Das folgende Perspektiv-Dokument wurde Mitte Oktober 2021 verfasst und bei einer Funke-LeserInnen- und UnterstützerInnen-Konferenz am 28. November 2021 diskutiert und verabschiedet. Obwohl dieses Papier vor dem Wechsel der Regierungsspitze verfasst wurde, werden darin bereits zentrale Bruchlinien und Hintergründe erklärt, die das Papier nach wie vor hilfreich für die politische Ausrichtung der MarxistInnen macht.
„Wenn der Apfel reif geworden ist und fällt, warum fällt er? Weil er von der Erde angezogen wird? Weil sein Stängel dürr geworden ist? Weil sein Fleisch von der Sonne getrocknet ist? Weil er zu schwer geworden ist? Weil er Wind ihn schüttelt? Oder weil er unten stehende Knabe ihn essen möchte?
Nichts davon ist die Ursache, sondern alles zusammen, nur das Zusammentreffen der Bedingungen, unter denen sich in der lebenden Welt jedes organisische, elementare Ereignis vollzieht.” (Leo Tolstoi, Krieg und Frieden)
„I leave aside the deeper concern that the primary role of mainstream economics in our society is to provide an apologetics for a criminally oppressive, unsustainable and unjust social order” (Jeremy Rudd, in: “Why Do We Think that Inflation Expectations Matter for Inflation? (And should we?)”, Board of Governors of the Federal Reserve System, Washington 2021)
Inhalt:
- Wachsende Wirtschaft – explodierende Widersprüche
- Die Türkisen und die Bourgeoisie
- SPÖ: allzeit bereit!
- „Kommunistische” Wiedergeburt
- Gewerkschaften
- Bewusstsein – Bewegungen – Marxismus
Der Weltkapitalismus und die Herrschaft der Bourgeoisie können sich nach der COVID-Krise in den kommenden Jahren nicht mehr stabilisieren. Im Gegenteil, die Grundlagen der bürgerlichen Klassenherrschaft werden untergraben. Dieser Prozess umfasst alle Bereiche der Gesellschaft und der natürlichen Grundlagen der Zivilisation: Wirtschaft, Ideologie, Kultur und Wissenschaften, die Beziehungen zwischen den Staaten und Blöcken, die Beziehungen zwischen der herrschenden Klasse und der unterdrückten Klassen, Schichten und Völkern und selbst zwischen den einzelnen Menschen sind in der Krise.
Graduelle Veränderungen bereiten dabei den Boden für spontane Ereignisse und Krisen, die in zunehmendem Takt sich ineinander verzahnen und gegenseitig befeuern. In schneller Folge wird die Ursache zur Wirkung und diese sogleich wieder zu einer Ursache. Die herrschende Klasse (obwohl ihr alle Ressourcen frei zu ihrer Verfügung stehen) steht diesem Prozess letztlich hilflos gegenüber. Denn in letzter Analyse liegen allen Entwicklungen objektive, (also materielle, dem Kapitalismus innewohnenden) Widersprüche zugrunde, die sich unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und Willen entlang der Gesetzmäßigkeiten des Systems entfalten.
Die herrschende Klasse hält sich jedoch weiter an der Macht, und wird es auch bleiben, bis zu dem Tag an dem das bewusste Eingreifen der Massen in die Geschichte ihre Herrschaft unmöglich macht. Der Machtübernahme der Arbeiterklasse geht ein Prozess des massenhaften Lernens („Erfahrungen machen”) in der Praxis der Klassenkämpfe voran. Die Existenz einer trainierten revolutionären Partei, die die Krise des alten Systems bewusst versteht, aktiv in die ideologischen, politischen und ökonomischen Kämpfe eingreift, beschleunigt diesen Lernprozess.
Die revolutionäre Organisation selbst wächst dabei an Verständnis und Verankerung in der Arbeiterklasse und Jugend, entwickelt sich von einer Organisation, deren Hauptaufgabe Propagandaarbeit ist zu einer Kraft, die aktiv Klassenkämpfe mitgestaltet, verlässliche Beziehungen zu den AktivistInnen der Klasse und über sie zu den Massen aufbaut und sich dabei ständig selbst trainiert, um zu einem für die Machtübernahme der Arbeiterklasse nützlichen Instrument zu werden.
Die Geschichte lehrt auch, dass es eine bewusste revolutionären Führung braucht um den alten Staatsapparat zu stürzen und erfolgreich durch eine Rätedemokratie zu ersetzen. Die Enteignung der Großkonzerne, Banken und Versicherungen ist die Basis der rationellen Planung der Produktion und der Investitionen. Die Menschheit lässt das Reich der Notwendigkeiten” hinter sich und steht an der Schwelle des Reichs der Freiheit”, deren unmittelbarer Ausdruck die Verkürzung der Arbeitszeit ist.
Aufgabe dieses Dokuments ist es die zentralen Widersprüche und Entwicklungslinien des Klassenkampfes festzustellen und zu erklären, um weitere Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und so eine sichere politische Ausrichtung zu geben.
Wachsende Wirtschaft – explodierende Widersprüche
Nach dem tiefen Einbruch der Weltwirtschaft im Jahr 2020 begann im Winter/Frühjahr 2021 eine schnelle Erholung der Wirtschaft. Nach dem ‚Economist‘ erleben wir die steilste simultane Beschleunigung des Wirtschaftswachstums der G7 Staaten seit Anfang der 1950iger Jahre. Dieser Umschwung vollzieht sich weitaus schneller als prognostiziert. In ihrer jüngsten Prognose rechnet die OECD für 2021 mit einem Wachstum der Weltwirtschaft von 5,7%, wobei das Wachstum der G20 Staaten (6,1%) darüber und das der Eurozone (5,3 %) darunter liegt. Aktuell verschlechtern sich die Prognosezahlen wieder.
Der 1949 beginnende Nachkriegsaufschwung läutete jedoch eine ganz andere Periode als heute ein. Es war der Beginn der historischen Ausnahmeperiode des 25-jährigen Nachkriegsaufschwunges, des Ausweitung des Welthandles, des stabilen Wirtschaftswachstums und ständigen Steigerung des Lebensstandards der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern. Dies ermöglichte auch eine Entschärfung der Klassenwidersprüche (ein relativer Prozess, der 1968 in revolutionäre Massenbewegungen mündete und mit dem Zusammentreffen der Krise von 1974 ein Jahrzehnt von Klassenkämpfen und Revolutionen einleitete). Jetzt jedoch geht das Wachstum unmittelbar mit der Zuspitzung von Widersprüchen einher.
Deutlich verlagert sich die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung weiter nach Asien, Europa kann voraussichtlich erst im Laufe des kommenden Jahres das Niveau von 2019 erreichen, China konnte selbst im Jahr 2020 leicht wachsen (plus 2,3%). Der ständig steigende Anteil Chinas am Weltmarkt zerrüttet die Weltbeziehungen und fordert die USA direkt heraus: der Pazifik wird als Konfliktfeld der aufstrebenden imperialistischen Macht China und der seit spätestens dem 2. Weltkrieg dominanten Weltmacht USA zum Hauptschauplatz der Weltentwicklung. Dies bedingt eine ständige geopolitische Unsicherheit, eine stärkere Aufteilung der Welt in Einflusszonen, mit wechselnden Bündnissen, einem neuen Wettrüsten, regionalen (Stellvertreter-)Kriegen, militärischen Provokationen, Handelskriegen und Protektionismus etc. deren Effekte von der herrschenden Klasse nicht kontrollierbar sind. Zum Beispiel: Australiens neue Rechts-Regierung stellte sich im vergangenen Jahr immer offener auf die Seite der USA und provozierte die chinesische Regierung etwa in der Frage einer internationalen Untersuchung des Ursprungs des COVID-Virus in Wuhan. Aus Vergeltung erlies Chinas Regierung im Dezember 2020 ein Importverbot für Australiens Steinkohle, dies verzahnte sich mit vielen anderen Bedingungen und seit Sommer 2021 kommt es zu massiven Stromabschaltungen in China.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist ein Anzeichen der weiteren Schwächung des US-Imperialismus und seiner westlichen Verbündeten, die Lücke füllen dessen schwächere imperialistische Gegenspieler und regionale Mächte (Russland, China, Iran, Pakistan).
Die EU ist auch nach dem Brexit weiter in konkurrierende nationale Bourgeoisien gespalten und unfähig, mehr als eine in sich gespaltene, prekäre Schutz(zoll)gemeinschaft gegen die Großmächte USA und China zu bilden. Europa in seiner Gesamtheit rückt vom weltpolitischen Zentrum an die Peripherie. Das geheim vorbereitete anti-chinesische Pazifische Sicherheitsabkommen zwischen den USA, GB und Australien wurde am 15.9. durch einen brüskierenden Vertragsbruch Australiens gegenüber Frankreich öffentlich. Frankreich verlor dadurch einen Rüstungsauftrag von 56 Mrd. € für eine neue Atom-U-Boot Flotte Australiens, die nun die USA liefert. Dies zeigt die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse weg von Europa deutlich an. Das erste Mal in der republikanischen Geschichte des Landes berief Macron den französischen Botschafter in Washington zurück, eine hilflose Geste die keinerlei Auswirkungen zeigen konnte. Derweil schließen Frankreich und Griechenland ein Bündnis, um die Türkei im Mittelmer einzuschränken. Untermauert wird diese Partnerschaft zweier NATO-Staaten gegen ein drittes Bündnismitglied durch den Ankauf von drei französischen Kriegsschiffen durch Griechenland. In Libyen wiederrum steht Frankreich im Konflikt mit Italien. … Die Welt wird ein Tollhaus.
