Nach fast genau 20 Jahren sind die Taliban in Afghanistan wieder an der Macht. Wie es so weit kommen konnte und was die Alternative zu den Taliban (nicht) ist, analysiert Florian Keller.
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Der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan ist zu einem Desaster geworden. Nachdem die Taliban innerhalb von 10 Tagen fast alle Provinzhauptstädte des Landes eingenommen hatten, fiel ihnen am 15. August 2021 auch die Hauptstadt Kabul mit ihren über 4 Millionen Einwohnern nach fast 20 Jahren wieder in die Hände. Derzeit [Redaktionsschluss 1.9.2021] ist nur die kleinste Provinz (Pandschir) noch nicht in den Händen der Taliban.
Zuvor hatte der (ehemalige) afghanische Präsident Ashraf Ghani sich direkt nach einer Botschaft an die Nation aus dem Land abgesetzt. Bilder von startenden Hubschraubern, die US-Botschaftspersonal evakuierten, gingen um die Welt und ließen Erinnerungen an den Fall von Saigon nach dem von den USA verlorenen Vietnamkrieg aufkommen.
NEW: The fall of Saigon: As Taliban seizes Kabul, the Vietnam War’s final days remembered – WaPo pic.twitter.com/zBrCbU2DZ8
— Insider Paper (@TheInsiderPaper) August 15, 2021
Für den US-Präsidenten Joe Biden war dabei schnell klar, wer die Verantwortung für dieses Desaster trägt. In seiner ersten Erklärung betonte er die Rolle der afghanischen Armee und der politischen Führung: „Die politischen Führer Afghanistans haben aufgegeben und sind aus dem Land geflohen. Das afghanische Militär ist zusammengebrochen, manchmal ohne zu versuchen zu kämpfen.“ Auch sprach er davon, dass er mit Ghani schon zuvor diskutiert hätte, wie Afghanistan nach dem Abzug der US-Truppen „seine Bürgerkriege“ weiterführen könnte.
Diese Aussagen sind ein Schlag ins Gesicht der Realität. Nicht, weil sie die Rolle der bis ins Mark korrupten politischen Elite in Afghanistan falsch einschätzen würden, sondern weil sie die Rolle des US-Imperialismus und seiner Verbündeten in Europa völlig außen vorlässt, obwohl diese die Hauptverantwortung für die jetzige Situation tragen. Um das vollumfassend zu verstehen, reicht es nicht aus, nur oberflächlich die Politik der letzten Jahre zu betrachten, sondern wir müssen uns ansehen, was Afghanistan eigentlich ausmacht.
Die afghanische Nation
Das Land am Hindukusch war wegen seiner Lage in Zentralasien immer ein Kampffeld für große Reiche: der Mongolen, Perser, der Turkvölker und aus Indien. Das führte dazu, dass die ca. 38 Mio. Einwohner des Landes sich heute auf eine Vielzahl verschiedener Völker aufteilen. Die größte Volksgruppe, aber nicht die Mehrheit innerhalb des Landes, sind die Paschtunen, außerdem Leben noch Tadschiken, Usbeken, Hazara und viele andere kleinere und kleinste Nationalitäten innerhalb seiner Grenzen.
Doch dass das Land Afghanistan in dieser Form heute besteht, ist nicht so sehr ein Ergebnis der langen Geschichte verschiedener Reiche in den letzten 2000 Jahren, sondern vielmehr das Ergebnis des neuzeitlichen Imperialismus. Nachdem das britische Empire 1839-42 und 1878-1893 daran gescheitert war, Afghanistan direkt zu erobern und zu kontrollieren, führte der Konflikt zwischen den Briten und dem russischen Zarenreich dazu, dass Afghanistan als eine Art Pufferstaat weiter bestehen konnte, der jedoch sehr stark abhängig von Großbritannien war. Alleine die Grenze des Landes gegenüber dem indischen Subkontinent (heute zu Pakistan) spricht Bände darüber: Die sogenannte Durand-Linie, von den Briten 1893 willkürlich als Grenze festgelegt, zerschneidet bewusst die Siedlungsgebiete der Paschtunen ohne jegliche Rücksicht auf gewachsene Strukturen. Wie auch bei anderen, aus der Kolonialzeit geerbten Grenzen, war die britische Strategie dabei, durch „teile und herrsche“ so die Kontrolle über beide Teile behalten zu können.
