Die abscheulichen Terrorakte, die auf den Straßen und in den Klubs von Paris 130 Menschen das Leben gekostet haben, markieren eine neue tragische Entwicklung der Ausbreitung der Barbarei, die dem sogenannten Islamischen Staat zugeordnet wird. Das Ausmaß des Horrors, das bisher mit Beirut, Raqqa oder Bagdad verknüpft wurde ist nun auch in Europa angekommen.
Frankreichs Präsident Hollande erklärte, dass “Frankreich im Krieg” ist. Welch Heuchelei! Frankreich führte 2001 Krieg in Libyen, seit 2012 in Syrien und gleichzeitig auch in Mali und Niger. Offensichtlich kann der Krieg auch als Frieden bezeichnet werden, solange die Toten vor den meisten Menschen verborgen bleiben. Der französische Premier Valls hat versprochen, dass Frankreich „unbarmherzig” reagieren wird, und das darf man ihm glauben. Unter der Präsidentschaft des „Sozialisten“ Holland hat Frankreich die direkte militärische Intervention in seinen ehemaligen Kolonien Afrikas und des Nahen Ostens vervielfacht. Und so überrascht es nicht, dass Valls ehemalige französische Kolonien von Schwarzafrika über den Maghreb bis hin in den Nahen Osten als mögliche Einsatzgebiete angegeben hat. Vorerst konzentriert sich das Engagement auf Syrien und treibt dort die Eskalation voran. Frankreichs Rüstungsexporte in die Golfstaaten belaufen sich jährlich auf 3 Mrd. €, womit Frankreich die neben der Türkei unter Erdogan größten Sponsoren des Terrors aufrüsten. Nur einen Monat vor den Pariser Anschlägen von Paris twitterte Valls aus Riad: „Frankreich–Saudi-Arabien: Verträge über zehn Milliarden Euro!“ In einem zynischen Ringelspiel, in dem der Verbündete von heute der Feind von morgen ist, stürzen Imperialismus und Islamismus immer größere Gebiete dieser Welt in die Barbarei. Die Welt steckt in einer Tragödie antiken Ausmaßes.
ISIS erscheint zwar mächtig, aber der Rückgriff zum individuellen Terror ist eine defensive Verzweiflungsstrategie. Speziell durch Putins Waffengang mit Assad gerieten ISIS und die anderen Terrormilizen militärisch in die Defensive. Die Intervention Russlands ist eigenen imperialistischen Interessen geschuldet. Daher war ein Konflikt mit Erdogan, der in dieser Regionen Russland direkt entgegensetzte Interessen vertritt, unvermeidlich. ISIS ist zusätzlich auch aufgrund des Vorrückens der irakischen und syrischen KurdInnen-Verbände in Bedrängnis.
Trotzdem sehen wir auch in dieser reaktionären Nacht, die sich über den Nahen und Mittleren Osten gelegt hat, bereits das Morgenrot einer menschlichen Zukunft: die progressiven Massenbewegungen, die im Sommer zunächst den Irak und aktuell Afghanistan (der Funke berichtete über beide Ereignisse online) erschütterten, in denen sie ihre Ablehnung von sektiererischer wie auch imperialistischer Gewalt massenhaft demonstrierten. Krieg und Terror werden tiefgehende politische Konsequenzen mit sich ziehen. Die nachvollziehbare Panik-Welle in der Bevölkerung hat den Boden für Sündenbock-Argumentationen fruchtbar gemacht. Jene Menschen, die vor Terror und Krieg nach Europa flüchten, werden als Projektionsfläche von Angst missbraucht. Das wird von reaktionären Parteien und Medienunternehmen gefördert, die offen religiösen Hass aufstacheln, während „respektablere“ Kräfte von der „Invasion Europas“ und der angeblich zu hohen Fruchtbarkeitsrate muslimischer Mitmenschen schreiben und reden. Dies sind europaweite Phänomene, die besonders auch in Österreich stark ausgeprägt sind.
Der Terrorpate Erdogan wird zum fürstlich bezahlten Türsteher der EU ausgelobt, Faymann darf dies für die EU koordinieren. Geheimdienste warnen davor, dass Flüchtlingslager die neuen Terror-Rekrutierungszentren sind. Die Freizügigkeit innerhalb der EU wird zum Sicherheitsproblem deklariert. Die Einheit Europas wird unter kapitalistischen Bedingungen in der Krise von einer fortschrittlichen Entwicklung immer mehr zu einem für viele lebensgefährlichen Alptraum. Um die reaktionäre Offensive zu tarnen, wurden in Strömen Krokodilstränen über die Pariser Opfer vergossen und leere Phrasen über Demokratie und die sogenannten westlichen Werte heruntergebetet. Alle dies wurde verknüpft mit einem impliziten Fingerzeig auf arabische Muslime.