Durch das Verknoten von unzähligen hergebrachten und neuen Faktoren funktioniert der Markt seit der Krise 2019 nicht mehr wie zuvor, als Konzerne sich im Allgemeinen auf eine berechenbare globale Arbeitsteilung „just in time“ verlassen konnten. Die Probleme werden seither größer denn kleiner. Produktions- und Handelsunterbrechungen durch die Pandemie standen am Anfang der Chaotisierung. Der rasante Wiederanstieg der Wirtschaft traf dann auf leere Lager und unvorbereitete Produzenten. Protektionismus und nationale Sicherheitserwägungen, Geopolitik, Preisspekulation etc. führen zu einem ständigen Ungleichgewicht an den Märkten, was wiederrum erratische staatliche Interventionen verlangt. Alles zusammen provoziert ein unberechenbares Verhalten von Preisen, Warenangebot und Investoren, die sich in einem solchen „Marktumfeld“ mit langfristigen Investitionen stark zurückhalten und noch stärker als bisher ihr Risiko auf den Staat abwälzen. Selten war so deutlich, dass der Kapitalismus versagt und einen rein parasitären Charakter hat, der nur zum Wohle einer verschwinden Minderheit von Superreichen funktioniert. Zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Armen braucht die gesellschaftliche Warenproduktion heute einen gesamtgesellschaftlichen Plan!
Eine besondere Ware ist die Arbeitskraft. Auch hier ist der Markt durcheinander und es herrscht „Knappheit“. Die Arbeitslosigkeit sinkt, in Österreich sind im September 338.000 Arbeitslose gemeldet, so wenige wie zuletzt 09/2019. Die Zahl ist aktuell weiter stark fallend. In den USA ist die Lohnsumme von Juli 2020 auf Juli 2021 um 11% gestiegen, was eine schnelle Wiederbelebung des Arbeitsmarkts anzeigt (mehr Beschäftigte und höhere Löhne, eine Zuordnung in die Einzelfaktoren lässt sich nicht erschließen).
Die Unternehmen schreien stärker denn je „Facharbeitermangel!” und betonen, mehr einstellen zu wollen, aber keine Qualifizierten zu bekommen. Wir fügen hinzu: zu den von den Unternehmen angebotenen Bedingungen finden aktuell zu wenig vollausgebildete, leistungsfähige, leidensfähige, gesunde, motivierte Arbeitskräfte, die sich zu den angebotenen Bedingungen – bis zur nächsten Entlassungswelle – freudig ausbeuten lassen wollen. In (mehrheitlich öffentlich finanzierten) Brachen wie Gesundheit, Pflege, Kinderbetreuung etc. herrschen seit Jahren so ausbeuterische Arbeitsbedingungen, dass ArbeiterInnen diesen Druck nicht bis zur Pensionierung aushalten. Diese „Essential Workers“ wurden während der Pandemie hoch gelobt und es verbessert sich seither an ihren Bedingungen gar nichts. Das Resultat sind nicht-besetzbare Planstellen, ständige Wechsel und eine Abwanderung aus diesen „Zukunftssektoren“. Wissenschaftlich formuliert: die Bourgeoisie verlangt stetig nach einer größeren, besser ausgebildeten und spezialisierten industriellen Reservearmee, ohne fähig zu sein, selbst FacharbeiterInnen auszubilden und Bedingungen so zu gestalten, dass man sein Arbeitsleben einst gesund beendet.
In der Wirtschaftskrise 2008/09 haben wir als eine Bedingung des schnelleren Anspringens der Konjunktur in Österreich im Vergleich zur EU die breite Anwendung der Kurzarbeit analysiert: dies stabilisierte die Stammbelegschaften in den Industriebetrieben und ermöglichte es den Unternehmen, die Produktion bei Nachfrage rasch wieder hochzufahren. In der COVID-Krise war die Arbeitslosigkeit weltweit viel größer und Sektoral breiter. Tourismus und Dienstleistungen waren besonders getroffen. Hier herrscht generell eine schnelle Fluktuation in den Belegschaften und Migration spielt eine wichtige Rolle. Bei Aufhebung des Lockdowns fehlten diese ehemaligen Beschäftigten. Tausende MigrantInnen (Tourismus, Landwirtschaft, Heimpflege) wurden im Frühjahr 2020 auf die Straße gesetzt und viele in ihre Heimatländer geschickt. Der Zusammenbruch des gemeinsamen Binnen-Marktes und die Aufhebung der Freizügigkeit innerhalb der EU verhinderten, dass arbeitswillige Arbeitskräfte zurückkommen. Weltweit versuchen ArbeiterInnen die Zwangspause zu nützen um sich neue Branchen und bessere Arbeitsbedingungen zu suchen, was in bestimmten Bereichen zu Mangel führt.
Am deutlichsten ist dieser Prozess in den USA sichtbar: Im Oktober 2021 nahmen etwa 100.000 Arbeiter in den USA an Streikaktionen teil. Diese Arbeitskämpfe sind der weitestgehende Ausdruck eines allgemeinen Prozesses, der sich vor allem in einer massiven Kündigungswelle ausdrückt, die als „great resignation“ bezeichnet wird: Seit Mai haben etwa 20 Millionen Arbeiter ihre Jobs verlassen, davon 4,4 Millionen allein im September. Der Prozess ist keineswegs auf besonders harte oder schlechte Jobs beschränkt. Eine von der National Association for Business Economics durchgeführte Umfrage unter Arbeitgebern kam zu dem Ergebnis, dass im Zeitraum August-Oktober 2021 bei 58% der Arbeitgeber die Löhne erhöht wurden.
Der STANDARD stellt in einem längeren Artikel dar, dass die österreichische Bourgeoisie sich Sorgen darüber macht, dass der Prozess auch dieses Land erreicht und fragt voller Beklemmung: „Ist Österreichs Arbeitnehmerschaft auch schon infiziert?“ Obwohl die Arbeiterklasse in den USA zu einem entscheidenden Teil von dem Bewusstsein darüber angetrieben wird, dass ihr Leistungen vorenthalten werden, die in anderen Industrieländern als normal gelten (bezahlter Urlaub, Krankenversicherung, Kündigungsschutz, Kollektivverträge etc.), bewegen sich auch die übrigen entwickelten Länder auf die gleiche Situation zu. Laut einer internationalen Umfrage von Microsoft denken über 40% der ArbeiterInnen „in Industrieländern“ ernsthaft darüber nach, in den kommenden Monaten ihre Arbeit hinzuschmeißen.
Seit Beginn dieses Booms erleben wir eine Knappheit von Waren und starke Preisanstiege in einzelnen Warengruppen. Eine Ursache liegt in der gestärkten Bedeutung Chinas für die globale Warenproduktion. COVID-bedingte Hafen- und Produktionssperren und andere pandemiebedingte Verkehrshemmnisse, die kurzzeitige Blockade des Suezkanals und generell fehlende Transportkapazitäten im internationalen Handel führen zu Verzögerungen, Ausfällen und damit zu Stockungen in der Produktionskette. Der Transportpreis eines Containers vom Hafen Shanghai nach Rotterdam hat sich in den vergangenen Monaten auf etwa 14.000 Dollar versiebenfacht. Dabei steckte noch vor wenigen Jahren die Containerschifffahrt in einer tiefen Überproduktionskrise, große Reedereien gingen pleite, Containerschiffe wurden noch 2020 wegen mangelnder Rentabilität verschrottet.
Foto: Kees Torn, wikimedia
In einigen Produktkategorien herrscht eine langfriste Knappheit aufgrund strategischer Lagerbildungen und fehlender Produktionskapazitäten. Die Nachfrage nach Microchips etwa kann nicht mehr befriedigt werden, der Aufbau neuer Produktionsanlagen braucht Zeit und große Investitionen. Große europäische Autokonzerne (auch Magna, BMW, GM Aspern und Steyr) gehen seit Sommer daher wieder in Kurzarbeit, weil einzelne Bauteile fehlen. Fehlt ein Elektronikteil, braucht es auch keinen Motor, kein Getriebe und keinen Reifen. Kleine Störungen im Produktionsprozess ziehen so eine Kettenreaktion nach sich.
Bei anderen Waren gibt/gab es Knappheit und massive Preisanstiege über einen kurzen Zeitraum gefolgt von einem ebenso raschen Fall der Preise (etwa Holz und Holzprodukte). Dies führte im ersten Halbjahr zur Einstellung und Verzögerungen bei Baustellen, die Wieselburger Baumesse im Herbst etwa wurde 2021 ganz abgesagt, weil die Baufirmen wegen Knappheit keine neuen Aufträge annehmen konnten.
Seit ca. einem Jahr, besonders seit Januar 2021 gibt es einen anhaltenden Preisanstieg von Rohstoffen (sowohl Waren der Landwirtschaft also auch des Bergbaus). Die größte Achillesverse des Wirtschaftswachstums und der Stabilität ist aktuell die globale Energieknappheit vor dem Winter auf der Nordhalbkugel des Planeten. Ohne Energieverbrauch kein Leben (Nahrungsumsatz, Bekleidung, Wohnraum), keine Produktion, kein Verkehr, er ist der grundlegende Stoffwechsel des Lebens und jeder Produktionsweise. Die auftretende Energieknappheit wird daher ein wichtiger Faktor der Destabilisierung des Kapitalismus.
Die Ursachen der Knappheit sind vielfältig und nicht eng voneinander abzugrenzen, doch sie alle zeigen an, dass die anarchische Produktionsweise des Kapitalismus selbst zum Hindernis in der Entwicklung wird. Auf einigen Märkten (Spanien, China, Südamerika) manifestierte sich die Energiekrise zuerst am Strommarkt, darauf folgte eine Gasknappheit (weil mehr Gas verbrannt wird, um Strom zu erzeugen) und jetzt dasselbe bei Steinkohle und Erdöl. Die Energiepreise haben sich auf den Märkten seit Jahresbeginn verdoppelt bis verdreifacht, besonders schnell seit Jahresbeginn 2021. Enorm sensibel auf politische Statements und neue Marktgerüchte reagierend, steigen die Preise von der Tendenz her weiter stark an.
Durch klimatische Bedingungen verringerte sich die Stromproduktion bei gleichzeitig steigendem Bedarf. Eine lange (anhaltende) Dürreperiode in Südamerika und China verringert den Wasserstand der großen Flüsse, was die Stromproduktion einschränkt (und die Binnenschiffbarkeit, was den Transport der argentinischen Cash-crops (Soja, Mais) an die Seehäfen behindert). An der Nordsee liefern die großen Windparks wegen Schwachwinds nur 80% der Leistung, und auch die europäische Solarstromproduktion fiel im ersten Halbjahr in etwa gleichem Ausmaß. Gleichzeitig folgte einem kalten europäischen Winter ein heißer Sommer in China.
