Die SJ protestierte letzte Woche mit einem bekannten Zitat* von Williy Brandt gegen das Regierungsabkommen zwischen SPÖ und ÖVP. Doch wer war dieser Willy Brandt eigentlich und für welche Sozialdemokratie stand er? Von Hans-Gerd Öfinger.
Wenn eine traditionsreiche, 150 Jahre alte politische Organisation in die schwerste Krise ihrer Geschichte kommt, liegt es nahe, sich nostalgisch nach guten alten Zeiten zurück zu sehnen. So feiert die SPD im Dezember 2013 den 100. Geburtstag ihres früheren Vorsitzenden und Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, labt sich am Gedenken an ihr eigenes Denkmal und bindet die stark verunsicherte Basis mit der Ikone des legendären Veteranen.
Auch wenn er schon seit 21 Jahren tot ist, vergeht in diesen Monaten kaum ein SPD-Parteitag irgendwo in der Republik ohne das eine oder andere Willy-Brandt-Zitat. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ ist zum Klassiker geworden. Mit dem Satz „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein“, spannen derzeit viele Kritiker einer Großen Koalition den großen alten Mann der Sozialdemokratie vor ihren Karren. „Willy Brandt hat die SPD 1966 in die Große Koalition geführt und wurde nur deshalb 1969 Bundeskanzler“, halten ihnen rechte Sozialdemokraten entgegen, die rechtzeitig zu Brandts 100. Geburtstag am 18. Dezember die Koalition mit Merkel und der CDU/CSU unter Dach und Fach bringen wollen. „Hätten die Sozialdemokraten die Partei in seinem Sinn weitergeführt, hätte ich nicht mit ihnen gebrochen“, sagt der Stuttgarter Ulrich Maurer, der nach einer langen und steilen SPD-Karriere 2004 die SPD verließ und die Partei DIE LINKE als Bundestagsabgeordneter und Aufbau West-Beauftragter mit prägte.
Es ist allerdings müßig, darüber zu spekulieren, ob der 1992 verstorbene Willy Brandt, hätte er noch zehn oder 20 Jahre länger gelebt, mit der Mehrheit seiner politischen „Enkel“ 2003 Gerhard Schröders „Agenda 2010“ unterstützt hätte oder mit Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer in die WASG und LINKE übergetreten wäre. Wer war dieser Willy Brandt, der für linke und rechte Sozialdemokraten und auch für viele abtrünnige Ex-Mitglieder gleichermaßen Vorbild und Übervater geworden ist? Was zeichnet ihn aus und was fasziniert so viele Menschen an seiner Biografie?
Willy Brandt fügt sich ein in eine Riege sozialdemokratischer Führer der 1960er und 1970er Jahre, die für eine ältere Generation noch heute die Erinnerung an die Glanzzeiten der Sozialdemokratie verkörpern: Bruno Kreisky in Österreich, Tage Erlander und Olof Palme in Schweden, Joop den Uyl in den Niederlanden und Harold Wilson in Großbritannien, um nur einige zu nennen. Es waren Jahre des kapitalistischen Wirtschaftsaufschwungs mit hohen Wachstumsraten, die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, steigenden Lebensstandard und mehr Lebensqualität ermöglichten. Das verlieh den in vielen Ländern regierenden sozialdemokratischen Parteien eine hohe Stabilität.
Proletarische Herkunft und rebellische Jugend
Willy Brandt wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck als Herbert Ernst Karl Frahm geboren. Als nichteheliches Kind einer berufstätigen Mutter lernte er seinen Vater nie kennen. Wichtigste Bezugsperson wurde sein Großvater, klassenbewußter Arbeiter, Gewerkschafter und SPD-Mitglied. Er zog ihn auf und führte ihn in den Klassenkampf und die mehrheitlich sozialdemokratisch geprägte Arbeiterbewegung ein. So trat der junge Herbert Frahm 1929 der SPD-nahen Jugendorganisation SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) und 1930 der SPD bei.