Bild: eigene Grafik.
Bis in die 1970er hinein blieb Afghanistan eine Monarchie, die zwar Anfang der 1920er Jahre auch unter Eindruck der russischen Revolution versucht hatte, sich zu modernisieren, aber letztendlich daran gescheitert war. Der Kapitalismus hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr langsam Einzug in den Städten gehalten. Der allergrößte Teil der Bevölkerung lebte weiterhin auf dem Land, Afghanistan war weiterhin kaum zentralisiert und von jahrhundert- oder gar jahrtausendalten feudalen Strukturen und Stammesbeziehungen dominiert.
Da aber in den Städten langsam eine kapitalistische Entwicklung einsetzte, brachen die alten gesellschaftlichen Strukturen langsam auf; sie wurden immer mehr zum Hindernis. Insbesondere eine immer größer werdende Schicht innerhalb des Staatsapparates wollte die Modernisierung des Landes vorantreiben. So führte ein Putsch gegen den König von Mohammed Daoud Khan 1973 zur Ausrufung der Republik.
Doch die koloniale Revolution auf der ganzen Welt konnte nicht einfach den Weg der westlichen Länder zur Modernisierung wiederholen. Der Kapitalismus war nicht mehr dazu fähig, für die ehemaligen Kolonien und Halbkolonien Fortschritt zu bringen. In einem Land nach dem anderen wurde deutlich, dass die Dominanz der Imperialisten und die systematische Aussaugung des Landes auf kapitalistischer Basis auch nach der Erringung der „Unabhängigkeit“ weiterging oder sogar noch verschärft wurde. So hatte z.B. 1978 noch nicht ein einziges Dorf in Afghanistan einen Anschluss an das Stromnetz. Im ganzen Land gab es nicht mehr als 40-50.000 Arbeiter in der Industrie.
Daher orientierte sich ein großer Teil der Studierenden, jungen Intellektuellen, Beamten und Offiziere in Afghanistan im Guten wie im Schlechten an der stalinistisch geprägten Sowjetunion, in der auch viele ausgebildet worden waren. Im Guten, indem sie sich die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer Planwirtschaft zum Ziel machten, um so das Land modernisieren zu können. Im Schlechten, indem sie sich auch die bürokratische, totalitäre Diktatur die dort herrschte, zum Vorbild machten und so den ArbeiterInnen in den Städten und den Massen an armen Bauern auf dem Land in der Realität keine eigenständige Rolle in einer Revolution zuerkannten, auch wenn sie diese natürlich oft beschworen.
Die Saur-Revolution 1978
Auf dieser Basis entstand eine starke kommunistische Partei, die „Demokratische Volkspartei Afghanistans“ (DVPA), die in zwei Flügel gespalten war, Parcham („Flagge“) und Khalq („Volk“). Sie verfügte über eine tiefe Verankerung, vor allem im Staatsapparat, aber auch darüber hinaus in den Massen in den Städten und sogar unter den Bauern auf dem Land, die in tiefster Armut lebten. Diese stellten über 80% der Bevölkerung und wurden von Großgrundbesitzern aufs Blut ausgebeutet, während alte Stammesstrukturen und die Mullahs die geistige und religiöse Rechtfertigung dafür lieferten.
Der Putsch der Demokratischen Volkspartei 1978 ging als „Saur Revolution“ in die Geschichte ein.