Da der Gaspreis in China und Südamerika höher ist als in Europa wurden die Gaslieferungen dorthin gelenkt, und die EU kann neben den langfristigen Lieferverträgen (v.a. aus Russland) keine zusätzlichen Lieferungen von Flüssiggas bekommen. Zudem nutzten Produzenten und Häfen in Europa den Konjunktureinbruch im vergangenen Jahr, um gleichzeitig Pipelines (in der Nordsee) und Entladungsvorrichtungen zu warten. Die Lagerbestände der Händler und Großverbraucher blieben weltweit über dem Sommer hinweg auf einen tiefen Stand, die Bourgeoisien in Europa hoffen nun auf einen milden Winter.
Bereits jetzt sind in GB acht Erdgaslieferanten pleite gegangen. In Spanien scheitere die Regierung an einer Regulierung des Strompreises (der sich im Jahresvergleich im Sommer verdreifachte). In Spanien, Italien und Frankreich werden Hilfszahlungen in Milliardenhöhe vorbereitet um soziale Unruhen zu verhindern – falls überhaupt genug Energie vorhanden ist. Ein EU-Energie-Gipfel zur Frage der Energieversorgungssicherheit ist noch für Oktober angesagt.
Aus China werden seit Mitte September großflächige Stromausfälle gemeldet, wichtige Industriezentren im Süden des Landes mussten die Produktion einschränken und Kurzarbeit einsetzen. Der Staat greift vielfach in den Markt ein (Strompreisregulierung, Stromverbrauchregulierung, Kommandowirtschaft zur Sicherstellung des Kohletransports, Anordnung von Betriebsschließungen), um das Stromnetz stabil und die Industrieproduktion am Laufen zu halten. Die Regierung setzt zudem auf eine aggressive Einkaufspolitik von Energieträgern, mit dem deklarierten Ziel, jedes verfügbare Schiff in chinesische Häfen zu bringen.
Ein weiterer Faktor der plötzlich auftretenden Energieknappheit ist die weltweite Dekarbonisierungspolitik, die ohne Plan und nach dem Prinzip des privaten Profits vollzogen wird. Die Nichterneuerung von bestehenden Produktivkräften (Kohleminen, Kraftwerke, in Deutschland auch der Atomkraft…) geht schneller, als die notwenige massenhafte Anwendung und Neuentwicklung neuer Energiegewinnungsmethoden bzw. als es der Ausbau der Übertragungsnetze zulassen. Wichtig ist dabei, dass dies keine Einschränkung der technischen Möglichkeiten bedeutet, sondern den Mechanismen des Kapitalismus geschuldet ist.
Einige Analysten (Alliance Bernstein, zitiert in NZZ, 24.9.) hoffen darauf, dass die Energiepreise sich bald einpendeln werden, andere wie etwa von der Bank SEB (zitiert in Bloomberg, 30.9.) erwarten jedoch das genaue Gegenteil, einen „noch verrückteren Preisanstieg”. Jedenfalls erwarten alle für die kommenden Jahre weiter Engpässe, da die Produktion und der Transport technische Voraussetzungen haben, die nicht unmittelbar hergestellt werden können. Politische Faktoren tragen das ihre zur Instabilität auf den Märkten dabei. Ein Jahrzehnt lang verhinderte die USA, dass Gazprom eine neue Pipeline nach Europa baut, aus geopolitischen Erwägungen und um einen Markt für das eigene Flüssiggas zu öffnen (was die USA nicht hindert, ihren Brennstoff nun lieber in nicht-europäischen Häfen zu entladen), im September konnte das Gazprom-Konsortium die Nord-Stream 2 Pipeline von Russland nach Deutschland fertigstellen. Gegenüber dem geopolitischen Schlachtfeld Ukraine, dem bisher wichtigsten Gastransitland von Russland nach Mitteleuropa, und selbst auch von russischen Energielieferungen abhängig, verlautbart der Kreml zynisch, dass er „nicht für den ukrainischen Staatshaushalt verantwortlich sei”.
Die steigenden Preise machen die Düngemittelproduktion in Europa und China für private Konzerne unrentabel. Alle Produzenten haben daher eine Reduktion oder Einstellung der Produktion verlautbart: BASF (2 Werke in Deutschland und Niederlanden), Yara (Weltmarktführer, -40% in Europa), Achena (Stilllegung in Litauen, Reduktion in NL), Fertibria (75% Marktanteil in Spanien, Stilllegung von zwei Werken), OPZ (Ukraine, Stilllegung von drei Produktionslinien), Borealis (Linz, Frankreich: Produktionsreduktion), SKW Stickstoffwerke Piesteritz (Deutschland, -20%),…
Aus China wird ein ähnlicher Prozess berichtet. CF Industries hat die Stilllegung seiner zwei Werke in GB angekündigt, nachdem sie Staatssubventionen erhalten haben, nehmen sie die Produktion in einem Werk wieder auf. Durch den Ausfall beider Werke hätte es am britischen Markt das Nebenprodukt CO2 nicht mehr gegeben, dadurch wäre die Schlacht- und Lebensmittelindustrie von Produktionsausfällen getroffen gewesen. Kein Hersteller sagt, wie lange die Produktionseinstellungen aufrecht bleiben werden, machen aus dem Entscheidungskriterium Profit fürs eigene Unternehmen kein Geheimnis: „BASF wird die Gaspreisentwicklung kontinuierlich beobachten und die Ammoniakproduktion entsprechend anpassen.“ Der Fall der Düngerproduktion wird jedenfalls zum Fall der Nahrungsmittelproduktion in der kommenden Saison führen. Der steigende Brotpreis war 2011 der Auslöser des arabischen Frühlings.
„Zunächst gilt es festzustellen, dass Energiemärkte international verbunden sind. Und die Lage an diesen Märkten kann sich schnell ändern. Vor wenigen Monaten war man noch der Überzeugung, dass Energieträger wie Erdgas oder Kohle im Überfluss vorhanden seien und dass die Produktionskosten erneuerbarer Energien mit großen Schritten gegen null streben würden. Die Gemengelage zeigt aber vor allem auch, dass es in vielen Energiemärkten keinen oder einen zu geringen systematischen Sicherheitspuffer gibt. Dadurch werden diese anfällig gegenüber Verwerfungen wie einer ungewöhnlichen Wetterlage oder einem überraschenden Nachfrageverhalten. Dazu gehört auch, dass geringere Investitionen in fossile Brennstoffe wie Erdgas derzeit dazu führen, dass es zu erheblichen Preisschwankungen, wenn nicht zu Versorgungsengpässen, kommen kann.” (NZZ)
Was die NZZ hier beschreibt ist nicht mehr und nicht weniger, als ein komplettes Marktversagen. Die Volkswirtschaftslehre lehrt, dass die Preissignale des Marktes eine effiziente Ressourcenverteilung ergeben würden. Dies ist nicht der Fall. Die „unsichtbare Hand des Marktes” ist eine Räuberhöhle, wo jeder Akteur nach eigenem Profitstreben agiert und nur blind gegenüber den allgemeinen Bedürfnissen der Menschen nach leistbarem Essen und Heizung ist. Dies war schon immer so, wie der Welthunger zeigt, nun zeigt sich seine unterdrückende Natur auch der Arbeiterklasse der imperialistischen Länder.
Der allgemeine Niedergang des Kapitalismus ist wie wir sehen nicht einseitig, sondern tritt sehr unterschiedlich mit scharfen Wendungen zu Tage. Letztes Jahr verfassten wir unsere Perspektiven mitten in der kapitalistischen Krise und waren mit Marktkontraktionen, drohender Massenarbeitslosigkeit und Protektionismus konfrontiert. Diese Situation hat sich vorerst in ihr scheinbares Gegenteil verwandelt. Jetzt stehen wir jetzt einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage, einem Mangel an Arbeitskräften und Horten von Ressourcen durch große Konzerne und Nationalstaaten gegenüber. Auch der relative Aufschwung im senilen Kapitalismus ist krankhaft und voller Verwerfungen.
Diese Verwerfungen bedeuten, dass die Inflation sich verfestigen und tendenziell erhöhen wird. Dies ist ein direkter Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse, die gezwungen wird die höheren Lebenserhaltungskosten durch einen Kampf um steigende Löhne zu kompensieren, will sie ihren Lebensstandard erhalten. Der Klassenkonflikt um die Verteilung des Mehrwerts zugunsten der Arbeiterklasse zu drehen, nachdem sie fast ein halbes Jahrhundert einseitig zugunsten des Kapitals gebeugt wurde, wird dadurch verschärft.
Im Perspektivdokument 2019 analysierten wir:
„Die letzte Rezession [2008-9] hat sich weitgehend indirekt, vermittelt über den Zusammenbruch der Finanzwirtschaft, auf das Leben der Menschen ausgewirkt, die normalerweise natürlich nicht über Aktien oder Wertpapiere verfügen, sondern eben ihre Arbeitskraft für Lohn verkaufen. Die neue Rezession greift direkt ihren Job und ihren Lohn an. Sie wird für die Arbeiterklasse sehr viel plötzlicher und härter spürbar werden.“
Diese Analyse bestätigt sich stetig, sie findet dabei immer neue und allgemeinere Ausdrucksformen.
