampf um jede Stellung. Die k.u.k.-Monarchie stellte die gesamte Ökonomie auf Kriegswirtschaft um. Alle vorhandenen Ressourcen wurden dem Militarismus untergeordnet. In den Industriegebieten (Wien, südliches Niederösterreich, Steyr, Obersteiermark) expandierten riesige Rüstungsbetriebe, in denen eine neue Arbeiterschaft entstand. Von den alten Belegschaften, die oft schon seit Jahren gewerkschaftlich organisiert waren, wurde ein Jahrgang nach dem anderen zum Kriegsdienst eingezogen. Die Reihen wurden mit Frauen und Jugendlichen aufgefüllt. Viele von ihnen kamen vom Land, waren Fabrikarbeiterinnen der ersten Generation. Zu den Traditionen der Gewerkschaft und der Partei hatten sie, die „Soldaten des Hinterlandes“, wie sie von der Regierung genannt wurden, keinen Bezug. Sie fügten sich der strengen Disziplin, die in den Fabriken herrschte und die von Armeeoffizieren gemäß dem Kriegsrecht durchgesetzt wurde. Als Munitionsarbeiterinnen verdienten sie mehr als in anderen Bereichen der Wirtschaft, eine solche Stelle wollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Die alten gewerkschaftlichen Vertrauensmänner waren angesichts dieser Entwicklung in den Belegschaften frustriert. Jegliche Organisierungsversuche schienen zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig lösten sich viele alte Organisationen in den ersten Kriegsmonaten auf, weil die Last des Alltags zu groß war und daher viele ArbeiterInnen inaktiv wurden.
Schon im ersten Kriegswinter litt die Arbeiterschaft in Wien unter der schlechten Lebensmittelversorgung. Der Hunger sollte in den kommenden Jahren zu einem ständigen Begleiter werden.
Burgfrieden und Reformismus
Die Sozialdemokratie versucht im Rahmen der wenigen, von der Regierung gewährten Mitbestimmungsmöglichkeiten kleine Verbesserungen zu ermöglichen, z.B. eine Erhöhung der Unterstützungsbeiträge für Familien, bei denen der Mann an der Front ist. Die Gemeinden reagieren auf das wachsende Elend mit der Einrichtung von Fürsorgestellen. Mitglieder der Sozialdemokratie übernehmen dort sehr viel Verantwortung, um Arbeiterfamilien das Leben ein wenig zu erleichtern und um über diesen Weg Frauen für die Bewegung zu gewinnen. Spätestens ab Mitte 1915 beginnt die Sozialdemokratie wieder mit dem systematischen Aufbau ihrer Strukturen. In dieser Zeit kommt es auch zu ersten spontanen Hungerdemonstrationen. Frauen ziehen zum Bürgermeister und fordern Brot. Zu Sprecherinnen werden meist bekannte Sozialdemokratinnen aus dem Ort bestimmt. Die Partei selbst verfolgt konsequent eine Burgfriedenspolitik. Das Notstandsregime der Habsburger lässt der Sozialdemokratie wenig Spielraum, das Parlament war schon vor dem Krieg aufgelöst worden, die demokratischen Grundrechte außer Kraft gesetzt. Die Parteiführung will das Regime nicht unnötig provozieren. So wird der 1. Mai 1915 erstmals seit Jahren nicht mehr mit der Arbeitsruhe und einer großen Demonstration begangen, auch der Frauentag wird nicht mehr abgehalten.
Linke für den Frieden
Nur wenige in den Reihen der organisierten Arbeiterbewegung sind gegen diesen Kurs und wollen aktiven Widerstand leisten. Eine zentrale Rolle nimmt dabei Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers Victor Adler, ein. Er sammelt die deklarierten Linken in der Partei rund um sich. Sie sind nicht viele, aber sie erheben ihre Stimme. Im Bildungsverein „Karl Marx“ treffen sie sich zu Diskussionen. Unter ihnen sind auch einige Genossinnen und Genossen aus dem Jugendverband, die mehr machen wollen. Drei Wiener Bezirksorganisationen kontrollieren sie und haben sich zum „Aktionskomitee der Linksradikalen“ zusammengeschlossen. Sie kennen die Texte der russischen Revolutionäre, die in der Schweiz im Exil sitzen: Lenin und Trotzki. Karl Liebknechts offene Opposition zum Krieg dient ihnen als Vorbild. Franz Koritschoner, der zentrale Kopf der Linksradikalen, wird 1916 auch zur Konferenz der Kriegsgegner in den Reihen der internationalen Sozialdemokratie nach Kienthal entsandt und hat dort persönlichen Kontakt mit Lenin. Sie schlagen vor, dass die Linke nicht nur marxistische Schulungsarbeit macht, sondern auch eine Zeitung und Flugblätter gegen den Krieg veröffentlicht und in den Betrieben verteilt. Doch weder im Jugendverband noch im Bildungsverein bekommen sie dafür eine Mehrheit. Im Jugendverband stoßen sie bald schon auf Granit und sehen sich mit bürokratischen Manövern konfrontiert.
