Wir veröffentlichen hier einen Artikel von Marat Vakhitov aus Russland. So wie die Genossinnen und Genossen in Russland mutig gegen ihre eigenen Herrschenden und Kapitalisten aller Schattierungen stehen, sehen wir es auch hierzulande als unsere Aufgabe, ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine das internationalistische Banner hochzuhalten: Nieder mit den Kriegsgewinnlern von Raiffeisenbank, OMV und Co., nein zu allen Waffenlieferungen und Kriegskrediten, österreichische Truppen raus aus dem Balkan. Der Hauptfeind steht im eigenen Land!
Der Beginn der russischen Militärinvasion in der Ukraine jährte sich am 24. Februar zum ersten Mal. Das Putin-Regime hatte dieses Abenteuer als schnelle Operation geplant, an dessen Ende ein großer politischer Erfolg stehen sollte. Doch stattdessen hat es sich zu einem langwierigen, kräftezehrenden Krieg entwickelt, der sogar den Fortbestand des Regimes selbst in Frage stellen könnte.
Der Krieg wurde zu einem Wendepunkt in der modernen russischen Geschichte, seiner tief gespaltenen Gesellschaft und für alle konkurrierenden politischen Kräfte. Es reicht jedoch nicht aus, nur die sich abzeichnende Katastrophe zu beschreiben, die der Krieg erzeugt hat. Es ist ebenso notwendig, die Ursachen des Krieges, seine Wurzeln in der weltweiten Krise sowie in den wirtschaftlichen und politischen Krisen in Russland selbst zu verstehen und auch zu analysieren, in welche Richtung sich Russland bewegt.
„Weder weinen noch lachen, sondern verstehen.“ Dies sollte unser Ansatz bei der Analyse der Ursachen des Konflikts sein.
Unser Ausgangspunkt muss die Position Russlands im globalen Kontext des modernen Kapitalismus und der imperialistischen Aufteilung der Welt sein. In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob die Russische Föderation als imperialistische Macht zu betrachten ist, nach wie vor umstritten. Wir können an dieser Stelle nicht im Detail auf diese Frage eingehen, sondern verweisen die Leser auf andere von der IMT veröffentlichte Materialien. An dieser Stelle beschränken wir uns darauf, den Leser mit der wichtigsten Schlussfolgerung dieser Analyse vertraut zu machen:
„Diese Tatsachen können nur zu dem Schluss führen, dass Russland heute ein imperialistischer Staat ist, auch wenn er dem alten Imperialismus zaristischer Prägung ähnlicher ist als dem heutige China oder den USA. Russlands Beteiligung an der kapitalistischen Weltwirtschaft ist begrenzt und beschränkt sich hauptsächlich auf den Handel mit Öl und Gas. Aber es interveniert aktiv außerhalb seiner Grenzen, sowohl militärisch als auch diplomatisch, und es gerät ständig in Konflikt mit Amerika, was zuweilen in eine direkte militärische Konfrontation umzuschlagen droht.“ („Imperialism today and the character of Russia and China. International Marxist Tendency“, London, 9. Juni 2016)
In seiner Wirtschaftsstruktur unterscheidet sich Russland sicherlich von anderen „typischen“ imperialistischen Ländern, die über viel höher entwickelte wirtschaftliche Mittel verfügen, um eine Politik der „neokolonialen“ Vorherrschaft zu verfolgen und um Märkte zu kämpfen. Der Umfang von Russlands Kapitalexport reicht nicht annähernd an andere imperialistische Länder heran. Dennoch wird seine Wirtschaft von mächtigen einheimischen Monopolen beherrscht.
Die Grundlagen der russischen Wirtschaft sind ein gewisser Bestand an Schwerindustrie, der weitgehend aus der Sowjetunion geerbt wurde; der Dienstleistungssektor; der Export von Rohstoffen; die chemische Industrie und ein großer militärisch-industrieller Komplex. Gleichzeitig importiert das Land seine Maschinen, Fahrzeuge, Arzneimittel, Kunststoffe, Metall-Halbfabrikate, Fleisch, Obst, optische und medizinische Instrumente, Eisen, Stahl usw.