Die Zentralbanken (ZB), zentrale wirtschaftspolitische Akteure seit der Finanzkrise 2008/09, stehen dem realen Prozess der Wirtschaft zunehmend einflusslos gegenüber. Seit einem Jahrzehnt schwemmen die ZB der imperialistischen Nationen die Märkte mit Geld und halten gleichzeitig die Zinsen niedrig (das sogenannte Quantitative Easing). Diese Politik der gewaltigen Ausweitung der Geldmenge hat die jetzige inflationäre Entwicklung vorbereitet. Rein numerisch macht sich dies dadurch bemerkbar, dass die Einlagen der Banken bei der Zentralbank in ungefähr jenem Ausmaß steigen, wie die ZB die Geldmenge erhöht. Das bedeutet, dass Banken sich Geld von der ZB leihen, um es dann sofort wieder in der ZB einzulegen. Durch ein absurdes Zinsregime (Banken bekommen Zinsen gutgeschrieben, wenn sie einen Kredit von der ZB nehmen) entsteht so ein Zinsgewinn für die private Bank. Die Gewinne der Banken werden künstlich erhöht, für sie völlig risikolos. Trotzki bezeichnete das Finanzwesen als Verschwörung gegen die Öffentlichkeit, und Bertolt Brecht stellte die Frage: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Heute sind dies nicht nur abstrakte politische oder literarische Analysen, sondern handfest nachweisbare Tatsachen.
Eine Transformation der aktuellen Krise in neue Finanzkrisen ist in weiterer Folge unvermeidlich. Eine der Möglichkeit wie dies passieren kann besteht darin, dass die enormen Berge an Geldkapital aufgrund der hohen Preise nun tatsächlich in die Warenwirtschaft strömen und dort die Preissteigerung zusätzlich anheizen. Angesichts der steigenden Inflation und des hohen Wachstums haben FED und EZB eine leichte Reduktion der Aufkaufprogramme angekündigt. Die EZB etwa will das COVID-Finanzpapier-Aufkauf-Programm von 90 Mrd. € pro Monat vielleicht gegen Ende des Jahres auf ca. 70 Mrd. € reduzieren, hat aber gleichzeitig verkündet, dass sie diese Reduktion durch Erhöhung anderer Aufkaufprogramme wieder kompensieren könnte. Auch die Leitzinsen bleiben niedrig. Die Zentralbanker hoffen also durch das Geben von „Signalen” an die „Märkte” ihre eigentliche Aufgabe (Preisstabilität) plus politischen Ziele (Stabilität der EURO-Zone) zu erreichen. In Wirklichkeit verdecken sie, dass sie die Kontrolle über den Prozess verloren haben. Die Optionen sind offensichtlich: Die Beibehaltung der Niedrigzinsen bei hoher Inflation bedeutet, dass das sowohl Banken und Einleger Geld verlieren, da Einlagen bei Privatbanken und Staatsschuldenpapiere niedrig oder gar nicht verzinst sind. Eine Erhöhung der Zinsen wiederum bedeutet, dass die Staatschulden, die im vergangenen und laufenden Jahr wieder massiv gestiegen sind, in einigen EURO-Staaten unfinanzierbar werden. Der globale Schuldenstand (Privat, Betriebe, Staaten) liegt jetzt 353 % der globalen Wirtschaftsleistung. Statt nur Griechenland wären diesmal auch Italien, Spanien und andere EU-Volkswirtschaften von Zahlungsschwierigkeiten betroffen. Zur Finanzierung der Defizite und Staatsschulden wären diese Bourgeoisien gezwungen, harte Sparpakete zu machen, also den Klassenkampf politisch anzuheizen. Auch die Existenz der EURO-Zone würde wieder auf dem Spiel stehen.
Die österreichische Bourgeoisie hat zu all diesen Prozessen kaum eine eigene Meinung und keine eigene Politik. In den 1990iger Jahren, nach dem Fall des Stalinismus, konnte sie sich eine eigenständige imperialistische Politik in den Nachbarstaaten durchsetzen. Zuvor hatte das „neutrale” Österreich auch ein gutes Standing in der arabischen Welt und privilegierte Beziehungen zur Sowjetunion, was sich noch bis in die jüngste Zeit durch gute Beziehungen zu Russland weiterstreckte. Eine eigenständige wichtige Rolle spielt Österreichs Imperialismus aktuell aber nur in Nischen am Balkan (v.a. Bosnien). Die wichtigste politische Orientierung von Österreichs Bourgeoisie ist daher der Haupthandelspartner Deutschland, das wichtigste wirtschaftspolitische Ziel ist es, die Produktivität über- und Lohnstückkosten unter dem deutschen Niveau zu halten.
Die Türkisen und die Bourgeoisie
Die Regierung Kurz 2 angelt sich von Krise zu Krise. Trotzdem führt die ÖVP konstant in allen Umfragen vor der zweitplatzierten SPÖ. Die türkise ÖVP hat bisher eine klar einschätzbare Politik. Die wirtschaftlichen Interessen von Bauern und Touristiker wurden selten so verlässlich hart vertreten wie von dieser Regierung, damit hat Kurz das ländliche Kleinbürgertum, das das gesellschaftliche Leben Land dominiert, auf seiner Seite. Verlässlichkeit zeigt seine Regierung auch bei den Themen Entlastung für gutverdienende Familien (Kinderabsetzbonus, eingeführt 2018 und jetzt Erhöhung auf 2000 € Steuerreduktion), wovon auch die besserverdienende Schicht der Arbeiterklasse direkt in der Geldtasche profitiert. Weiters versucht Kurz penibel, Pensionisten durch Pensionssteigerungen an der Stange zu halten, diese Schicht hat eine hohe Wahlbeteiligung. Zentraler Bestandteil seiner Politik ist das permanente Spalten der Arbeiterklasse, v.a. durch eine konstante Kampagne des Rassismus. Die größte Stärke der Regierung ist jedoch die Schwäche der Opposition, die keine Alternative zu dieser Regierung formuliert. Dies gilt nicht nur für die SPÖ, sondern gelingt auch durch die Einbindung der Spitzen der Gewerkschaft in die Verwaltung der Krisen.
Politik ist aber mehr als Umfragen und Beliebtheitswerte. Die ÖVP ist der wichtigste politische Vertreter und Sprachrohr der österreichischen Bourgeoisie – und die österreichische Bourgeoisie ist ein kompliziertes Wesen. Widersprüchliche Interessen im bürgerlichen Lager versucht Kurz auszubalancieren. Dieser Drahtseilakt gelingt jedoch nur, solange er politische Erfolge liefern kann und alle Bourgeois-Fraktionen gut beschenkt. Politische Erfolge wiederum bedeuten, dass er „konservative“ Wertpolitik und Spaltung (Rassismus…) betreiben muss, die mitunter im Widerspruch zur Industrie stehen (Bildungspolitik, Migrationspolitik …). Um diese Punkte zu veranschaulichen:
Durch die Geschichte des 20igsten Jahrhunderts (1918-1938-1945) gibt es viele Unterbrüche und Verwerfungen, „die” bürgerliche Familie (klassisches Beispiel die Agnellis/FIAT in Italien, die die Industriellenvereinigung dominieren, wichtige Zeitungen besitzen und immer wieder direkt in die Parteienlandschaft eingreift) gibt es in Österreich nicht. Am ehesten ist die Raiffeisenbank der bestimmende politische Faktor der Großbourgeoisie, doch diese extrem verschachtelte Struktur ist seit längerem intern selbst gespalten und ihr politischer Einfluss aktuell ein Fall für die Staatsanwaltschaft (Postenschacher rund um Casino AG). Die Meinungsbildung der Großbourgeoisie findet hauptsächlich in privaten Vereinen, wie der Industriellenvereinigung statt. Diese hat offene Ohren im türkisen Kabinett und zeigte sich auch mit der jüngsten „öko-sozialen“ Steuerreform zufrieden. Während Corona wurde die Industrie und Handel sowieso hervorragend bedient, „leicht überfördert” wie es der Arbeiterkammer-Direktor Christoph Klein formuliert: trotz massiven Einbruchs im Jahr 2020 sind die Einkommen der Unternehmen daher um 5,1 Mrd. € gestiegen, die Einkommen der Arbeitnehmer jedoch um 5,5 Mrd. € gefallen, wie die Auswertung erster Statistiken zeigt. (Kurier, 23.9.2021)
Die ÖVP ist in Bünden strukturiert und von starken regionalen Persönlichkeiten, die den regionalen Staatsapparat fest in der Hand haben (Landeshauptleute, Bürgermeister), geprägt. Die türkise Clique an der Spitze der ÖVP kommt jedoch nicht aus den „schweren Regimentern” der ÖVP, sondern aus der Jungen Volkspartei, die noch nie einen derartigen politischen Einfluss wie heute erobern konnte. Die Gruppe um Kurz schaffte ihren Aufstieg zur Macht 2017 putschartig mittels finanzieller Unterstützung von Neureichen (Novomatic, Societyladies, Stefan Pierer, …). Die Zeit dafür war reif, weil die ewige Blockade großer Konterreformen durch die Einbindung der Gewerkschaften in die Regierungsgeschäfte vom Kapital nicht länger akzeptiert wurde. Die sozialpartnerschaftliche Orientierung der „schwarzen“ ÖVP sollte zurückgedrängt werden. Kurz lieferte: der 12-h Tag, die Zerschlagung der Gesundheitskassen (die bis dahin von den Gewerkschaften kontrolliert war) wurden rasch durchgezogen. Bei der Steuerreform 2020 wurden die Interessen des Großkapitals gut erfüllt.
Als dritter großer Angriff seiner Regentschaft wird eine Arbeitsmarktreform vorbereitet, die im Frühjahr 2022 durchgesetzt werden soll, deren zentraler Kern die Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose ist, Arbeit zu allen Bedingungen anzunehmen. Es ist dies ein Angriff auf die schwächsten Sektoren der Arbeiterklasse, der den wirtschaftlichen- und spezieller den Lohndruck auf die Arbeiterklasse im Allgemeinen erhöhen soll. Taub stellt sich Kurz bisher gegenüber dem Wunsch des Kapitals, eine neue Pensionskonterreform anzugehen, da er hier eine breite gesellschaftliche Ablehnung befürchtet (zwei Generalstreiks 2003 bei der letzten brutalen Reform der Regierung Schüssel I), es wird jedoch zu beobachten sein, ob Elemente eines solchen Angriffs im Arbeitsmarktpaket inkludiert sein werden. Angesichts dessen, dass im kommenden Jahrzehnt eine große Alterskohorte ans Pensionsalter herankommt, könnte die Großbourgeoisie hier den politischen Druck auf Kurz verstärken. Auch seine rassistische Politik der Spaltung und der Unterbindung von Migration könnte Kurz in Konflikt in Perspektive mit den Industriellen bringen, da die Wirtschaft auch billige, ausländische Arbeitskräfte braucht. Weitere Konfliktfelder von Kurz mit der Großbourgeoisie sind das konservative, hochselektive Bildungssystem und der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen. Beides ist von den Konservativen politisch gewollt, aber ein Hemmnis für die Erhöhung der industriellen Reservearmee.