Nachdem der Diktator Daoud Khan im Frühjahr 1978 daran gehen wollte, die „kommunistische Bedrohung“ zu beseitigen, indem er mit einer Welle der Säuberungen und Verhaftungen begann, startete der Khalq-Flügel der DVPA ein Putsch gegen ihn, der unter dem Namen „Saur-Revolution“ in die Geschichte eingehen sollte. Der größte Teil der Armeeeinheiten lief zu den Aufständischen über und Daoud Khan wurde gestürzt. Muhammad Taraki, der Führer des Khalq-Flügels der DVPA, wurde neuer Ministerpräsident.
„In Afghanistan hat es nie wie in der russischen Revolution Räte gegeben, es herrschte von Anfang an eine Bürokratie. Das wurde zur Achillesferse der Revolution.“
Der Putsch war nicht mit der Sowjetunion abgesprochen gewesen oder gar von ihr gesteuert. Im Gegenteil, die Führung in Moskau versuchte von Anfang an, als sie mit den vollendeten Tatsachen konfrontiert war, mäßigend einzuwirken, indem sie den rechteren Parcham-Flügel der Partei unterstützte und so die Konflikte innerhalb der neuen Führung zuspitzte, was die neue Macht entscheidend schwächte. Die stalinisierte Sowjetunion zielte schon lange nicht mehr auf eine Weltrevolution ab, ganz im Gegenteil. Die Bürokratie hatte in Wirklichkeit vor allem Angst davor, dass der diplomatische Status Quo der Koexistenz mit dem kapitalistischen Westen über den Haufen geworfen werden würde.
Ungeachtet dessen begann die neue Staatsführung in Afghanistan jedoch mit einer Welle von tiefgreifenden Reformen. Die kleine Industrie wurde verstaatlicht und auf dieser Basis planmäßig massiv ausgebaut. Der Anteil des Bergbaus stieg etwa nach 1978 innerhalb von 5 Jahren von 3,3% auf 10% der Wirtschaftsleistung an. Auf dem Land wurden die Schulden der armen Bauern an die Großgrundbesitzer ersatzlos gestrichen. Eine Landreform gab alleine im ersten Jahr 132.000 Familien neues Land, das durch eine Begrenzung der Größe von Land im Privatbesitz gewonnen wurde.
Die Reformen umfassten aber nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Grundlagen. Mit dem Verbot des de-Facto Verkaufs von Frauen durch den Brautpreis, der Einführung eines Mindestalters für Eheschließungen und sonstigen Reformen zur Gleichstellung wie der Einführung des bezahlten Mutterschutzurlaubs wurde in diesen Jahren viel mehr für die Frauenbefreiung getan, als in den jüngsten 20 Jahren unter US-Besatzung, die sich das Thema ja so großspurig auf die Fahnen geschrieben hatte.
Doch es rächte sich nun, dass die Revolution als Putsch in der Armee durchgeführt wurde und nicht durch die Mobilisierung von unten. Diese gewaltigen Reformen konnten in der rückständigen afghanischen Gesellschaft nur dauerhaft Erfolg haben, wenn sie eine tiefe Basis unter den Massen hatten, die die Revolution gegen starke reaktionäre Kräfte aus dem eigenen Land und von außerhalb verteidigen mussten. Diese Basis war aber dadurch geschwächt, dass nicht die ArbeiterInnen und armen Bauern selbst die Macht ausübten, sich organisierten und bewaffneten und von unten nach oben einen neuen Staat aufbauten. In Afghanistan hat es niemals, wie in der russischen Revolution von 1917, Räte (Sowjets) der ArbeiterInnen, der Soldaten und Bauern gegeben, sondern von Anfang an herrschte eine Bürokratie über den neuen Staat. Etwas anderes hatte auch der linkere Khalq-Flügel der DVPA niemals im Sinn gehabt. Das wurde schließlich zur Achillesferse der Revolution.