Doch nicht nur in Wien regt sich langsam die Opposition. In der Provinz gibt es einige Funktionäre und Vertrauensleute aus dem Metallarbeiterverband, die den Kurs der Parteispitze nicht so einfach hinnehmen wollen. Vor allem in der Region entlang der Südbahnstrecke haben sie, beginnend mit 1915, ein Netzwerk von in der Illegalität agierenden Betriebszellen aufgebaut. Fünfergruppen von revolutionären ArbeiterInnen verbreiten in den Rüstungsbetrieben Flugblätter oder führen Sabotageakte durch. Der Obmann des Metallarbeiterverbands Wiener Neustadt Eduard Schönfeld war zuständig für das ganze Gebiet und koordinierte diese illegale Arbeit. Im Herbst 1916 hatten die Linksradikalen endlich im Bildungsverein eine Mehrheit dafür gewonnen, dass die Linke aktiv Widerstand gegen den Krieg organisiert. Doch gerade in dem Moment, wo diese Widerstandstätigkeit eine neue Qualität annehmen könnte, geht Friedrich Adler einen Alleinweg und ermordet im Oktober 1916 den Ministerpräsidenten von Stürgkh. Er wird damit zwar zum von den Massen verehrten Märtyrer, doch für den Aufbau einer organisierten Opposition bedeutet dieses Attentat einen schweren Rückschlag. Die Linksradikalen sind wieder auf sich allein gestellt, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als geduldiges Weiterarbeiten in der Jugend.
Revolution in Russland
Erst der Sturz des Zaren in Russland und der Sieg der Revolution läuten eine neue Phase ein. Der Krieg hat die europäischen Gesellschaften immer mehr untergraben. Die alte Ordnung hatte sich an einen Abgrund manövriert. In Russland brach die Kette an ihrem schwächsten Glied, doch Hunger und Kriegsmüdigkeit dominierten längst überall die Stimmung in den Fabriken und Arbeiterbezirken. Das Habsburgerregime lockerte im Frühling 1917 ein wenig die Zügel. Nur mit Repression wie bisher war der Krieg nicht fortsetzbar. Im Hinterland musste das Regime schön langsam Zugeständnisse machen, wenn es nicht ähnliche Verhältnisse wie in Russland provozieren wollte: Wenn jetzt nicht Ventile geöffnet würden, dann explodiert der ganze Druckkessel.
Der Sozialdemokratie gewährt die Regierung deshalb nun mehr Handlungsspielräume, die diese in Absprache mit Regierungsvertretern zu nutzen beginnt. Der neue Kaiser lässt das alte Parlament wieder zusammentreten, die Arbeiterbewegung bekommt wieder die Möglichkeit, Versammlungen abzuhalten. Nach russischem Vorbild, wo die Revolution den Frauen das Wahlrecht gebracht hat, beginnt die österreichische Sozialdemokratie ebenfalls mit einer Kampagne für das Frauenstimmrecht.