Die fehlende Hausmacht der Kurz-Clique innerhalb der ÖVP bedeutet, dass diese Leute liefern müssen, um politisch zu überleben. Dies bedeutet Wahlen gewinnen, und die Widersprüche des eigenen politischen Projektes auszubalancieren. In der ÖVP gelingt dies bisher gut. Doch Stabilität bedeutet dies nicht. Dies zeigte sich am Parteitag der ÖVP. profil beschreibt die Szenerie:
„Der 39. ordentliche Bundesparteitag der ÖVP in St. Pölten (Motto: ‚Mit neuer Kraft‘) begann als Kirtag und endete als Zeltfest. Zu Beginn riss Moderator Peter L. Eppinger in der Veranstaltungshalle ein paar Witze, wozu er als Kultursprecher der Wiener Landespartei auch zweifellos qualifiziert ist. Nach der Stimmabgabe begaben sich die Delegierten geschlossen ins benachbarte Großzelt zu Würstel und Bier. Praktischerweise wurde das Wahlergebnis auch dort verkündet. Sebastian Kurz erreichte 99,4 Prozent der Stimmen.” (profil, 28.8.2021).
Tatsächlich dauerte der Parteitag nur drei Stunden, beinhaltete hauptsächlich wechselseitige Lobsagungen, ging ohne Debatte vonstatten, hatte nur einen Leitantrag ohne jegliche Anträge. Dies ist ein Zeichen der Schwäche der wichtigsten bürgerlichen Partei, die keine offene Debatte über ihre Regierungspolitik führen kann, sondern sich gegenseitig beschwören, ihre jeweiligen Interessen zu berücksichtigen und gemeinsam an der Macht zu bleiben.
Das letzte Mal als eine solche Eintracht unter den Organisationen geherrscht hat, war zu Beginn der Bürgerblockregierung Schüssel 1. Damals war die ÖVP vom dritten Platz aus ins Kanzleramt gelangt. Alle mussten stramm stehen um sich ihre Pfründe zu sichern. In beiden Fällen zeigt der Kadavergehorsam der Bürgerlichen deren eigene Schwäche an. Gleichzeitig waren beides Perioden (erfolgreicher) harter Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, was auch für die Stärke der Bürgerlichen spricht. Doch zeigt der Vergleich beider Perioden auch, die große Stärke der Bürgerlichen ist eigentlich das krampfhafte Verteidigen des bürgerlichen Systems durch die Führung der Arbeiterbewegung. Selbst die Mobilisierung der frühen 2000er wurde von dieser nicht als Gelegenheit zum Gegenangriff genutzt.
Umso mehr aussagen müssen türkise Politiker vor dem Staatsanwalt. Der Umstand, dass diese Verfahren überhaupt stattfinden und die türkise Parteispitze sichtbar unter Druck setzen, zeigt die Schwäche von Kurz an. Aber es zeigt auch seine persönliche Stärke auf. Eiskalt und in heiklen Momenten scheinbar völlig schmerzbefreit stellen er und seine Getreuen sich dem Druck der Öffentlichkeit, bereit ihr politisches Projekt mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Das ändert zwar nichts am objektiven Druck, unter dem die Regierung steht. Aber die Rolle der Persönlichkeit dafür, wie die Krise der Regierung sich konkret ausformt, kann hier nicht hoch genug geschätzt werden.
„Es wäre sehr lehrreich, einen Film des modernen Parlamentarismus auch nur eines Jahres zu drehen: nur dürfte man den Aufnahmeapparat nicht neben den Sessel des Präsidenten des Parlaments, im Moment der Annahme einer patriotischen Resolution, placieren, sondern an ganz anderen Orten: in den Büros der Bankiers und der Industriellen, in den versteckten Redaktionswinkeln, bei den Kirchenfürsten, in den Salons politischer Damen, in den Ministerien, – und dabei das Auge der Kamera auch in die Geheimkorrespondenz der Parteiführer hineinblicken lassen.“ (Leo Trotzki, Mein Leben, 1929)
Einzigartig ist nicht der Umstand, dass Bürgerliche sich Gesetze erkaufen, sich untereinander Posten und Geld zuschieben und gemeinsam das Leben genießen, dies ist normale Politik im Kapitalismus. Der Parteigrande der ÖVP, Andreas Kohl, kommentierte die Probleme von Kurz, Blümel und Co in einem ORF Interview süffisant damit, dass die jungen Leute eben noch lernen müssen, dass man gewisse Dinge nicht am Telefon akkordiert. Bemerkenswert ist also vielmehr der Umstand, dass diese Geschäfte öffentlich diskutiert werden, dass bürgerliche Kleinparteien wie NEOS und sogar die Grünen, die eigentlich völlig dieser Regierung ergeben sind, den Ermittlungen Vorschub leisten und ständig neue Dokumente an die Öffentlichkeit kommen.
Der Staatsapparat ist ein Ausschuss, „der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest). Er ist „durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch von verknöcherten Gewohnheiten und Konservatismus durchsetzt“ (Lenin, Staat und Revolution). Die führenden ExponentInnen des Staatsapparats (Generäle, Generalsekretäre, Verfassungsrichter, Oberstaatsanwälte, …) sind selbst ein wichtiger Teil der herrschenden Klasse. Hinter der intensiven Arbeit der Staatsanwaltschaft und der Veröffentlichungen stecken unterschiedliche Perspektiven, Interessen und Machtkonflikte innerhalb des Apparates selbst. In der Corona-Krise haben sich Konflikte manifestiert, indem unterschiedliche Ämter ständig gegeneinander anstatt miteinander arbeiten. Das wurde in der Öffentlichkeit z.B. daran ersichtlich, dass während der Corona-Pandemie nicht geschafft wurde, bundesweit einheitliche Datensätze zu gleichen Themen (Krankenhausbett-Belegung, Impfkampagne…) zu produzieren. Ein zugespitzter Machtkampf, der sowohl das Innenministerium als auch die Justiz in Fraktionen spaltete war der „BVT-Skandal“.
Der seit Jahren schwelende Konflikt in der Staatsanwaltschaft steht momentan bei einem Punktesieg für die Fraktion, die sich eine Alternative zu Kurz offenhalten will und gegen die selbstherrliche Allmacht des türkisen-Netzwerks aufsteht. Durch die Abberufung von Christian Pilnacek im Justizministerium ist der wichtigste Verteidiger, der über ein Jahrzehnt jede erfolgreiche Justizverfolgung von ÖVPlern „derschlagen hat”, abhandengekommen. Die Grünen haben die Entmachtung und dann Entfernung der ministerialen grauen Eminenz Pilnacek nur unter der Voraussetzung der Unterstützung von Teilen der Bourgeoisie durchgezogen.
Die aktuelle Ermittlung gegen Sebastian Kurz beinhaltet die Vermutung, dass er der Profiteur und Inspirator eines Amtsmissbrauches ist. Dies ist es was die Bourgeoisie im Kern stört, nicht der Umstand, dass er damit Kanzler wurde, sich einen Medienkonzern kaufte, die öffentliche Meinung manipulierte und all die Dinge die damit zusammenhängen. Er hat die Regeln der Machtausübung seiner eigenen Klasse gebrochen, das ist das Problem. Er hat außerdem durch seine Herrschaftsmethode das Vertrauen der Massen in die Institutionen erschüttert.
Kurz muss sich dadurch sehr unsicher fühlen, da der Staatsapparat und damit die Bourgeoisie mit ihren Medien etc., es in der Hand hat, ständig in seine Amtsausübung einzugreifen. (Anmerkung: die medialen Nachrufe haben mittlerweile begonnen) Das aktuellste (aber nicht das einzige) Beispiel für die politisch stabilisierende und ausgleichende Rolle der Justiz ist Brasilien, wo Lula zuerst im Wahlkampf wegen Korruption inhaftiert wurde, und jetzt wieder entlassen wurde, um im Sinne eines Flügels der Bourgeoise dem bunten Treiben Bolsonaros durch eine erneute Kandidatur Einhalt zu gebieten. Soweit, dass der Staatsapparat direkt in die politische Arena eingreift, ist die gesellschaftliche Polarisierung und Spaltung im Staatsapparat in Österreich noch nicht. Aber immerhin sollen die Probleme von Kurz bei der Staatsanwaltschaft ein wichtiger Hebel zur Beschleunigung der „öko-sozialen“ Steuerreform und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung gewesen sein, wie das Organ der liberalen Bourgeoisie, Der Standard, in einem „Hintergrundartikel” behauptet.
SPÖ: allzeit bereit!
Die SPÖ ist eine Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung. Sie ist der Reservereifen der herrschenden Ordnung und spielt eine stabilisierende Rolle für die bürgerliche Klassenherrschaft, egal ob an der Regierung oder in der Opposition. Wäre dieser Zustand nicht garantiert, wenn etwa die Arbeiterklassebasis der Partei einen politischen Ausdruck fände, z.B. einen Jeremy Corbyn, organisierten die Bürgerlichen an der Spitze der Partei einen Bürgerkrieg gegen die eigene Partei und sabotierten selbst einen möglichen Wahlsieg.