Der mächtige militärisch-industrielle Komplex Russlands ist ein wichtiges Erbe aus Zeiten der Sowjetunion. Er ist einer der Schlüsselfaktoren, die es Russland ermöglichen, den Anspruch zu erheben, eine mächtige imperialistische Macht zu sein. Der Sektor der Herstellung von Industriemaschinen, Ersatzteilen und Komponenten ist in Russland jedoch äußerst schwach. In den 30 Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichte der Maschinenbau in Russland, nachdem er in den 1990er Jahren zusammengebrochen war, kaum 50 % des Produktionsniveaus von 1991. Die Wirtschaftszweige, die Produktionsmittel herstellen, sind völlig zusammengebrochen, so dass die russische Wirtschaft extrem abhängig von Lieferanten aus dem Ausland ist. Wegen dem Krieg und den Sanktionen hat China, der größte alternative Lieferant, die Möglichkeit bekommen, im bilateralen Handel seine eigenen Bedingungen zu diktieren.
Das Ausmaß der Abhängigkeit Russlands von externen Lieferanten von Industriekomponenten und Maschinen wurde sehr deutlich, als Renault die Autoproduktion infolge der westlichen Sanktionen einstellte. Betroffen war das AZLK-Werk, das in den 1990er Jahren Moskwitsch hieß. Erst im Frühjahr letzten Jahres hatte das Büro des Bürgermeisters angekündigt, dass das Moskwitsch-Werk wiederzubeleben, indem Teile des Werks verstaatlicht werden sollten, in dem Renault-Fahrzeuge montiert wurden. War das vielleicht ein Beispiel für die Wiederbelebung der einheimischen Industrie? Nein. In der Praxis hat sich herausgestellt, dass es in Russland nicht die Mittel gibt, um die Produktion zu organisieren und wieder aufzunehmen. So versucht die Moskauer Stadtverwaltung verzweifelt, eine Vereinbarung über eine Lizenz für die Montage von Autos und die Lieferung von Einzelteilen zu treffen – mit chinesischen Autoherstellern.
Faktoren im Krieg
Es ist wichtig, die besondere Position des russischen Imperialismus zu berücksichtigen, wenn man die Beweggründe der politischen Führung der Russischen Föderation für die Invasion verstehen will. Obwohl der wichtigste imperialistische Konkurrenzkampf heute zwischen den USA und China ausgetragen wird, versucht auch der russische Imperialismus, seine Macht auf regionaler Ebene auszuweiten. Gegenwärtig tut er dies vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und zum Teil im Nahen Osten und in Afrika. Wo er dies tut, kommt er in Konflikt mit den Interessen anderer imperialistischer Räuber.
Der Krieg in der Ukraine ist zwar ein zwischenimperialistischer Konflikt, aber das bedeutet keineswegs, dass sich seine Ursachen einfach auf ein Aufeinandertreffen wirtschaftlicher Interessen reduzieren lassen.
Darüber hinaus ist es unmöglich, das politische und militärische Handeln des Regimes zu verstehen, wenn man es nur als Ergebnis des Willens oder der persönlichen Ambitionen eines einzelnen „Verrückten“ an der Spitze des Regimes betrachtet.
Es ist auch klar, dass Putin nicht daran interessiert ist, die arbeitenden Menschen in der Ukraine zu schützen – unabhängig davon, ob sie russischer Herkunft sind oder nicht. Vielmehr handelt es sich um einen reaktionären Konflikt zwischen konkurrierenden kapitalistischen Fraktionen. Die Arbeiterklasse der Welt hat nichts zu gewinnen, wenn sie eine der beiden Seiten unterstützt.