Klassenkampf
Zur selben Zeit explodiert spontan der Klassenkampf in den Rüstungsbetrieben. Im Wiener Arsenal, wo 20.000 Menschen beschäftigt sind, bricht im Frühling ein Arbeiter vor lauter Hunger zusammen, worauf seine KollegInnen in den Ausstand treten. Dies löste eine Streikwelle aus, die ganz Wien erfasste. Die Linksradikalen spielten in dieser Bewegung erstmals eine wahrnehmbare Rolle in der Führung. Die Regierung musste den Streikenden die Einführung eines Mindestlohns zugestehen, um der Situation wieder Herr zu werden. Weder die militarisierte Unternehmensführung und noch weniger die beschwichtigende Gewerkschaftsführung konnten diese Dynamik abbremsen. Eine spannende Veränderung durchlebten in dieser Situation viele gewerkschaftlichen Vertrauensleute. Zu Beginn des Krieges hatten diese alten sozialdemokratischen Gewerkschafter im Betrieb eine Sonderstellung als Vermittler zwischen der Unternehmensleitung und der Belegschaft. Sie fungierten als Beschwerdestelle für die ArbeiterInnen und kommunizierten die Mitteilungen der Betriebsführung an die Belegschaft. Mit diesem Mechanismus versuchte die Heeresverwaltung in den Betrieben Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Aufgrund der Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie bemühten sich viele Vertrauensleute diese Rolle auch „im Sinne des Vaterlandes“ zu erfüllen, nur eine kleine Minderheit leistete illegal Widerstand. Im Frühling 1917 hatte sich das Blatt aber gewendet. Die Vertrauensleute wurden von der empörten Arbeiterschaft regelrecht mitgerissen und oft an die Spitze der Streikbewegung gespült.
Die Linksradikalen erkannten, dass nun eine neue Zeit angebrochen war. Anfang September 1917 organisierten sie gemeinsam mit Vertrauensmännern aus Niederösterreich unter der Führung von Eduard Schönfeld in einem kleinen Gasthaus südlich von Wiener Neustadt eine geheime Konferenz. Ergebnis der Debatte war der Plan, mittels Generalstreik den Frieden herbeizuführen.
Wunsch nach Frieden
Im Herbst 1917 war auch die Sozialdemokratie erstmals bereit, offen für den Frieden aufzutreten. Bis dahin hatte sie zwar den Krieg und seine Folgeerscheinungen beklagt, weigerte sich aber den Aufrufen der antimilitaristischen Kräfte der internationalen Sozialdemokratie Folge zu leisten und aktiv gegen den Krieg aufzutreten. Wiederum in Absprache mit der Regierung lud sie ausgewählte FunktionärInnen zu einer Friedensversammlung ins Wiener Konzerthaus, um den wachsenden Druck einen „ungefährlichen“ Ausdruck zu verleihen. Doch die Nachricht von der Machtübernahme der Sowjets in Russland löst eine völlig neue Dynamik aus. Die Arbeiterschaft spürt, dass jetzt der Frieden endlich in greifbare Nähe gerückt ist. In Wien und Wiener Neustadt müsse man es nur wie die Brüder und Schwestern in Petrograd machen.
Die explosiven Friedensdemonstrationen im November 1917 in Wien und anschließend in anderen Städten setzen das Zeichen zum Generalstreik. Die Linksradikalen gingen generalstabsmäßig an die Planung eines Streiks für Ende Jänner heran.
In Brest-Litwosk tagen die Friedensverhandlungen zwischen der neuen revolutionären Regierung in Russland und dem deutschen und österreichischen Kaiserreich. Trotzkis Verhandlungsführung zielt darauf ab, die Massen in Deutschland und Österreich dafür zu gewinnen, mit ihren Herrschenden ebenfalls „russisch zu reden“. Mit größter Aufmerksamkeit wird in den Betrieben jede neue Nachricht aus Brest-Litowsk verfolgt. Die Hoffnung auf Frieden hatte eine brodelnde Stimmung erzeugt. Da machte in den Morgenstunden des 14. Jänner plötzlich die Nachricht die Runde, dass die Mehlration halbiert wird. Und das mitten in einem Hungerwinter.
Der Streik
In den Daimler-Motorenwerken in Wiener Neustadt versammeln sich die ArbeiterInnen sofort im Fabrikhof, worauf die Vertrauensleute eine Betriebsversammlung einberufen. Die Belegschaft beschließt umgehend den Streik und zieht mit Transparenten, auf denen der sofortige Friede und der Sturz der Regierung gefordert werden, zum Hauptplatz. Auf dem Weg dorthin schließen sich die Belegschaften der anderen Großbetriebe der Stadt an. Im Anschluss an die Demonstration wird im Arbeiterheim eine Sitzung abgehalten, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Streikleitung eines jeden Betriebes wählt dort Delegierte, die zusammen einen Arbeiterrat bilden. Das Organisationsmodell der russischen Revolution wird nun erstmals auch auf österreichischem Boden angewandt.