Für die Bürgerlichen bereitstehen, heißt nicht für Sebastian Kurz bereitstehen. Abgesehen davon wäre eine Kehrtwende zur Sozialdemokratie für Kurz das Ende seines Projekts, das wie oben beschrieben in der Zurückdränung der „lästigen“ Gewerkschaften besteht, und ist daher von ihm nicht gewollt. Die politische Rolle, die der Sozialdemokratie von Strategen der Bourgeoisie zugedacht ist, ist vielmehr ein liberales „progressives Projekt” anzuführen, also eine Alternative sowohl zu Mitte-Rechts als auch zur Klassenzusammenarbeit einer „Großen Koalition”. Dieses Modell wird aktuell in Deutschland flott gemacht, und schon wird in den bürgerlichen Medien europaweit von einem „sozialdemokratischen Revival” (bei einem 25%-Wahlergebnis bei den deutschen Bundestagswahlen!) gesprochen. Für Österreich bedeutet dies: SPÖ-Grüne-Neos sind eine mögliche Alternative zu einer Kurz geführten Regierung und wird jedenfalls von der Spitze der SPÖ angestrebt.
„Die österreichische Sozialdemokratie ist tief in der Arbeiterklasse verankert. Sie kontrolliert die Gewerkschaften mit ihren 1,2 Mio. Mitgliedern und kann sich auf das Betriebsrätewesen stützen. Sie zählt viele Teilorganisationen, die spezifische soziale Bedürfnisse organisieren und artikulieren: Kinderfreunde, Volkshilfe, Mieterschutzorganisationen, Naturfreunde, Sportvereine… Sie kontrolliert mit der Arbeiterkammer ein Teil des Staatsapparates, der alle Lohnabhängigen erfasst. Kurz: eine Revolution in Österreich ist nicht vorstellbar ohne einen massenhaften Bruch in dieser Tradition.“ (Perspektivpapier 2019)
Dies ist richtig, beantwortet aber nicht welche Formen der Klassenkampf konkret annehmen wird und wohin sich die Avantgarde der Arbeiterbewegung und Jugend politisch hin orientiert. Konkrete Ereignisse, Persönlichkeiten, Zufälle etc. sind hier entscheidend.
Die Wahlgänge in Graz und Oberösterreich zeigen, dass eine Sozialdemokratie in Opposition nicht „automatisch” gestärkt aus einer Wahl hervorgeht, und weiter, dass das SPÖ-Milieu nicht auf immer das Beste ist, um mit den besten Teilen der Arbeiterklasse ins Gespräch zu kommen:
Bei den Wahlen in Oberösterreich ist die Wahlbeteiligung um 5,3% auf 76% gesunken und selbst die ungültigen Stimmen liegen bei 3,3%. Deutlich unter dem Landesdurchschnitt lagen die großen von der Arbeiterklasse dominierten Ballungsräume, wo nirgends eine Wahlbeteiligung von über 70% erreicht (Linz: 64%) wurde. Die Landeshauptmannpartei (ÖVP) hielt ihren Stimmanteil durch ihre soziale Verankerung am Land. Die Wählerlandschaft franste nach rechts aus, die neue Anti-Covidmaßnahmen Formation MFG (MenschenFreiheitGerechtigkeit) erreichte einen Stimmanteil von 6,2% und 50.000 Stimmen, der mit Abstand größte Zuwachs.
Die SPÖ setzte auf soziale Themen und auf die gewerkschaftliche Mobilisierungsfähigkeit in Großbetrieben. Am MAN-Standort Steyr konnte die Partei ihren Stimmanteil um 2,9% auf 32,5% steigern. In Linz gelang ein Plus von 1,7% auf 26%. In absoluten Zahlen bedeutet dies selbst in den „Hochburgen“ trotzdem ein Minus, rechnerisch konnte kein FPÖ Wähler der Arbeiterklasse zurückgewonnen werden. Im Vergleich zu 2015 verlor die SPÖ weitere 10.000 WählerInnen.
Selbst an Standorten wo durch Betriebsräte und hohe gewerkschaftliche Organisierung eine starke kollektiv abgesicherte Sicherheit erkämpft wurde, ist das Kreuz bei der SPÖ keine klare Sache mehr. Auf die weiten Teile der Arbeiterklasse, Teilzeitbeschäftigte, Arbeitslose und Karenzierte, Angestellte und ArbeiterInnen in kleinen und unorganisierten Betrieben, Büros und Läden etc. übt die Sozialdemokratie keine besondere Strahlkraft mehr aus. Es ist nicht klar, für was sie steht und v.a. leidet sie an mangelnder Glaubwürdigkeit – egal welche „Themen sie setzt“. Die SPÖ als Partei der Arbeiterklasse ist für die ArbeiterInnen nicht greifbar nützlich.
An der Spitze der Partei steht eine Bürokratie, die in sich zwar gespalten, aber sich darin einig ist, keine offene Debatte in der Partei zuzulassen oder durchzuführen. Der Parteitag vom Juni 2021, der seine Beschlussunfähigkeit wegen Delegiertenmangels feststellte, ist ein Sinnbild dafür. Der Sieg von Ludwig in Wien in einer Kampfabstimmung am Parteitag im Jänner 2018 ging mit einer kalten Säuberung der Funktionäre und des Apparates einher, es herrscht seither ein sehr beengendes Klima in der Wiener Partei, dessen Apparat die wichtigste Stütze der Vorsitzenden Rendi Wagner ist. Die Parteirebellion nach der Wahlniederlage vom Herbst 2019 versandete im Nichts. Die „Parteilinke“ orientiert sich an der liberalen Rendi Wagner (Andi Babler, Julia Herr, SJ-Führung), der Lederhosenrebell Max Lercher an Doskozil. Der Hauptkonflikt zwischen diesen Flügeln besteht in der Essenz in der Wahl des „richtigen Narrativs” und der richtigen Zielgruppe („urbane Bobos“ vs. „normale Leute“), um bei den kommenden Wahlen nicht nochmals unter die Räder, sondern in die Position an der Regierung anführen zu können. Klasseninhalt ist hier keiner vorhanden.
In der Essenz sind sozialdemokratische PolitikerInnen heute die formvollendete politische Widerspiegelung konservativen Bewusstseins. Sie können nicht von der Idee der Rückkehr stabiler Verhältnisse im Kapitalismus ablassen und fliehen sich so in politische Wahnvorstellungen (New Monetary Theory, Green New Deal, „progressives Projekt”, usw. usf.), die im Kern aus der Hoffnung bestehen nicht kämpfen zu müssen, weil der Kapitalismus durch „vernünftige Politik” nach Corona und durch Umweltschutz zu einem besseren System werden könne, wenn dem Reformismus eine Regierungsbeteiligung gelingt.
Für die MarxistInnen ist es wichtig, der Sozialdemokratie vom Standpunkt der Arbeiterklasse zu begegnen und einfach sagen, was ist: Die Arbeiterklasse braucht eine eigenständige Partei, frei von Klassenkollaboration mit den Bürgerlichen, um in Klassenauseinandersetzungen von einem eigenständigen Klassenstandpunkt weg zu starten. Die Funktionäre einer Arbeiterpartei dürfen nicht mehr als ein Facharbeiterlohn verdienen. Die Krise der Sozialdemokratie lässt einen breiten Raum nach links.
Die SJ-Führung äußert sich zu kaum einem gesellschaftlichen Konflikt, insbesondere wo es Druck der SPÖ gibt und die (finanzielle) Abhängigkeit zur Mutterpartei schlagend wird. So wurde in Wien kommentarlos die Absage des Fackelzugs und des Maiaufmarschs von Seiten der SPÖ akzeptiert. Auftretende Widersprüche (etwa die Staatsfrage im Zuge von BLM, und die fehlende Positionierung zum Lobautunnel) ließ die Führung in der vergangenen Periode ins Leere laufen.
Die Sozialdemokratie ist gesellschaftliche Kampfarena. Die Zurückgewinnung der Partei (oder Teilen von ihr) durch die Arbeiterklasse bedingt große gesellschaftliche Prozesse und Ereignisse. Ein Versuch, reale Ereignisse zu substituieren, oder auch nur abzuwarten, würde den revolutionären Marxismus politisch beschädigen.
„Kommunistische” Wiedergeburt
Der Grazer Wahlsieg ist eine heftige Warnung an die Bourgeoisie. Erstmals ist eine Partei, die nicht unter der Kontrolle der Bourgeoisie steht, in der Zweiten Republik stärkste Partei geworden. Dieser Umstand kann von MarxistInnen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Wahl der KPÖ bestätigt unsere Perspektive der Instabilität. Der Maulwurf der Geschichte gräbt, und ist unterm Grazer Uhrturm durch die Erddecke gestoßen. Die KPÖ Graz selbst strebte den Wahlsieg nicht an, hat keinen Plan, was jetzt zu tun ist und wird sich politisch unvorbereitet an die Arbeit machen müssen.
Dieser Wahlsieg ist nicht aber nur ein regionales Ereignis, sondern hat eine größere Bedeutung bekommen. Einerseits ist das erste Mal seit Generationen eine bundesweite Debatte über den Kommunismus entstanden, und zweitens erscheint die Frage einer Wahlkandidatur links von der SPÖ in einem völlig neuen, nämlich erfolgsversprechenden Licht. Dies ist keine sekundäre Frage, denn die Mehrheit der Menschen wählt „taktisch”, um eine Konstellation zu ermöglichen, vor allem auch um etwas zu verhindern oder abzuwählen. Das Argument der „verlorenen Stimme” links von der SPÖ ist gestorben, sofern die KPÖ eine sinnvolle Bundeskandidatur zusammenbringt (wofür ihre subjektiven Voraussetzungen besser als jemals zuvor in den letzten 20 Jahren sind).
Das Potential für eine solche Entwicklung haben wir bereits letztes Jahr analysiert:
„Der Zustand der Sozialdemokratie führt zu einem Vakuum, das bei Wahlen durch alternative Parteien und Projekte gefüllt werden kann.” (ÖP 2020) Dies analysierten wir nach dem relativen Wahlerfolg von Links bei den Wiener Bezirkswahlen 2020. Mit dem Wahlsieg der KPÖ in Graz stellt sich diese Frage in einer neuen Form. Dies begreift selbst Max Lercher, der als „SPÖ-Parteirebell“ titulierte Karrierist, ohne dieser Perspektive irgendetwas Relevantes entgegen zu setzen zu können: „Der KPÖ Erfolg in Graz zeigt, wie viel Potential glaubwürdige soziale Politik hat. Es ist aber auch eine Warnung, dass sich auch bundesweit eine weitere linke Kraft etablieren könnte, wenn die SPÖ nicht liefert.”