Stattdessen muss dieser Krieg als Teil eines Versuchs der russischen herrschenden Klasse verstanden werden, sich aus den politischen und wirtschaftlichen Widersprüchen und Schwierigkeiten zu befreien, in die das bonapartistische Regime und das Land insgesamt geraten sind. Putins Handeln hat politische und wirtschaftliche Gründe, die sowohl in äußern als auch in den tiefgreifenden internen Problemen des russisch-kapitalistischen Regimes wurzeln.
Interne wirtschaftliche und politische Probleme waren sicherlich ein wichtiger Faktor. Vor dem Krieg war Putins Beliebtheit durch die Wirtschaftskrise angeschlagen; und Massenbewegungen (z.B. wegen der Erhöhung des Pensionsantrittsalters) hatten das Regime bedroht. Die Unruhen in Kasachstan und Weißrussland, in denen die Russische Föderation als Polizist in der Region auftrat, haben deutlich gezeigt, wie schnell revolutionäre Explosionen das Regime aufzehren könnten. Eine Politik der „kleinen siegreichen Kriege“ ist vor dem Hintergrund der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Instabilität zu einem wichtigen Instrument für die Selbsterhaltung des russischen Regimes geworden. Dieses Instrument wurde bereits in den frühen 2000er Jahren eingesetzt. Dieses Phänomen wurde in einem Artikel des Genossen Ivan Lokh im April 2019 erörtert:
„Wir haben gesehen, wie sich das Großkapital an Putin gewandt hat, nachdem es sich nach der Krise [der 1990er Jahre] in völliger politischer Isolation und umgeben von verbitterten Massen wiederfand. Indem er die Aufmerksamkeit der Massen auf Tschetschenien lenkte, stabilisierte Putin die politische Lage, woraufhin die Reallohnsenkung beim Vorhandensein der alten Produktionsanlagen zu einem Wirtschaftswachstum führte. Steigende Ölpreise trugen ebenfalls dazu bei. Aber der ‚Überfluss‘ der 2000er Jahre wurde durch die Weltwirtschaftskrise unterbrochen, die auch die russische Wirtschaft hart traf. […]“
„Aus der Sicht des russischen Großkapitals, das 2004 sein Vermögen in der Ukraine verlor, war die Annexion der Krim [2014] ein verrücktes Wagnis, das zu Wirtschaftssanktionen und Stagnation führte. Putin hat dies wahrscheinlich vorausgesehen, [aber] mit seiner Politik konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: erstens konnte er massenhafte Unterstützung unter den Russen zurückgewinnen, die durch die Maidan-Bewegung verängstigt und durch das Krim-Referendum ermutigt worden waren; und zweitens begann angesichts der Sanktionen, die den Zugang zu billigem Auslandskapital eingeschränkt hatten, wieder mehr Kapital nach Russland zurückzufließen, während er die letzten großen, unabhängigen Unternehmen im Einzelhandel (z. B. Magnit) und im Kommunikationssektor (Tele2) unter Kontrolle brachte.“
Es ist auch wichtig, die externen Faktoren zu verstehen, die das Regime zu der Entscheidung brachten, einen Krieg zu beginnen.
Die Spannungen, die zu diesem Krieg führten, haben sich über Jahrzehnte hinweg aufgestaut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging der westliche Imperialismus in die Offensive und zog einen Großteil des ehemaligen „Ostblocks“ in seine Einflusssphäre. Gorbatschow war 1990 zugesichert worden, dass die NATO nach der Auflösung des Warschauer Paktes nicht erweitert werden würde. Seitdem haben sich die NATO und die EU immer weiter nach Osten ausgedehnt, und die NATO-Raketen und -Militärstützpunkte wurden bis an die russische Grenze vorgeschoben. Der Zusammenbruch Russlands hatte jedoch seine Grenzen. Schließlich stabilisierte es sich und war in der Lage, zurückzuschlagen, wie wir 2008 in Georgien und 2014 auf der Krim gesehen haben.