Doch schon ein Jahr später verließ er die SPD wieder und schloss sich der neu gegründeten linkssozialistischen SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) an. Sie wurde von linken SPD-Reichstagsabgeordneten gebildet, die von der eher gemäßigten Fraktionsmehrheit ausgeschlossen worden waren. Im damaligen Deutschland griffen im Zuge der Weltwirtschaftskrise Massenarbeitslosigkeit und Verarmung um sich. Das radikalisierte und polarisierte. Die Nazis waren zu einer Massenbewegung und Gefahr für die Arbeiterbewegung geworden Die Passivität der SPD-Führung angesichts des Vormarsches der politischen Reaktion stieß auch in den eigenen Reihen auf heftige Kritik und bildete vor allem unter jungen SPD-und SAJ-Mitgliedern einen Nährboden für die SAP, die rasch auf 25.000 Mitglieder anwuchs. DIE SAP zog auch abtrünnige KPD-Mitglieder an, die sich von der damaligen ultralinken Parteilinie abgrenzten und eine Einheitsfront der Arbeiterorganisationen forderten. „Republik, das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel“, war damals eine griffige Parole junger SAP-Mitglieder. Bei Wahlen blieb die neue Partei in jenen Jahren allerdings erfolglos.
Flirt mit dem revolutionären Marxismus
Nach der Machtübertragung an die Nazis am 30. Januar 1933 setzte eine massive Verfolgungswelle gegen Aktivisten der Arbeiterparteien und Gewerkschaften ein. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, flüchtete Herbert Frahm an Bord eines Fischkutters zunächst illegal nach Dänemark und später nach Norwegen, wo er bis zur deutschen Besatzung 1941 sein neues Zuhause fand. Um sich selbst besser zu tarnen und seine Familie vor der Verfolgung zu schützen, nahm er nun für den Rest seines Lebens den Namen Willy Brandt an. Bei seiner Flucht hatte er nach eigenen Angaben 100 Reichsmark und einige frische Hemden sowie den ersten Band von Karl Marx‘ „Das Kapital“ in der Tasche. „Das hat mir aber nicht dazu verholfen, je ein geeichter Marxist zu werden“, schrieb er später rückblickend.
Im Exil blieb Willy Brandt jahrelang der SAP und ihren Exil- und Untergrundstrukturen treu. Er integrierte sich rasch in die norwegische Gesellschaft und die damals sehr weit links stehende sozialdemokratische Arbeiterpartei (AP). Die SAP stand im engen Kontakt mit anderen sozialistischen Parteien außerhalb von Sozialdemokratie und Kommunistischen Parteien, die sich auf den revolutionären Marxismus hinzu bewegten und zeitweilig auch in Kontakt mit dem aus der Sowjetunion ausgewiesenen Revolutionär Leo Trotzki standen. Aus marxistischer Sicht handelte es sich um zentristische, zwischen Reformismus und Marxismus hin- und her schwankende Organisationen. Die allermeisten beließen es jedoch beim Flirt mit dem revolutionären Marxismus und passten sich später nach rechts an. Einige machten in der Nachkriegszeit vor allem in der Sozialdemokratie steile Karrieren. 1937 reiste Brandt als Korrespondent nach Spanien, wo er als Sympathisant der zentristischen POUM über den Bürgerkrieg berichtete und die stalinistische Verfolgungswelle gegen POUM, Anarchisten und andere linke Strömungen erlebte.
Deutscher Patriot im Kalten Krieg und Vorbild John F. Kennedy
1948 kehrte Willy Brandt, der sich inzwischen wieder mit der Sozialdemokratie ausgesöhnt hatte, in das zerbombte Nachkriegsdeutschland zurück und wurde in der „Frontstadt“ West-Berlin sesshaft, das damals stärker als Westdeutschland vom aufflammenden „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West geprägt wurde. In der stramm auf die Westmächte orientierten Berliner SPD legte er eine steile Karriere hin, wurde zunächst 1949 Bundestagsabgeordneter, 1955 Präsident des West-Berliner Abgeordnetenhauses und 1957 Regierender Bürgermeister.