Die Mudschahidin und der Imperialismus
Das gab den Großgrundbesitzern, den Mullahs und den anderen reaktionären Kräften in der Gesellschaft einen gewissen Spielraum, mit dem sie von Anfang an unter Aufputschung religiöser Gefühle einen bewaffneten Aufstand gegen die neue Macht anzettelten. Hier gilt es einen weiteren Mythos zu zerstören. Erst im Dezember 1979, mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn der Revolution, marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein. Die Unterstützung der sogenannten „Mudschahidin“ [die verschiedenen islamistischen Guerillagruppen im Land, die gegen die Regierung und später die Sowjetarmee kämpfen] durch die CIA und den pakistanischen Geheimdienst „ISI“ reicht allerdings schon viel länger zurück. Das dezidierte Ziel der USA war es, Afghanistan zu destabilisieren, um die Sowjetunion so in Probleme zu bringen. Schon am Beginn des Bürgerkrieges, der jetzt seit über 50 Jahren tobt, stand also die Intervention des Imperialismus.
Der Imperialismus finanzierte Mudschahidin, von denen sich Teile später zu den Taliban zusammenschlossen.
Aber vor allem nach dem Einmarsch der Sowjetunion, die die Staatsführung austauschte und das ganze Land besetzte, wurde diese Unterstützung massiv erhöht und die Besatzung durch fremde Truppen gab den Mudschahidin auftrieb. Viele Milliarden US-$ pumpten alleine die USA in den Aufbau der bewaffneten Kräfte, die durch den pakistanischen Geheimdienst „ISI“ ausgebildet und ausgerüstet wurden, weitere Milliarden kamen von Saudi-Arabien, Großbritannien und andere Quellen hinzu. Sie erhielten riesige Mengen an Militärgerät, inklusive einen endlosen Strom an Panzer- und Flugabwehrraketen. Das war der Beginn des sogenannten „Dollar-Dschihad“.
Dabei wurde von den USA selbst systematisch jene materielle und ideologische Basis aufgebaut und gefördert, die heute die Grundlage für die Taliban bildet. In Pakistan wurden tausende Religionsschulen (Madrasa) gegründet, in denen finanziert durch die USA und Saudi-Arabien Kinder von afghanischen Flüchtlingen in hunderttausenden von der CIA gedruckten Schulbüchern lernten, dass man gegen die gottlosen Besatzer in Afghanistan in den Krieg ziehen müsse, um den Islam zu verteidigen. Diese Schulen in Pakistan waren die wichtigste Rekrutierungsbasis für die Mudschahidin. Der Islamismus und die religiöse Radikalisierung in Afghanistan wurden systematisch gefördert, um dem „Kommunismus“ etwas entgegenzusetzen.
„Der Islamismus und die religiöse Radikalisierung in Afghanistan wurden systematisch gefördert, um dem ‚Kommunismus‘ etwas entgegenzusetzen.“
Darüber hinaus wurden auch systematisch unter der Anleitung der CIA tausende Kämpfer aus arabischen Ländern rekrutiert, um in Afghanistan zu kämpfen. Einer der zentralen Köpfe dieser Operation war übrigens der Sohn eines milliardenschweren Bauunternehmers aus Saudi-Arabien, der pflichtbewusst die imperialistischen Klasseninteressen in Afghanistan verteidigte: Osama bin Laden.
Als sich die Sowjettruppen 1989 aus dem Land zurückzogen, waren nur noch die größeren Städte und Gebiete um die zentralen Straßen unter fester Kontrolle des afghanischen Staates. Auf dem Land war der immer schon schwache Staatsapparat völlig zerbrochen und an seine Stelle war ein Sammelsurium an verschiedensten Mudschahidin-Warlords getreten, die sich immer öfter untereinander brutal bekriegten.