Die Politik, die der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegen Russland verfolgte, hat bei den russischen Massen einen bitteren Groll gegen den westlichen Imperialismus hinterlassen. Diese Abneigung nutzt Putin demagogisch zu seinem eigenen Vorteil aus. Die jahrzehntelange Politik der Bedrohung Russlands durch den Westen und die Tatsache, dass die NATO die Ukraine im Vorfeld und während des Krieges bis an die Zähne bewaffnet hat (ganz zu schweigen von der direkten Provokation der Spannungen durch den Westen im Vorfeld des Februar letzten Jahres) erklären die vorherrschende Stimmung in der Mehrheit der russischen Arbeiterklasse. Das ist keineswegs mit einer Unterstützung der imperialistischen Kriegsziele von Putins Clique gleichzusetzen und ist gleichzeitig der Hauptgrund für das Fehlen einer Antikriegsbewegung in Russland. Verstärkt wird das dadurch, dass eine klare politischen Alternative für die Arbeiterklasse fehlt. Mit der Zeit werden jedoch die Klassenwidersprüche, die durch den Krieg vorübergehend überdeckt wurden, wieder zum Vorschein kommen.
Die unversöhnliche Haltung der USA im Vorfeld des Ukraine-Krieges, die das Minsk-2-Abkommen sabotierten und sich weigerten, Garantien gegen einen Beitritt der Ukraine zur NATO abzugeben (obwohl die Amerikaner offen sagten, dass dies nicht geschehen würde), überzeugte Putin, dass es keine andere Wahl gäbe, als der militärischen Option nachzugehen. Die russische Regierung hat ihrerseits die Weltlage zur Kenntnis genommen und wurde durch die politische und wirtschaftliche Krise, die die USA erschüttert und die Regierung von Joe Biden geschwächt hatte, zum Einmarsch ermutigt.
Bei Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, spielten die Ereignisse in Afghanistan im Jahr 2021 zweifellos eine wichtige Rolle. Das Gleiche gilt für Bidens frühe Erklärungen, dass er keine US-Truppen in die Ukraine schicken würde, sondern nur Waffen und Munition. Auf dieser Grundlage (und in Erwartung eines eher schwachen Widerstands der ukrainischen Streitkräfte) entschied Putin, dass er mit der Ukraine machen könne, was er wolle und erwartete, dass sich die Folgen eher auf Wirtschaftssanktionen als auf militärische Vergeltung beschränken würden. Das Regime erwartete einen „kleinen siegreichen Krieg“, der schnell gewonnen werden könnte. Stattdessen tappte es in eine Falle.
In Wirklichkeit stieß er sofort auf erbitterten Widerstand, was durch die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine möglich war. Ein wesentlicher Faktor für das völlige Scheitern des ursprünglichen Plans, die Gebiete der Ukraine zu erobern, waren die grundlegenden Fehler, die die Kriegsplaner im Kreml machten. Diese „Fehler“ waren keineswegs zufällig. Sie spiegeln die Fäulnis des reaktionären Regimes in seinen Grundfesten wider. Dessen starrer, bonapartistischer Charakter führt dazu, dass die Militärhierarchie von Korruption und Vetternwirtschaft geplagt ist und unterwürfige Mittelmäßigkeiten bessere Aufstiegschancen haben als fähige Militärs.
Die Moral der ukrainischen Streitkräfte, die weitreichende Versorgung mit hauptsächlich ausländischem Militärgerät und vor allem die nachrichtendienstliche Unterstützung durch die USA spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Dadurch war auch das Oberkommando des von der NATO ausgebildete ukrainischen Militärs, welches Putin in den ersten Kriegsmonaten zum Militärputsch gegen Selenskyj aufrief, weitaus effizienter. Die Propagandaorgane des Kremls, die sich darauf vorbereitet hatten, die Einnahme Kiews innerhalb einer Woche nach Ausbruch der Feindseligkeiten feierlich zu verkünden, befanden sich (ähnlich wie die russische Regierung) in einer sehr unangenehmen Lage. Einige mussten sogar das zur Veröffentlichung vorbereitete Material rückwirkend bereinigen.