1959 vollzog die SPD mit dem Godesberger Programm endgültig die Angleichung des Programms an die Praxis, den ideologischen Schwenk von marxistischen Lippenbekenntnissen hin zu einer Aussöhnung mit dem real existierenden Kapitalismus. Willy Brandt stieg in der Partei weiter auf, wurde 1961 Kanzlerkandidat und Herausforderer des Amtsinhabers Konrad Adenauer und 1963 Parteivorsitzender. Die Strategen der Parteizentrale präsentierten ihn als jugendhaften Hoffnungsträger im Stile des 1960 zum US-Präsidenten gewählten John F. Kennedy.
Reaktionäre Propaganda
Obwohl er schon längst mit seinen radikalen Ansichten in den 1930er Jahren gebrochen hatte, war Brandts Biografie in der konservativen Erstarrung der westdeutschen Bundesrepublik für den reaktionären Mainstream eine Provokation. Man nahm Anstoß daran, dass er ein nichteheliches Kind und während der Nazizeit in der Emigration war. Das Wort vom „Vaterlandsverräter“ machte die Runde. Drahtzieher und Träger dieser Propaganda bis weit in die CDU/CSU hinein waren meistens Herren, deren frühere Mitgliedschaft in Nazi-Organisationen wie NSDAP oder Waffen-SS erst Jahrzehnte später offenbar wurde. Solche Attacken von rechts gereichten Brandt in der Aufbruchstimmung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre letztlich jedoch zum Vorteil und stärkten sein Ansehen in weiten Teilen der Arbeiterklassse, Jugend und kritischen Mittelschicht.
Große Koalition
Im Herbst 1966 brach die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP auseinander. Am 1. Dezember 1966 wurde die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet und Brandt wurde Außenminister und Vizekanzler. Damit war die SPD erstmals in der Nachkriegszeit an einer Bundesregierung beteiligt.
Dieser Regierungswechsel war eine direkte Folge des westdeutschen Wirtschaftseinbruchs im Herbst 1966. Er kam für viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Autoindustrie produzierte auf Halde und drosselte die Produktion. Investitionen und Aufträge sackten weiter ab. Im Ruhrgebiet wuchsen die Halden unverkaufter Steinkohle und setzte das große Zechensterben ein. Unter den betroffenen Bergarbeitern machte sich Unruhe und eine explosive Stimmung breit. Bei der hessischen Landtagswahl im November 1966 errang die SPD 51 Prozent, die CDU lediglich 26,4 Prozent. Selbst in Bayern errang die SPD im November 1966 35,8 Prozent – Traumwerte aus heutiger Sicht. Die CDU-FDP-Koalition war nur ein Jahr nach ihrem Wahlsieg am Ende. Von Woche zu Woche nahmen Kurzarbeit und Entlassungen in der Industrie zu. Die Arbeitslosigkeit überschritt die Marke von einer halben Million, was sofort wieder Existenzängste und Erinnerungen an die 1920er und 1930er Jahre auslöste. Die SPD hätte in dieser Situation allerbeste Chancen gehabt, um Neuwahlen zu erzwingen, die Herrschaft von CDU/CSU und FDP zu beenden und die Arbeiterklasse wie auch kleine Selbstständige und Bauern gegen das Krisendiktat der Großkonzerne und Banken zu mobilisieren. Doch sie hatte inzwischen eine Anpassung nach rechts vollzogen und war auf Akzeptanz in kapitalistischen Kreisen und Regierungsbeteiligung (fast) um jeden Preis aus.
Für die Aufgabe, die Arbeiterklasse zu mäßigen und die Kampfbereitschaft zu dämpfen, duldete die herrschende Klasse auch eine Regierungsbeteiligung der SPD. Ihr Wirtschaftsminister Karl Schiller rief eine „Konzertierte Aktion“ mit Vertretern von Unternehmerverbänden, Banken, Gewerkschaften, Landwirtschaft und Staat ins Leben, um alle auf eine gemeinsame Linie zu bringen (bzw. den Vorgaben der Unternehmerverbände gerecht zu werden). Für Lohnsteigerungen wurden dabei gewisse „Orientierungsdaten“ als Obergrenze gesetzt.