Bürgerkrieg und Erster Sieg der Taliban
In Wirklichkeit waren die Mudschahidin trotz massiver Unterstützung durch den Westen einem Sieg gegen die Regierung in dieser Zeit nicht viel nähergekommen. Hinter den Kulissen verhandelten einige ihrer Führer schon mit der Regierung von Dr. Nadschibullah. In der Schlacht von Dschalalabad 1989 nach dem Abzug der Sowjetarmee, in der die Mudschahidin zum ersten Mal mit massiver Unterstützung der USA und Pakistans eine Offensive mit dem Ziel starteten, eine große Stadt zu erobern, scheiterten sie blutig und ihre Moral war völlig im Keller. In den Worten des ISI-Brigadegenerals Mohammed Yousaf hat sich „der Dschihad niemals von der Niederlage bei Dschalalabad erholt“. Doch unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der weiteren massiven Unterstützung der Mudschahidin durch die imperialistischen Mächte wurde der Griff der Regierung auf ihren eigenen Staatsapparat immer schwächer. Das führte dazu, dass lokale Kommandeure von Milizen immer mehr Autonomie bekamen.
Nach drei weiteren Jahren, 1992, brach die Regierung und mit ihr der zentrale afghanische Staatsapparat schließlich endgültig zusammen. Bezeichnenderweise war ausschlaggebend, dass einer der wichtigsten der oben angesprochenen Kommandeure der Regierung, Abdul Raschid Dostum, die Seiten wechselte (wofür er vom CIA wohl gut bezahlt wurde). Zusammen mit diversen Mudschahidin eroberte er Kabul. Schon zuvor hatte ein Putschversuch auf der einen Seite und ein Seitenwechsel anderer Generäle die Regierung nachhaltig geschwächt. Danach wurde Afghanistan in den 1990ern endgültig zum chaotischen Schlachtfeld verschiedener Warlords, die sich auf die systematische reaktionäre Spaltung des Landes anhand verschiedenster Volksgruppen und Religionsauslegungen stützten und in wechselnden Allianzen das Land in Schutt und Asche legten. Zehntausende Menschen starben alleine in der Belagerung von Kabul 1992 bis 1995.
Das Ergebnis dieses blutigen Bürgerkrieges, der immer öfter auch zu ethnischen Säuberungen führte, war, dass die brutalste und radikalste islamistische Gruppe, die Taliban, 1996 Kabul erobern konnten.
Taliban?Mujahideen= Destroy Afghanistan https://t.co/iqmywRcfQI
— Wasil Faizi (@wasilEjaaz) September 8, 2021
Aus den radikalsten Mudschahidin enstanden nach dem Zusammenbruch der Regierung die Taliban. Sie beziehen Basis vor allem aus Paschtunen. Sie wurden von Anfang an stark vom pakistanischen Geheimdienst (ISI) unterstützt, der mit Duldung der USA hoffte, mit ihnen das zersplitterte Nachbarland unter Kontrolle bringen zu können. Der ISI fokussierte seine ganze Unterstützung auf die Taliban als frische Option, nachdem alle anderen Gruppen durch den Bürgerkrieg verhasst und geschwächt waren. Diese konnten sich vor allem auf die entwurzelten und verrohten Teile der Landbevölkerung stützen, die durch den Krieg zur Flucht gezwungen wurden und keinerlei Perspektive hatten.
Letztendlich schafften sie es tatsächlich, den größten Teil des Landes unter Kontrolle zu bringen. Ihre Massaker und reaktionäre Herrschaft waren dabei lange kein Problem für die USA, die mit ihnen sogar über den Bau einer Pipeline in der Nähe von Herat verhandelten, um die zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken in ihren Einflussbereich zu bekommen.
Erst nach den Anschlägen von 11. September 2001 änderte sich das grundlegend. Der ehemalige Hund (Osama bin Laden) hatte sich gegen sein ehemaliges Herrchen (USA) gewendet, und die Taliban waren nicht bereit, ihn auszuliefern.