Da das russische Regime das tatsächliche Kräfteverhältnis nicht richtig eingeschätzt hatte, wurde das, was man sich als kurzes militärisches Wagnis erhofft hatte, zu einem langwierigen Zermürbungskrieg, der droht, zu einem Katalysator für weitere Instabilität zu werden.
Die Lage der Arbeiterklasse in Russland
Die Hauptlast der Kosten, die Russland für dieses militärische Abenteuer zu tragen hatte, wurde auf die Arbeiterklasse abgewälzt.
Am 21. September kündigte die Regierung vor dem Hintergrund eines katastrophalen Rückzugs der russischen Streitkräfte an mehreren Fronten in der Ukraine den Beginn einer „Teilmobilmachung“ an, die angeblich die Einberufung von 300.000 Reservisten bringen sollte.
Tatsächlich aber suchte das Personal der Einberufungsämter und die Polizei laufend alle verfügbaren Wohnungen in ihrem Zuständigkeitsbereich auf und die Männer, die sie in die Finger bekamen, wurden vorgeladen. Der Autor dieses Artikels wurde persönlich darüber informiert, dass einer der Bewohner seines Viertels – eine behinderte Person mit amputierten Beinen – zu den „Glücklichen“ gehörte, die ihre Mobilmachungspapiere erhielten.
Der Krieg und die anschließende Mobilisierung haben die Arbeiterklasse zuerst getroffen. Aus dem ganzen Land wird berichtet, dass große Gruppen von Arbeitern aus den Belegschaften von Betrieben mobilisiert werden, die als Produktionsbetriebe ohne strategische Bedeutung angesehen werden. Die Führung einer der russischen Gewerkschaften (Interregionale Gewerkschaft Arbeiter-Allianz) sah sich sogar gezwungen, einen Appell an die Regierung zu richten, um die Zahl der einberufenen Arbeiter streng zu begrenzen. Dieser Appell wurde völlig ignoriert, und tatsächlich wurde die Mobilisierung sogar als Strafmaßnahme gegen Mitglieder militanter Gewerkschaften eingesetzt.
Auch die wirtschaftlichen Kosten des militärischen Abenteuers treffen die ärmsten Bevölkerungsschichten am härtesten: Seit dem 1. Dezember sind die Stromtarife landesweit vorgezogen um 9 % gestiegen. Dies wird zweifelsohne die bereits stark verarmte und verschuldete arbeitende Bevölkerung treffen. In einigen Regionen beläuft sich der Preisanstieg für öffentliche Dienstleistungen auf 11-12 %. Die an die Lebenshaltungskosten gekoppelten Lohnerhöhungen halten nicht einmal mit den vom Finanzministerium prognostizierten Inflationszahlen Schritt (dort, wo Lebenshaltungskostenerhöhungen gewährt wurden, betrugen sie nicht mehr als 10 %, während die Inflationsprognose des Finanzministeriums 17 % betrug). Aber selbst diese offiziellen Zahlen spiegeln nicht das ganze Bild wider, da es massive Unterschiede bei den Preissteigerungen von Region zu Region gibt. Während in einigen Regionen die Preise für Waren des täglichen Bedarfs um 5 % gestiegen sind, haben sie sich in anderen um 200 % erhöht!