ÖSTERREICH hat die erste nach-Graz Wahlumfrage gemacht (n=1000, Schwankungsbreite: 3,2%) und dabei folgende Ergebnisse bekommen. 4% würden eine KPÖ Liste wählen, für 42% wäre eine KPÖ-Kandidatur unter Elke Kahr wählbar, 70% sagen, alle Politiker sollen ihr Gehalt spenden (6% finden dies falsch, weil Politiker ihr Geld wert sind). 56% finden einen Rücktritt von Rendi Wagner nach der Graz-Wahl angebracht (aber nur 26% der SPÖ-UnterstützerInnen). Das erstaunlichste ist jedoch, dass die Frage „Braucht es jetzt eine Alternative zur SPÖ?” von 75% mit ja beantwortet wird.
AktivistInnen müssen klar verständliche politische Bruchlinien zur SPÖ-Führung aufzeigen.
Für sich genommen ist die Etablierung eines Linksreformismus, ob er organisatorisch von der Sozialdemokratie getrennt ist oder nicht, keine Lösung wie historische und internationale Beispiele, allen voran der Verrat der SYRIZA und der Corbynisten zeigen. Jeder Reformismus ist mit dem Verrat schwanger, der Linke Reformismus ist dabei überzeugender, weil hierzulange noch ungetestet. Auf diese Herausforderungen werden sich die MarxistInnen methodisch und programmatisch vorbereiten.
Gewerkschaften
„Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr. (…) (L.Trotzki, Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs.) „Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie‘, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommissare der Kapitalistenklasse (labor lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ‚Versailler‘ gegen die ‚Kommunarden‘.“ (Lenin, Imperialismus)
In der aktuellen Krise ist es keinem Teil der Arbeiterklasse gelungen, diese Isolierschicht zu durchbrechen. Angeboten hätten sich die Konflikte um Massenentlassungen und Betriebsschließungen.
Exemplarisch die Entwicklung des Arbeitskampfes in der Fahrzeugfabrik MAN/Steyr Automotive:
Der Betriebsrat im MAN-Werk Steyr organisierte im April eine Abstimmung unter der Belegschaft, wobei zwei Drittel gegen das erpresserische Übernahmeangebot des Investors Siegfried Wolf stimmten, mit dem großflächige Entlassungen und Lohneinbußen einhergegangen wären. Durchgehend war die Ablehnung unter ArbeiterInnen und Leiharbeitern, während die Mehrheit der Angestellten für die Übernahme stimmte.
Der Vorsitzende des Arbeiterbetriebsrat trat daraufhin zurück und wurde von einem neuen abgelöst. Dieser führte die Verhandlungen mit dem Investor weiter. Das Kräfteverhältnis kippte dabei unmittelbar auf die Seite der Eigentümer. Der alte Betriebsrat wurde vom Betrieb ausgesperrt, die Leiharbeiter wurden sofort entlassen.
Am 1. Mai herrschte eine tagelange Verwirrung, ob eine Mobilisierung stattfindet oder nicht, schlussendlich wurde mit herbeigeführten Voest-Betriebsräten eine Show unter Ausschluss der lokalen Belegschaft veranstaltet. Die gesamte Kraft des „Neins!” zur Erpressung wurde von oben desorganisiert. Auf dieser Basis konnte Wolf das Werk übernehmen, ca. 400 ArbeiterInnen nahmen den „goldenen Handshake” an, die anderen unterschrieben einen 15%igen Lohnverzicht. Wolf, der sowohl in geschäftlichen Kontakt mit dem ehemaligen Eigentümer VW steht, als auch ein früher Unterstützer Sebastian Kurz‘ ist, konnte die Pläne des Kapitals eins zu eins umsetzen.
Im Gesundheitssektor sind 5 Gewerkschaften aktiv, die wichtigsten sind: younion (Gemeindespitäler in Wien und OÖ), GÖD (Universitätskliniken & Landeskliniken) und vida (Ordens- und Privatspitäler). Die Spitzen der Gewerkschaften, plus AK, plus eine Abteilung der Ärztekammer schlossen sich zur sogenannten „Offensive Gesundheit” zusammen. Diese Initiative stellt wichtige Forderungen auf, vertritt sie jedoch exklusiv in Gesprächen mit dem Gesundheitsministerium, unter den Belegschaften ist die Initiative kaum bekannt.
Obwohl der Sektor in der Pandemie von einer massiven Sympathiewelle in der Gesellschaft getragen wurde, konnten die Gewerkschaften keine Verbesserung im Sektor erzielen. In der younion wurde die gewerkschaftliche Vertretungsarbeit über Monate defacto eingestellt. Die Kampagne, durch „Gefährdungsanzeigen” über gesetzliche Regelungen Reaktionen der Spitalleitungen auf unhaltbare Zustände zu erzwingen, wurde mit Auftreten der Pandemie sofort eingestellt und von der Mehrheitsfraktion bereits davor nur schwach betrieben. Dann wurden über Monate in vielen Spitälern keine Personalvertretungssitzungen einberufen (erstmals wieder im Juni 2021), als ob es nichts zu besprechen gegeben hätte!
Wie unsicher sich die Gewerkschaftsspitze fühlt zeigte sich am Internationalen Tag der Pflege (17.Mai). AktivistInnen von „Der Funke” und die oppositionelle Personalvertretungs-Liste nützten diesen Tag für Aktionen vor drei Spitälern (Wien, Vlbg), was über Wochen in offenen (online)Debatten („Kämpferisches Krankenhaus“) vorbereitet wurde. Wenige Tage vor dem Ereignis reagierte die younion-Führung auf diese kleine improvisierte Initiative, lancierte eine online-Fotoaktion und argumentierte, dass mehr angesichts der Ansteckungsgefahr nicht möglich sei.
Die Perspektive der Gewerkschaften war die Organisierung einer Großdemo für Frühsommer 2021. Geworden ist es schlussendlich eine kleine Demonstration, die eher eine Fotoaktion für den SP-Parlamentsklub war. Mit einer Vorankündigung von etwa 48 Stunden wurden einige Dutzend Gewerkschafter zusammengezogen um den „Corona-Bonus” (der auf der Tagesordnung des Parlamentes stand) zu fordern.
Der Mehrjahresabschluss des SWÖ-Kollektivvertrags hat die klassenkämpferische Dynamik im Sozialsektor zurückgeworfen, die Gewerkschaftslinke isoliert und hat damit das Ziel der Arbeitgeber und Gewerkschaftsbürokratie erreicht. Die MarxistInnen haben nach dem erfolgreichen Aufruf, selbstorganisierte Urabstimmungen über den KV-Abschluss in den Betrieben zu machen (siehe Perspektiven 2020) keinen Ansatzpunkt gefunden, ihre politische Arbeit hier weiter zu verfolgen. Selma Schacht von der Komintern war Delegierte zum GPA-Gewerkschaftstag (Konferenz) im September 2021, wo sie für die statutarische Verankerung der Urabstimmung argumentierte und in der Minderheit blieb. Im Gegenteil wurden die Statuten der GPA weiter zugunsten des Apparates verändert. Interessantes Detail: mehr als ein Drittel der Delegierten ist erst gar nicht zum Gewerkschaftstag erschienen. Wie auch die SPÖ hat auch die Arbeiteraristokratie in den Gewerkschaften keinen Anlass, sich über die weiteren Schritte der Bewegung auszutauschen.
Die kommenden KV-Runden sehen die Gewerkschaftsspitzen nur als Möglichkeit, wieder näher an ihre soziale Basis heranzukommen, neue Mitglieder und damit neue Mitgliedsbeiträge zu generieren und sich gegenüber den Unternehmern zu stabilisieren. Die Forderungen, die der Leitsektor der Metaller mit 4,5% vorgegeben hat, entsprechen volkswirtschaftlichen Erwägungen, den Bedürfnissen der ArbeiterInnen oder Erwägungen von Mobilisierungen und Klassenkampf. Angesichts der fallenden Arbeitslosigkeit wurden dieser Logik entsprechend auch die Forderungen von Arbeitszeitverkürzung heuer nicht erhoben. Angesichts der steigenden Inflation wird die Lohnauseinandersetzung jedoch über dieses Jahr hinaus zu einem zentralen Konfliktfeld werden und die stabilen Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital erschüttern.
Die Aufgaben der MarxistInnen am Arbeitsplatz sind: Klare politische Meinungen formulieren und die Zeitung nicht verstecken. Die Stimme erheben und die Praxis und Beschlusslage der Gremien (Betriebsrat, Personalvertretung, Betriebsversammlung) durch Anträge und der Beharrung auf Abstimmungen verändern. Wir müssen geduldig sein, nicht-politische Arbeiterinnen gehen in die Arbeit um Geld zu verdienen, nicht um zu streiken. Was hier wie auch überall gilt: politisch Interessierte finden, ansprechen und auf Basis eines revolutionären Programms überzeugen. Wenn die Stimmung kippt, geht dies sehr schnell und wird von uns erfasst werden. Haben wir in der Vorperiode ein Standing und Vertrauen (nicht notwendigerweise eine Übereinstimmung!) mit KollegInnen aufgebaut, werden wir von einem kleinen zu einem großen Faktor.
Bewusstsein – Bewegungen – Marxismus
Die menschlichen Konzepte, Vorstellungen und Ideen basieren auf unseren (kollektiven) Erfahrungen, die verallgemeinert werden. Allein schon deshalb haben sie ein konservatives Element: sie erfassen Dinge in ihrem (temporären, relativen) Gleichgewicht, in jenen Momenten, in denen sie scheinbar erstarrt sind und wir sie deshalb betrachten und analysieren können.