Hollande, der unbeliebteste Präsident der modernen französischen Geschichte, rief den Ausnahmezustand aus und alle Parlamentsparteien stimmten der Aussetzung demokratischer Rechte für 90 Tage zu. Die Gunst der Stunde ausnützend, kündigte er an, die Befugnisse des Präsidenten generell ausweiten zu wollen und appellierte an die Bevölkerung „sozialen Frieden“ zu wahren, also Streiks und Demonstrationen einzustellen. Der Ausnahmezustand gibt dem Staatsapparat diktatorische Kraft: Festnahmen ohne Haftbefehl, Ausgangssperren, Medien-Kontrolle etc. Die „ewigen“ Werte der Demokratie und Freiheit müssen genau dann hinten an stehen, wenn sie angeblich gerade verteidigt werden. Welchen sozialen Inhalt und welchen politischen Zweck der französische Ausnahmezustand hat, wurde sofort deutlich: die Fußball-Liga wird fortgesetzt, die Weihnachtmärkte werden abgehalten. Sicherheitsprobleme erkennt der Staatsapparat nur in politischen Manifestationen.
Anlässlich des Welt-Klimagipfels am 27.11. wurden alle Demonstrationen in Frankreich verboten. Zahlreiche AktivistInnen wurden in ihren Wohnungen von Anti-Terroreinheiten der französischen Polizei überfallen und anschließend unter Hausarrest gestellt. 1000 DemonstrantInnen wurden an Frankreichs Grenzen festgesetzt. Trotzdem versammelten sich in Paris Tausende zum Protest und wurden von Einsatzkräften brutal misshandelt. Am Ende des Tages gab es 341 Verhaftungen. Die gleichgeschalteten „demokratischen“ Medien wussten nur von „anarchistischen Ausschreitungen“ zu berichten. Sich dem Druck beugend haben die Gewerkschaften viele Mobilisierungen abgebrochen. Auf der anderen Seite haben weder die Unternehmen, noch die Regierung ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse eingestellt.
Der französische Klassenkampf wurde kurz zurückgeworfen, aber nur um später umso heftiger wieder auch von Seite der Arbeiterklasse aufgenommen zu werden. Bereits am 17.11. veröffentliche die CGT-Teilgewerkschaft „Medien“: Wir akzeptieren nicht, dass die Tragödie, die unser Volk erlitten hat, manipulativ in eine Heilige Allianz um den sozialen Krieg und Zerstörung unseres eigenen Landes umgewandelt wird. Wenn der Begriff „Nationale Einheit“ auch nur eine Bedeutung haben soll, dann muss dies das Ende aller Massenentlassungen, aller Repression gegen Gewerkschaften, und des Sozialabbaus bedeuten. Am 21.11.2015 demonstrierten 16.000 Jugendliche und ArbeiterInnen in Toulouse unter den Slogans: Für unsere demokratischen Freiheiten und Friede – gegen Barbarei und Manipulation, gefolgt von einem zweiten Transparent mit dem Slogan: Ihre Kriege, unsere Toten – gegen den Ausnahmezustand – lasst uns unseren Kampf intensivieren!
Tatsächlich ist es so, dass die besten Werber für die fanatischen Gotteskrieger die abstoßenden Bedingungen sind, unter denen Millionen von Jugendlichen leben. Die weitere Verantwortung liegt in der imperialistischen Politik der USA und der EU, die allein von der Gier nach Profit und Einflusssphären getrieben ist, und sicherlich nicht der Verbreitung der Philosophie von Aristoteles oder Voltaire. Der einzige realistische Ausweg aus diesem Alptraum ist der Sturz des Kapitalismus. Das ist die einzige Schlacht, die es tatsächlich wert ist, geschlagen zu werden.
Wien, 3. Dezember 2015
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Overbanked and Underfinanced
- Antifa auf der Anklagebank
- Recht auf Wohnen: Wer nicht mehr zahlt, der fliegt
- Bildungsreform: Yeah, wir kriegen WLAN!
- Betrieb & Gewerkschaft
- Metall: Unterordnen oder kämpfen?
- GPA-djp Bundesjugendforum: Gewerkschaft am Scheideweg
- Sozialleistungen als Profitgeschäft
- Italien: Machen wir es selber
- Schwerpunkt
- Philosophie: Die Waffe des Proletariats
- Wir über uns
- Neuerscheinung: Die Dritte Front
- Theorie
- Türkei: Zwischen Volk und Arbeiterklasse
- International & Kultur
- Venezuela: Revolution am Scheideweg
- Austellungsbericht: Love Revolution
- Portugal/Griechenland: Der Maulwurf der Geschichte
- Zielpunkt: Enteignung statt sozialem Elend!
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