Dies sind einige der Schrecken, die dieser Krieg den russischen Massen auferlegt hat. Und doch hat es bisher keine Massenbewegung auf den Straßen der russischen Städte gegeben. Seit Beginn des Krieges gab es nur wenige Antikriegsdemonstrationen. Im Februar und März letzten Jahres begrüßte ein bedeutender Teil der russischen Gesellschaft den Ausbruch des Krieges mit einer Explosion von chauvinistischen Gefühlen. So wie die Regierung ein schnelles und erfolgreiches Ende des Krieges erwartete, taten dies auch Millionen normaler Russen. Die Ankündigung der Mobilmachung war für die Gesellschaft insgesamt ein ernüchternder Moment. Es wurde deutlich, dass die Lage in der Tat sehr schlecht war.
Es liegt ein Gefühl der Ausweglosigkeit in der Luft. Aber das ist noch kein Zeichen für eine Massenopposition gegen den Krieg.
In einigen Regionen – wie in Dagestan und der Republik Tschuwaschien – haben die wachsende Zahl der Opfer und die äußerst schlechten Bedingungen für die Versorgung der mobilisierten Soldaten zu kleineren Protesten geführt. Eine entsprechende Anti-Kriegs-Bewegung, die die herrschende Clique in die Knie zwingen könnte, ist jedoch bislang ausgeblieben. Die gewaltsame Unterdrückung durch das Regime mag diese Tatsache teilweise erklären, aber es gibt auch tiefere Gründe.
Warum sind wir vor dem Hintergrund einer sich so stark verändernden Haltung gegenüber dem Krieg noch relativ weit von groß angelegten Antikriegsaufständen entfernt? Erstens gibt es, wie bereits erläutert, einen tiefsitzenden Hass auf den westlichen Imperialismus und die begründete Furcht, dass dieser Russland ausbluten oder sogar ganz auf den Status einer Halbkolonie reduzieren will. Und damit verbunden ist die Frage nach den Kräften, die die Antikriegsbewegung bisher dominiert haben, und nach der Haltung der Mehrheit der Russen gegenüber diesen Kräften – also den Liberalen, die reine Handlanger des westlichen Imperialismus sind.
Die anfänglichen, spontanen Antikriegsproteste im Februar 2022, die vor allem in den Großstädten stattfanden, wurden von keiner organisierten politischen Kraft angeführt. In Russland verfügten jedoch innerhalb der Opposition nur die westlich orientierten Liberalen über relativ starke Medienressourcen, da sie in den 1990er Jahren dem Zentrum der Macht sehr nahgestanden sind und von einem Teil des Großkapitals und dem Westen unterstützt wurden.
Als also die Liberalen in Russland eine Anti-Kriegs-Position einnahmen, wurden sie schnell zu den Wortführern in denjenigen Medien, die gegen den Krieg waren. So ist die gesamte Anti-Kriegs-Bewegung von den Massen schnell als „liberal“ wahrgenommen worden. Die Bewegung selbst wurde so zur Geisel des schlechten Rufs der Liberalen in den Massen. Es muss dazugesagt werden, dass die pro-westlichen Liberalen, obwohl sie sich selbst als Kriegsgegner bezeichnen, den Militarismus der NATO und des westlichen Imperialismus gegen Putin voll unterstützen. In Wirklichkeit stimmen sie mit der Darstellung der Ereignisse in den westlichen Medien völlig überein und bezeichnen alle Russen, die nicht ihrer Meinung sind, als latente Sklaven oder „Orks“. Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche „Anti-Kriegs“-Position, die sich zur Forderung nach der willkürlichen Zerstückelung Russlands und der kollektiven Bestrafung von Russen für die Unterstützung Putins gesellt, für die meisten Russen aus der Arbeiterklasse völlig abstoßend ist.
Die große Mehrheit bringt die liberale Bewegung direkt mit der wirtschaftlichen Katastrophe der 1990er Jahre und mit absoluter Bestechlichkeit und Elitismus in Verbindung (in den letzten zehn Jahren konnte sich nur Alexej Nawalny dieser Assoziation bis zu einem gewissen Grad entziehen).