Die SPD hatte durch ihren Eintritt in die Große Koalition der CDU/CSU und dem Kapital aus der Patsche geholfen. Die Quittung dafür erhielt sie bei den Landtagswahlen 1967 und 1968. In Bremen, Baden-Württemberg, Berlin (West), Rheinland-Pfalz und Niedersachsen verlor sie durchweg Stimmen und Prozentpunkte. Einzige Ausnahme bildete Schleswig-Holstein mit seinem damals relativ linken Landesverband. Erstmals seit längerer Zeit entwickelte sich nun wieder eine breite innerparteiliche Opposition. Auf dem Nürnberger Bundesparteitag 1968 stimmten bei 173 Ja-Stimmen immerhin 129 Delegierte gegen einen Antrag des Parteivorstandes auf ausdrückliche Billigung des Eintritts in die Große Koalition. Die Jusos vollzogen ab 1967 einen scharfen Linksschwenk und wählten 1969 ihren rechtssozialdemokratischen Vorstand ab.
Dass die SPD trotz Enttäuschungen über die Große Koalition bis 1969 als Hoffnungsträgerin dastand, hatte mehrere Gründe. Die Wirtschaftsflaute 1966/67 war auf die BRD begrenzt und konnte 1968/69 vor allem auch durch verstärkte Exporte überwunden werden. Ehemalige Bergarbeiter fanden anderswo Arbeit. Bis 1970 sank die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet und bundesweit wieder auf 0,7 Prozent. Im Spätsommer 1969 entlud sich die Unzufriedenheit in den Betrieben in einer spontanen Welle von Streiks für Teuerungszulagen. Dies und die seit den europaweiten Massenprotesten 1968 einsetzende Aufbruchstimmung stärkte im Wahlkampf 1969 die SPD. Wie kein anderer an der SPD-Spitze verstand es Willy Brandt, auch aufgrund seines eigenen Werdegangs, eine aufmüpfige junge Generation aus der Arbeiter- und Studentenbewegung einzubinden, den Protest in ein reformistisches Fahrwasser zu lenken und ihm die revolutionäre Spitze zu nehmen.
Sozialreformen und Ostpolitik
Mit der Bildung der SPD-FDP-Regierung 1969 hatte Willy Brandt im dritten Anlauf sein Ziel erreicht und wurde Bundeskanzler. Unter seiner Kanzlerschaft wurden viele längst überfällige Sozialreformen umgesetzt, die spürbare Verbesserungen im Leben der arbeitenden Bevölkerung mit sich brachten: sechs Wochen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, mehr Mitbestimmungsrechte im Betrieb, mehr Chancengleichheit im Bildungswesen, BaföG, sozialer Wohnungsbau, um nur einige zu nennen. Der Ruf Willy Brandts als „ehrliche Haut“ und „konsequenter Interessenvertreter der arbeitenden Bevölkerung“ fußt vor allem in jenen Jahren seiner Kanzlerschaft. Grundlage für Zugeständnisse an die Arbeiterklasse durch Politik und Unternehmen bildeten hohe wirtschaftliche Wachstumsraten. Dies stärkte Illusionen in eine permanente Verbesserung von Lebensstandard und Lebensqualität im Kapitalismus.
Ein weiteres Kernstück der Regierungsarbeit bildete die neue, von Willy Brandt und seinem langjährigen Berater und Weggefährten Egon Bahr ausgehende Ostpolitik, die viele Emotionen hochkochen ließ. Damals erfreuten sich die östlichen Planwirtschaften noch steigender Wirtschaftskraft, relativer Stabilität und militärischer Stärke und war nach einer realistischen Einschätzung auf absehbare Zeit nicht mit ihrem Zerfall zu rechnen, ebensowenig mit einer Wiedervereinigung Deutschlands. Die Abgrenzung Westdeutschland und das Säbelrasseln des Kalten Krieges waren überholt. Während andere Länder wie Frankreich ihren Handel im Osten ausweiten konnten, blieben der westdeutschen Wirtschaft die prosperierenden Ostmärkte als Absatzgebiet verwehrt. Insofern stand das exportorientierte Kapital im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen der sozialliberalen Ostpolitik einer diplomatischen Aussöhnung mit den Ostblock-Ländern keinesfalls ablehnend gegenüber. Das Kapital dachte damals schon weitaus realistischer als seine Helfershelfer in CDU und CSU, die noch Gefangene ihrer eigenen, überholten Propaganda waren. So erforderten die neuen Gegebenheiten auch neue Konstellationen wie den Schwenk der FDP an die Seite der SPD und einen Kopf wie Willy Brandt, der mit seiner Biografie die Türen im Osten weitaus leichter öffnen konnte als die führenden Repräsentanten der CDU/CSU.