Doch gerade deshalb gerät unser Bewusstsein in Widerspruch zu der sich verändernden Realität: die fixen, starren Konzepte stimmen nicht mit der Welt überein, insbesondere dann, wenn die Widersprüche der realen Welt sich zuspitzen. Das legt die Basis für die qualitativen Sprünge im menschlichen Bewusstsein und Denken. Wenn die Hammerschläge der praktischen Erfahrungen auf das Bewusstsein niederprasseln, werden alte Konzepte und Vorstellungen hinterfragt, ihre unbrauchbaren Elemente über Bord geworfen und ein höhere, d.h. tiefergehende Stufe der Erkenntnis findet Eingang in das Massenbewusstsein – gerade das kennzeichnet revolutionäre Situationen: das bewusste Eingreifen der Massen in die Geschichte. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen geradlinigen Prozess.
Es gibt Phasen der Stagnation oder sogar des Rückschritts, etwa wenn der Klassenkampf Niederlagen erfährt oder blockiert wird. Das Bewusstsein ist, trotz seiner scheinbar zufälligen und unberechenbaren Ausdrücke, immer noch den Gesetzen der Geschichte unterworfen. Trotzki beschrieb diesen Prozess des Massenbewusstseins eindrücklich:
„Unmittelbare Ursachen der Revolutionsereignisse sind Veränderungen im Bewußtsein der kämpfenden Klassen. Die materiellen Beziehungen der Gesellschaft bestimmen nur das Flußbett dieser Prozesse. Ihrer Natur nach besitzen die Veränderungen des Kollektivbewußtseins einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches Gleichgewicht herstellen. Der Gang der Revolution entblößt an jeder neuen Etappe das Machtproblem, um es sogleich wieder zu verschleiern – bis zu einer neuen Entblößung.“ (Geschichte der Russischen Revolution)
Die Financial Times hat eine große Jugendstudie gemacht und fasst die Ergebnisse so zusammen:
„Die harten Erfahrungen, die Menschen Anfang 20 in den letzten zwei Jahren gemacht haben, werden ihre Ansichten wahrscheinlich radikalisieren – möglicherweise auf dramatische Weise, sagen Politologen. Nehmen wir zum Beispiel ihren Blick auf die Politik. Immer mehr jüngere Menschen sind mit der Demokratie unzufrieden, aber das bedeutet nicht, dass sie der Politik gleichgültig gegenüberstehen. Tatsächlich glauben einige Experten, dass eine durch die Pandemie mobilisierte Generation sich stärker engagieren wird, sich aktiver mit den sie beschäftigenden Themen befasst und sich bewusst ist, dass Politiker zur Rechenschaft gezogen werden. (…) Ihre Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment resultiert aus dem Gefühl, verlassen und nicht von den Machthabern repräsentiert zu werden, was zu einem höheren Maß an Angst und düsteren Aussichten auf einen unsicheren Arbeitsmarkt führt.“ (Financial Times, instagram 26.8.2021) 80% der Jugendlichen (18-34 Jahre) in Spanien, den USA und GB und 60% der Jugend in Südafrika, Brasilien, Indien, Frankreich, Kanada, Italien, Mexiko und Russland stimmen dieser Aussage zu: „Ich habe das Gefühl, dass die Dinge in meinem Land außer Kontrolle sind.“
Eine Studie der IEA (International Economic Association) in GB kommt zu diesem Ergebnis:
„70 % der jungen Menschen in Großbritannien machten die Klimakrise und den Rassismus ausdrücklich dem Kapitalismus verantwortlich, fast 80 % machten den Kapitalismus für die Immobilienkrise zu Recht verantwortlich. 67 % der Befragten antworteten, dass sie lieber in einem sozialistischen System leben würden, während bemerkenswerte 75 % der Aussage zustimmten: ‚Sozialismus ist eine gute Idee, aber er ist in der Vergangenheit gescheitert, weil er schlecht gemacht wurde.`“ (zitiert in: Radicalisation of the youth leaves the ruling class fearful, marxist.com)
In den USA ist die sozialistische Stimmung unter jungen Menschen in den letzten Jahren stetig gestiegen, wobei ein größerer Anteil der Millennials den Sozialismus günstiger sieht als den Kapitalismus. Über ein Drittel der Millennials glaubt an eine graduelle Beseitigung des Kapitalismus, und 28% der Generation Z sehen den „Kommunismus“ positiv. 10 % der Generation Z hat dabei ein klares Verständnis von Kommunismus: sie befürworten die Enteignung allen Privateigentums. (Victims of Communism Memorial Foundation, 2020 Poll)
Die Pandemie und der dem Profitinteresse geschuldete widersprüchliche Umgang der Bourgeoisie damit, hat das gesellschaftliche Gewebe zusätzlich brüchig gemacht. Jetzt stehen Impfungen zur Verfügung, die einen schweren Krankheitsverlauf, jedenfalls für einige Zeit, weitgehend verhindern können. Dies heißt jedoch nicht, dass Corona und der Umgang mit der Krise und Bekämpfung der Krankheit eine rein medizinische Frage wird, es war immer und bleibt weiterhin eine Klassenfrage.
Angefangen damit, dass der Impfstoff eine Gelddruckmaschine für einige Konzerne ist, die drei Eigentümer von BioNTech sind innerhalb eines Jahres in die TOP-10 reichsten Deutschlands vorgerückt. Wir sind für die massenhafte Anwendung der Impfung, weil sie das einzige Instrument ist wieder ein sinnvolles gesellschaftliches Leben zu führen, und kritisieren die Herrschenden dafür, dass sie Unwillens sind, selbst in dieser Frage das Profitprinzip zu brechen und Milliarden von Menschen diese Behandlung vorenthalten. Der Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse anhand des Impfstatus zu spalten wird von uns aus Prinzip abgelehnt, weil dies jedenfalls dazu dient die Herrschaft dieses senilen Systems zu befestigen.
Die Klimabewegung hat institutionelle Züge angenommen. Sie wird von Kapital-Fraktionen instrumentalisiert und ihre führenden Köpfe direkt für „transformatorische Projekte“ gewonnen und eingebunden. Anders ist es nicht vorstellbar, dass ihre ExponentInnen etwa in der Endphase des deutschen Wahlkampfes im TV-Studio eingeladen werden und den Spitzenkandidatinnen mit jugendlicher Frische und erhobenem Zeigefinger appellieren dürfen.
In Österreich zeigte sich anhand der institutionellen Mobilisierung von SchülerInnen, den Bezahl-Inseraten, dem massiven Auftreten der Grünen auf der Demo, der positiven Berichterstattung in den Massenmedien etc., dass der Klimastreik vom 24.9. eine unausgesprochene politische Wichtigkeit hatte, deren Bedeutung sich den klimabesorgten Jugendlichen auf der Demo nicht unmittelbar erschließt. Die Grünen wollen mithilfe der Klimabewegung ihre geschwächte Position in der Regierung stärken und die Bewegung zynisch dafür missbrauchen, gesellschaftlichen Rückhalt für die „ökosoziale“ Steuerreform zu mobilisieren. Diese ist in echt mit Änderungen wie der Senkung der Gewinnsteuer für Unternehmen von 25% auf 23% ein schlecht verstecktes Steuergeschenk für das Kapital. Der Standard erläuterte in einem Fridays for Future-Special: „Warum die Klimastreiks nicht vergebens sind”:
„1. Den Diskurs geformt, 2. Die Politik verschoben, 3. Der Wirtschaft eingeheizt, 4. Die Medien aktiviert, 5. Die Emissionen nicht gesenkt” Für letzteres haben wir aber „noch rund sieben Jahre Zeit”, also kein Stress und derweil: „Es ist einfach eine schöne Erzählung, wenn Kinder und Jugendliche für ihre Zukunft eintreten.” Ob die das ihr Leben lang, oder auch nur bis zum nächsten Ereignis das so sehen werden? Angesichts aller Umstände ist dies stark zu bezweifeln, denn das eigene Leben ist keine Erzählung, sondern eine reale Herausforderung mit realen Problemen, die immer mehr werden.
Das Hinterfragen und der Ablehnung des Existenten, die fehlende moralische Autorität des herrschenden Systems und ihrer Repräsentanten und Profiteure ist die Basis aller scheinbar spontaner Bewegungen (Klimastreik, Black Lives Matter), politischer Verschiebungen in der Arbeiterklasse (Aufstieg und Fall von SYRIZA, Podemos, dem Corbyn-Phänomen, Chile,…), Volatilität beim Wahlverhalten, von Streikbewegungen und von Veränderungen im Machtgefüge der Gewerkschaften (GB: Linke Mehrheiten in UNISON und UNITE, basiskontrollierte Bewegungen wie aktuell in Italien, die Massenkampf des französischen Krankenhauspersonal) und von revolutionären Massenbewegungen, die Regierungen stürzen. Was bisher fehlt ist die systematische Enteignung der Bourgeoise und die Zerschlagung ihres Staatsapparates durch eine dieser Revolutionen und Regierungsstürze.
Jede spontane Bewegung, sei sie auch noch so groß, muss wieder abebben. Doch wie Trotzki erklärt hangelt sich das Massenbewusstsein in einem ständigen Prozess der Entblößung und der Neuverschleierung des Machtproblems entlang. Die Instabilität, Brutalität, die ständigen Ereignisse, die der senile Kapitalismus am laufenden Band an allen Ecken und Enden der Welt produziert – kurz die materiellen Widersprüche, die dem System innerwohnen – erlauben es nicht, dass dieser Prozess in dieser Epoche zum Stillstand kommt oder sich in sein Gegenteil verkehrt.
Die Jugend kennt nur einen Krisenkapitalismus, ist nicht geprägt von den Niederlagen der Vergangenheit, hat keinen positiven Bezug zum historischen Reformismus (aber blendet sich an der Glitter-Welt der postmodernen Erzählungen) und findet auch perspektivisch keine stabilen Verhältnisse vor. Daher ist unsere Orientierung auf sie in dieser Phase des Organisationsaufbaus zentral. Wir erreichen sie mit guter revolutionärer Propaganda und dem Angebot, mit dem Marxismus tiefes Verständnis der Welt zu erobern – um sie tatsächlich zu ändern.
Verabschiedet an der Funke-LeserInnen- und UnterstützerInnen-Konferenz am 28.11.2021