Die erste Maßnahme des Arbeiterrates ist die Kontaktaufnahme mit den umliegenden Industriestädten Ternitz, Neunkirchen, Wöllersdorf, St.Pölten usw. Die Linksradikalen übernehmen die Verbindung nach Wien. Die engen Kontakte, die in den Monaten zuvor zwischen revolutionären Vertrauensleuten aus Schlüsselbetrieben und den Linksradikalen geknüpft worden waren, sind jetzt Gold wert. Und die Streikführer haben dank der politischen Vorarbeit einen Plan, was zu tun ist. Der Streik breitet sich wie ein Lauffeuer auf alle Industriegebiete aus. Den Anfang machen überall die Betriebe, in den politisch bewusste Vertrauensleute genügend Autorität haben, um den ArbeiterInnen eine Perspektive zu geben. Dann reißt eine Belegschaft die der umliegenden Betriebe mit.
Die Linksradikalen verbreiten am dritten Streiktag ein Flugblatt, mit dem sie der Bewegung ein Programm zu geben versuchen. Ihre zentralen Forderungen lauten:
1) Die Delegierten für die Friedensverhandlungen sind vom Volk zu wählen!
2) Sofortiger Waffenstillstand an allen Fronten!
3) Aufhebung der Militarisierung der Betriebe und des Kriegsleistungsgesetzes! Völlige Herstellung demokratischer Rechte und politischer Freiheiten!
4) Freilassung von Friedrich Adler und allen politischen Gefangenen!
Das Flugblatt geht aber noch einen Schritt weiter und erklärt, dass die ArbeiterInnen den „patriotischen ‚Arbeiterführern‘“ misstrauen und sich selbst in Arbeiterräten organisieren sollen. Dieses Flugblatt hatte aus Sicht der Partei- und Gewerkschaftsführung absolute Sprengkraft. Sie drohte in diesem Streik die Kontrolle über die Arbeiterschaft zu verlieren.
Doppeltes Spiel
Aufgrund von Dokumenten des Außen- und Innenministeriums und des Kriegsarchivs wurde später bekannt, dass der Staatsapparat keine Möglichkeit sah, den Streik gewaltsam zu unterdrücken und das Regime daher gezwungen war, sich auf die Sozialdemokratie zu stützen. Demzufolge hatte die Parteispitze vom ersten Streiktag an Kontakt zur Regierung und erhielt von dieser freie Hand, mit dem Ziel die Kontrolle über den Streik zu erlangen und ihn möglichst bald beizulegen. So konnte die Arbeiter-Zeitung ohne Zensur über den Streik berichten, und die Partei rief offiziell zu einer Ausweitung des Streiks auf, was einerseits zwar dazu führte, dass die Streikbewegung sich flächendeckend ausbreiten konnte, andererseits aber auch die Voraussetzung dafür war, dass die Sozialdemokratie die Kontrolle über die Streikbewegung erlangen konnte, auf deren Höhepunkt 750.000 ArbeiterInnen die Arbeit niedergelegt hatten. Die Partei hatte auch die Bildung von Arbeiterräten angeregt, und aufgrund ihrer organisatorischen Stärke gelang es ihr in den Bezirksarbeiterräten und somit im Wiener Arbeiterrat ganz deutlich die politische Mehrheit zu erlangen und so die relativ unerfahrenen linksradikalen Kräfte auszubremsen. Eine Vernetzung mit dem revolutionär gesinnten Arbeiterrat in Wiener Neustadt wurde bewusst unterlassen. Das politische Zentrum des Streiks verschob sich somit nach Wien, wo die Sozialdemokratie mit ihrem großen Apparat und der Vielzahl an Abgeordneten leichter die Kontrolle über die Streikbewegung ausüben konnte.
Als Streikziele formulierte der Parteivorstand in Absprache mit der Regierung folgende Punkte:
1) Die Friedensverhandlungen dürfen nicht an territorialen Forderungen scheitern und sollen unter ständiger Information und „gebührendem Einfluss“ der „Vertrauensmänner der Arbeiterschaft“ geführt werden.
2) Reorganisierung des Verpflegungsdienstes.