In den 1990er Jahren fand unter dem Banner und der Führung dieser Kräfte, die mit dem IWF, der Weltbank und dem US-Imperialismus Hand in Hand gingen, die gewaltige Demütigung und die Ausplünderung des gesamten Gebiets der ehemaligen Sowjetunion statt. Diese Kräfte und ihre Vertreter waren bereit, die kriminellsten und abscheulichsten imperialistischen Verbrechen der „demokratischen westlichen Welt“ (sprich: der USA und ihrer Verbündeten) in Bezug auf Länder wie Jugoslawien bedingungslos zu rechtfertigen. Und heute fordern sie die arbeitende Bevölkerung Russlands auf, an die Aufrichtigkeit von deren „friedlichen“ Absichten zu glauben.
Die Vertreter des russischen Liberalismus haben jahrzehntelang die rassistische Rhetorik verbreitet, dass die Russen ein „Volk mit einer Sklavenmentalität“ seien, während sie gleichzeitig von der Plünderung und dem Verkauf des Reichtums des Landes profitierten, den sie kostenlos erworben und zu dessen Schaffung sie nichts beigetragen haben. Und heute fordern sie die arbeitende Bevölkerung Russlands auf, auf die Aufrichtigkeit ihrer „Anti-Korruptions“-Rhetorik zu vertrauen.
Diese Liberalen bieten den Völkern des heutigen Russlands das an, was sie „Entkolonialisierung“ nennen (nicht zu verwechseln mit echter, freier Selbstbestimmung), wobei sie die Grenzen künftiger bürgerlicher Staaten nach ihren eigenen Vorstellungen neu ziehen, ohne das geringste Interesse an den Ansichten der Völker und ethnischen Gruppen zu zeigen, die innerhalb dieser „künftigen Grenzen“ leben.
Die Mehrheit der Arbeiter in Russland (unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit) ist sich sehr wohl bewusst, dass sich hinter dem Gerede von „Entkolonialisierung“ der Wunsch verbirgt, die Russische Föderation für den Konsum ihrer westlichen imperialistischen Herren und für die Ausplünderung durch die „eigenen“ Kapitalisten zu zerstückeln. Hinter der ganzen „demokratischen“ Rhetorik dieser Herren verbirgt sich nur der Wunsch, „das Bankett fortzusetzen“. Warum sollte sich ein Volk, das von einer Gruppe von Dieben und Räubern als Geisel genommen wurde, plötzlich in die Hände einer anderen Gruppe von Dieben und Räubern begeben, die sich nur durch ihre „demokratischere“ Fassade unterscheiden? Man muss kein Marxist sein, um den reaktionären Charakter dieser Kräfte zu verstehen.
Selbst diejenigen, die die derzeitige Regierung hassen, können nicht anders, als sich zu ekeln, wenn sie auf das liberale Lager schauen. Dessen Propaganda ist, abgesehen davon, dass sie dem gesamten russischen Volk die kollektive Verantwortung für den Krieg zuschreibt, nur das Spiegelbild der Propaganda des Kremls. Wer will schon zwischen Satan und Beelzebub wählen?
Von diesen Liberalen, die nur Marionetten des westlichen Imperialismus sind abgestoßen zu sein, kann nur als gesunde Reaktion bezeichnet werden. Die Revolutionäre müssen begreifen, dass das Potenzial für revolutionäre Veränderungen im Land aus dem riesigen Reservoir der Masse der Arbeiter kommt, die politisch unentschlossen oder „ehrliche Vaterlandsverteidiger“ sind, die den Krieg trotz Putin unterstützen, und zwar aus allen oben genannten Gründen.