Normalen diplomatischen Beziehungen mit diesen Ost-Ländern stand ein zentrales westdeutsches Staatsdogma im Wege. So stützten sich vor allem CDU und CSU auf Millionen ehemaliger Vertriebener aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Zwar waren diese Menschen im westdeutschen Produktionsapparat und in der Gesellschaft inzwischen gut integriert und für ihre Verluste entschädigt worden. Doch in den Vertriebenenverbänden lebten der alte Revanchismus und ein Traum von der Rückeroberung dieser Gebiete fort. Dass ein Kanzler Brandt in den „Ostverträgen“ den osteuropäischen Staaten die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen garantierte, provozierte im reaktionären Lager einen heftigen Aufschrei über diesen vermeintlichen „Abgrund von Landesverrat“. Nicht einmal der 1971 an Brandt verliehene Friedensnobelpreis beruhigte die reaktionären Gemüter.
Vom Triumph 1972 zum Rücktritt 1974
Nun wechselten Bundestagsmitglieder am rechten Rand der Regierungsparteien FDP und SPD zur CDU/CSU oder votierten bei wichtigen Abstimmungen gegen die eigene Partei. Somit verlor die Regierung Brandt-Scheel ihre parlamentarische Mehrheit. Im April 1972 fühlte sich die CDU/CSU stark genug für ein Misstrauensvotum gegen Brandt im Bundestag. Dies löste spontan eine breite Empörung und eine Welle von Solidaritätsstreiks in Betrieben aus. Das Misstrauensvotum am 27. April 1972 scheiterte, weil der CDU/CSU wider Erwarten doch noch zwei Stimmen fehlten. Die Aufarbeitung der Frage, ob da bei einzelnen Abgeordneten finanziell „nachgeholfen“ wurde, hält auch über 41 Jahre danach an.
Aus der vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972 ging die SPD mit 45,9% der abgegeben Stimmen bei einer Rekordwahlbeteiligung von 91,1% als stärkste Partei hervor. Damit hatten Willy Brandt und die SPD bundesweit knapp 42 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich und einen absoluten historischen Höhepunkt erreicht. Dass die Partei bei der jüngsten Bundestagswahl im September 2013 bundesweit nur noch von knapp über 18 Prozent der Wahlberechtigten angekreuzt wurde, verdeutlicht den drastischen Niedergang und erklärt den nostalgischen Rückblick auf „gute alte Zeiten mit Willy“.
Eine Kehrseite des „Aufbruchs“ zu „Frieden und Fortschritt“ und der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu den stalinistischen Staaten Osteuropas war die fortgesetzte antikommunistische Ausgrenzungspolitik nach innen. 1972 verfügten die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit Brandt den sogenannten „Radikalenerlass“, der Mitgliedern linker Organisationen den Zugang zum Öffentlichen Dienst versperrte, weil sie angeblich „keine Gewähr“ boten, jederzeit „für die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung“ einzustehen. Dies zerstörte für viele tausend junge Lehrer, Postler und Eisenbahner den Berufs- und Lebensweg. Später soll Brandt diesen Irrtum bereut haben. In der SPD wurden in jener Zeit „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“ gefasst, die Parteimitgliedern die Zusammenarbeit mit kommunistischen Organisationen untersagten. Dies bot die Grundlage für zahlreiche Parteiausschlüsse. Prominentestes Opfer dieser Welle war 1977 der frisch gewählte Juso-Bundesvorsitzende Klaus-Uwe Bennetter, der auf Betreiben des damaligen SPD-Bundesgeschäftsführers und Brandt-Vertrauten Egon Bahr aus der Partei verstoßen wurde. Neuer Vorsitzender wurde nun Gerhard Schröder. Wie absurd der antikommunistisch motivierte Ausschluss Benneters war, zeigte sich ein Vierteljahrhundert später, als der nach rechts gerückte Parteichef Gerhard Schröder den längst rehabilitierten und angepassten Benneter zum SPD-Generalsekretär machte.