3) Demokratisierung des Gemeindewahlrechts.
4) Aufhebung der Militarisierung der Betriebe.
Den Streikenden wurde dies als Ultimatum an die Regierung verkauft. Nur sofern diese den Forderungskatalog unterzeichne, solle der Streik für beendet erklärt werden. In Wahrheit war das bereits im Vorfeld mit der Regierung vereinbart worden. Umgekehrt wurde die „feierliche Erklärung“ von Außenminister Graf Czernin, dass die Forderungen des Arbeiterrats von der Regierung akzeptiert würden, vom Parteivorstand vollinhaltich verfasst und dann erst vom Grafen Czernin der Öffentlichkeit vorgelegt.
Revolution lag in der Luft
Aus den genannten Dokumenten geht auch hervor, dass am 17. Jänner im Außenministerium eine Konferenz mit dem stellvertretenden Außenminister stattfand, an der Victor Adler und andere hochrangige Sozialdemokraten teilnahmen, die den Ausbruch des Streiks bedauerten, seine Nicht-Ausbreitung nach Böhmen und Mähren als ein „Glück“ bezeichneten sowie die mögliche Revolution eine „Gefahr“ nannten, „vor der wir alle stünden“. Otto Bauer brachte das Vorhaben der Parteivorstandes so auf den Punkt: „Die Steigerung des Streiks zur Revolution konnten wir nicht wollen.“
Dass in jenen Jännertagen Revolution in der Luft hing, zeigen die Reaktionen von Kaiser Karl und der Regierung. Diese musste sich als letzten Ausweg aus dieser explosiven Lage auf die sozialdemokratische Partei- und Gewerkschaftsspitze stützen. Am 19. Jänner konnte die Sozialdemokratie mit dem Verhandlungsergebnis in die Arbeiterräte gehen und dort einen Streikabbruch erwirken. In einigen Bezirken, wo es den Linksradikalen gelang, zu intervenieren, kam es dabei zu sehr turbulenten Szenen. Eine relativ starke Minderheit unter den ArbeiterInnen wollte dieses Ergebnis nicht akzeptieren. In Wiener Neustadt wurde sogar Karl Renner als Vertreter der Parteiführung kurzerhand festgehalten, als er die Vertrauensleute vom Streikabbruch informieren wollte. In vielen Betrieben wurde noch einige Tage weiter gestreikt, doch der Massenstreik war zu Ende. Einziges Ergebnis der Streikbewegung war das Fortbestehen der Arbeiterräte, die eine wichtige Rolle in den revolutionären Ereignissen ab dem Oktober 1918 spielen sollten. Die Sozialdemokratie war jedoch sehr bedacht, die Kontrolle in den Räten zu behalten. Gleichzeitig setzte sie darauf, die zentralen Konfliktthemen, um die sich der Jännerstreik drehte, ab sofort auf parlamentarischer Ebene zu behandeln.
Der Jännerstreik endete in einer Niederlage. Eine Niederlage, die von der Sozialdemokratie bewusst in Kauf genommen worden war, weil der spontane Massenstreik für den Frieden nicht ihrer eigenen politischen Strategie entsprach. Umgekehrt waren die revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung noch zu schwach, zu unerfahren, zu wenig organisiert, um für die breiten Massen eine Alternative zur patriotisch-reformistischen Sozialdemokratie darzustellen.
Die objektiven Umstände, der Krieg, der Hunger, die dem Jännerstreik zugrunde lagen, waren aber auch nach dem Streikabbruch noch allgegenwärtig. Wenige Monate später war die Revolution auch in Österreich nicht mehr aufzuhalten. Die Monarchie brach in sich zusammen und die Arbeiterbewegung erkämpfte die Demokratie. Dass sich die Sozialdemokratie im Jännerstreik die Kontrolle über die Arbeiterbewegung sichern konnte und die linksradikale Bewegung weitgehend zerschlagen wurde (nicht zuletzt im Interesse der Sozialdemokratie, wie der damalige Innenminister feststellte), war entscheidend, dass im November 1918 die Revolution nur eine demokratische Republik erkämpfte und die kapitalistische Ordnung, die Wurzel des Krieges, intakt ließ. Trotzdem bleibt der Massenstreik im Jänner 1918 eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung dieses Landes.