Afghanistan nach 2001
Während und nach dem Sieg gegen die Taliban ergab sich allerdings ein Problem für die USA und ihre Verbündeten: Mit ihrer Unterstützung war der afghanische Staatsapparat im „globalen Kampf gegen den Kommunismus“ in den 80er- und 90er Jahren systematisch zerstört worden. Auf wen sollte man sich also jetzt stützen, um die Kontrolle im Land aufrechtzuerhalten? Die Antwort liefert die Grundlage dafür, verstehen zu können, warum die Regierung von Nadschibullah noch drei Jahre nach dem Abzug der Sowjetarmee durchhielt, während es die jüngste Regierung Ghani nicht einmal bis zum vollständigen Abzug der Nato-Truppen schaffte. Aber sie hilft Joe Biden ganz und gar nicht dabei, sich der Verantwortung für die jetzige Niederlage zu entziehen.
US Soldaten in Afghanistan 2003. (Foto: Kyle Davis/public domain)
Der afghanische Staatsapparat nach 2001 wurde in Wirklichkeit aufgebaut, indem durch Milliarden an US-amerikanischen und europäischen Steuergeldern der größte Teil der reaktionären Warlords und Exilpolitiker gekauft wurde, indem ihnen entweder durch direkte Bestechungszahlungen oder durch die Kontrolle über ein Ministerium, eine Armeeeinheit etc. ein Vermögen zugeschanzt wurde. Ein demokratisches (nicht einmal bürgerlich-demokratisches) Afghanistan hat es auch nach 2001 nie gegeben. Doch diese Warlords, die in den 90er Jahren das Land in Schutt und Asche gelegt und hunderttausende Menschen auf dem Gewissen haben, sind bei den Massen tief verhasst. So gibt es nach 2001 eine Schicht neuer Milliardäre und Multimillionäre in Afghanistan, die durch Schutzgelder, Opiumproduktion und Korruption reich geworden ist und gleichzeitig durch die Politik der USA und ihrer Verbündeten gedeckt wird, während Millionen Menschen hungern.
„Unterstützt durch imperialistische Welt- und Regionalmächte, konnten die Taliban im letzten Jahrzehnt immer größere Gebiete unter Kontrolle bringen.“
Erst auf Grundlage des immer stärker werdenden Unmuts darüber gelang es den Taliban nach ihrer vernichtenden Niederlage, Mitte der 2000er wieder eine wirkliche Basis zu gewinnen. Die brutale Kriegsführung der Warlords und die Bomben- und Drohnenangriffe der NATO-Armeen taten dabei ihr übriges, der Taliban wieder Unterstützer zuzutreiben.
Abermals stark unterstützt durch imperialistische Welt- und Regionalmächte wie (wieder einmal) das pakistanische Regime, aber auch Russland, China und den Iran, konnten sie so im letzten Jahrzehnt wieder immer größere Teile der ländlichen Gebiete unter Kontrolle bringen. Doch wirklich legitimiert haben sie erst die Verhandlungen über einen Abzug der US-Truppen unter Trump in Doha, wo die USA in Wirklichkeit ein geplante Machtübergabe an die Taliban verhandelten, bei der sie trotzdem noch das Gesicht wahren konnten. Alleine als Bedingung für die Verhandlungen wurden tausende Kämpfer der Taliban auf Ansuchen der USA in Pakistan und Afghanistan freigelassen. Das Endergebnis der Verhandlungen war der Plan einer gemeinsamen Regierung mit den Taliban, also in Wirklichkeit eine Einfügung von ihnen in das Bestechungsnetzwerk, das der afghanische Staatsapparat darstellte. Und geleakte Geheimdienst-Dokumente zeigten schon vor Monaten, dass die USA selbst mit einer Machtübernahme der Taliban rechneten.