Ab 1973 begann Willy Brandts Stern zu sinken. Seine Regierung bremste die Reformpolitik ab. Als angesichts steigernder Inflationsraten Arbeiter in Großbetrieben spontan für Teuerungszulagen streikten, rief er zur Mäßigung auf. Als im Mai 1974 sein persönlicher Referent als DDR-Spion enttarnt wurde, trat Brandt zurück. Sein Nachfolger Helmut Schmidt, der bis zum Sturz durch CDU/CSU und FDP 1982 Kanzler blieb, rückte zunehmend vom Reformkurs ab und rief dazu auf „den Gürtel enger zu schnallen“.
Neue Aufgaben, alte Rolle
Brandt blieb allerdings bis 1987 SPD-Vorsitzender und hielt in dieser Funktion der nach rechts gerückten Regierung Schmidt in einer Art Arbeitsteilung den Rücken frei. Daneben konzentrierte er sich von 1976 bis zu seinem Todesjahr 1992 auf den Vorsitz der „Sozialistischen Internationale“. In diesem Dachverband sozialdemokratischer Parteien leistete Brandt nun das, was er in jungen Jahren selbst erfahren hatte. Er zähmte eine ganze Generation jüngerer sozialistischer Parteiführer in Südeuropa wie Mario Soares (Portugal), Felipe González (Spanien) und Andreas Papandreou (Griechenland) und trug dazu bei, dass ihre revolutionären Reden folgenlos blieben. Auch in der sandinistischen Revolution im Nicaragua der 1980er Jahre verfolgten Brandts Gesandte einen mäßigenden Einfluss. So konnte sich der Kapitalismus wieder stabilisieren und so wurden die revolutionären Bewegungen zum Entgleisen gebracht.
Als 1989 die Mauer fiel und sich ein Anschluss der DDR an die BRD auf kapitalistischer Basis abzeichnete, war der Patriot Brandt von den Ereignissen beseelt und freute sich: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Den um ihre Arbeitsplätze fürchtenden DDR-Arbeitern hatte er politisch wenig anzubieten. Seine Auftritte in der sich auflösenden DDR waren eher ein Wiedersehen mit einer Ikone, die hier Anfang der 1970er viele Anhänger hatte. Unter seinem Einfluss verfolgte die neu gebildete Sozialdemokratie in der DDR (SDP) einen prokapitalistischen Kurs. Sie trat im Frühjahr 1990 in die CDU-geführte Große Koalition ein und hatte dem Kurs von Kohl und Kapital nichts entgegen zu setzen. Gerade auch in Sachsen und Thüringen, in den 1920er Jahren Hochburgen einer relativ linken Sozialdemokratie, schwächelt die SPD bis zum heutigen Tage.
Wenn kritische SPD-Mitglieder und -Anhänger heute gegen den neuerlichen Gang in die Große Koalition kämpfen und in der Geschichte nach Antworten auf brennende Fragen suchen, dann sind Nostalgie und Personenkult schlechte Ratgeber. Auf kapitalistischer Grundlage lassen sich die guten alten 1960er und 1970er und die vermeintlich heile Welt unter Willy Brandt nicht mehr wieder herstellen. Vor uns liegen tiefe Krisen und Erschütterungen. In diesen Zeiten sind ein marxistischer Kompass und eine Rückbesinnung auf Marx, Engels, Liebknecht und Luxemburg und die besten revolutionären Ideen der alten Sozialdemokratie nötiger denn je.