Es zeigt sich in aller Schärfe, wie verrottet der gesamte „neue“ afghanische Staatsapparat von Anfang an war: So war es für viele der lokalen Regierungsvertreter und Warlords eine einfache Entscheidung, ihre Koffer zu packen und den zusammengestohlenen Reichtum in Sicherheit zu bringen oder gleich ganz die Seiten zu wechseln und Abkommen mit den Taliban zu schließen. Der erste Präsident nach 2001, der von den USA installierte Karzai, hat zusammen mit dem ehemaligen Regierungschef Abdullah Abdullah und dem Ex-Mudschahidin Gulbeddin Hekmatjar (der noch bis 2016 gegen die Regierung kämpfte) eine „Koordinierungsrat“ gegründet, der „das Land geordnet übergeben“ (das heißt im Klartext: Die eigenen Investitionen absichern) soll.
Perspektive: Revolution
So ist die Machtübernahme der Taliban nur ein Zeichen dafür, wie unmöglich jeder Fortschritt in Afghanistan auf Basis des derzeitigen Systems ist. Lenins hielt inmitten des ersten Weltkriegs fest: „die kapitalistische Gesellschaft war und ist immer ein Schrecken ohne Ende“. Das trifft auf Afghanistan voll und ganz zu. Die Machtübernahme der Taliban wird keine Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs und Fortschritts bringen, ganz im Gegenteil. Und sie wird auch kein Ende des Blutvergießens bringen, wie die Morde der Taliban, der Anschlag des IS am Kabuler Flughafen und der darauffolgende Bombenangriff zeigen. Die Machtübernahme der Taliban wird nur noch mehr Hunger und Leid über die geplagten Massen Afghanistans bringen.
Aber diese haben eine lange Tradition des Widerstandes gegen fremde Besatzer und selbst der Revolution gegen die eigenen Herrschenden, auch wenn diese seit Jahrzehnten durch den Bürgerkrieg verschüttet sind. Die gesellschaftliche Basis der Taliban ist viel kleiner, als sie das selbst in den 90er Jahren noch war. Man sieht das daran, dass sie bisher nicht öffentlichkeitswirksam mit extremer Brutalität vorgegangen sind, sondern ihre Säuberungsaktionen der afghanischen Gesellschaft derzeit unter der Oberfläche durchführen. Das ist kein Zeichen dafür, dass sie sich geändert haben, sondern ein Zeichen der Schwäche ihrer gesellschaftlichen Basis.
Die ArbeiterInnen und Jugendlichen in den Städten und die armen Bauern auf dem Land werden so früher oder später gezwungen sein, den massenhaften Widerstand gegen die Taliban zu beginnen. Sie werden den Weg des Klassenkampfes und der Revolution gehen, weil kein anderer Weg mehr offensteht: Alle imperialistischen Mächte und alle politischen Führer in Afghanistan selbst haben vor den Augen der Weltöffentlichkeit nichts als Leid über sie gebracht.
Für solche Kämpfe sehen wir jetzt schon inspirierende Beispiele in Nachbarländern Afghanistans: Insbesondere im Iran kämpfen ArbeiterInnen und Bauern schon seit Jahren immer entschlossener gegen das unterdrückerische Mullah-Regime, die massenhaften Streiks der Ölarbeiter, Metallarbeiter und vielen anderen sowie die immer häufiger werdenden Aufstände werden früher oder später zu einer Revolution führen. In Pakistan hat die PTM-Bewegung unter Paschtunen das Land in den letzten Jahren erschüttert und Streiks gegen Privatisierungen und Armut werden immer häufiger.
Es gilt, die afghanischen Massen so gut wie möglich in ihrem zukünftigen Kampf zu unterstützen. Und zwar nicht etwa durch neue imperialistische Militärinterventionen, die ja erst der Grund für die derzeitige Misere sind.
RevolutionärInnen müssen die Rolle der imperialistischen Regierungen und Konzerne entlarven und in jedem Land, vor Ort, gegen sie und ihr System kämpfen.
Nur so können wir sicherstellen, dass die afghanischen Massen selbstbestimmt einen Kampf gegen Taliban, Imperialismus und Kapitalismus gewinnen können.
Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!
(Funke Nr. 196/1.9.2021)