Sehen diese Menschen im Putin-Regime ihre wahren Vertreter? Nein. Aber unter dem Druck der Propaganda, mit dem Gefühl einer klaren und eindeutigen Ablehnung des westlichen Imperialismus und ohne eine klare Alternative zu diesen beiden Übeln vor Augen, bleiben sie stumm. Das ist weder Feigheit noch „Sklavenmentalität“, sondern ein stiller Vorwurf an all jene alten Linken, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, eine echte politische Alternative einerseits zu Putin als auch zur drohenden Versklavung durch den ausländischen Imperialismus zu bieten.
Der Krieg und die russische Linke
„Seit dem 24. Februar…“ – Dieser Satz ist zum Wegweiser für die tiefe Spaltung geworden, die sich in allen politischen Kräften Russlands hinsichtlich ihrer Haltung zum Krieg und den sich daraus ergebenden Perspektiven aufgetan hat. Die Linke bildet da keine Ausnahme. Sie hat sich intern in drei Hauptströmungen gespalten: die pro-liberale, die sozial-chauvinistische und die revolutionäre.
Der Kern der sozialchauvinistischen Flanke der Linken ist heute die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), genauer gesagt, ihre Führung. Diese Führung hat von den ersten Tagen des Krieges an eine manipulative Rhetorik über den „Kampf gegen den Faschismus“ verwendet. Sie hat eine ultra-patriotische Position eingenommen, indem sie den imperialistischen Charakter des Krieges seitens der Putin-Clique direkt leugnete und ihn als „nationalen Befreiungskampf“ bezeichnete. Die Führung derselben Partei bereitet die groß angelegte Säuberung all jener Mitglieder vor, die offen eine Antikriegsposition vertreten haben. Die Parteimitglieder stehen also vor der Wahl: aus der Partei ausgeschlossen zu werden oder zu schweigen.
In die Fußstapfen ihres „älteren Bruders“ treten eine Reihe von alten stalinistischen Parteien sowie Anhängsel der KPRF – die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKAP), die Arbeiterpartei Russlands, die Vereinigte Kommunistische Partei, die Linksfront und andere. Ihre Position unterscheidet sich von der der KPRF nur im Detail und im Grad des Irrsinns und der Selbsterniedrigung. Ein Beispiel für Letzteres: Seit Kriegsbeginn strebte die RKAP ein politisches Bündnis mit Vertretern der offen faschistischen nationalbolschewistischen Partei („Das Andere Russland“) an.
Die pro-liberale Strömung wird von einer Reihe politischer Gruppen (hauptsächlich Sekten und Opportunisten) vertreten, die zwar formal gegen den Krieg sind und sogar behaupten, die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft anzuerkennen, sich aber in Wirklichkeit mit dem Rest des russischen Liberalismus verbündet haben. Die Positionen, die sie in ihren Publikationen vertreten, unterscheiden sich nur in Details von der Propaganda der Selenskyj-Regierung und der Regierungen einiger NATO-Staaten. Aber diese Strömung ist die schwächste von allen und in der Tat praktisch unsichtbar, da sie zumeist kaum Anzeichen von Aktivität in realen Kämpfen zeigt und es vorzieht, öffentlichkeitswirksame Erklärungen aus dem Ausland zu verfassen, wohin ein beträchtlicher Teil der ohnehin äußerst geringen Zahl von Aktivisten dieser Gruppen geflohen ist.
Die tiefe Krise der russischen kommunistischen Bewegung findet vor dem Hintergrund der relativ ruhigen Entwicklung des politischen Systems in den vergangenen Jahren und den dadurch entstandenen zahlreichen Versuchungen, „mit den Behörden zu verhandeln“ statt. In Russland, das vor etwas mehr als hundert Jahren die Geburtsstätte des Bolschewismus war und der Menschheit die unbestreitbare und unschätzbare Erfahrung der Sowjetunion bescherte, gibt es heute keine einzige linke Massenorganisation, die es wagen würde, Putins blutiges Abenteuer in der Ukraine direkt und offen zu verurteilen. Das Fehlen eines alternativen Anziehungspunktes und einer Antikriegsperspektive der Linken auf Klassenbasis, die sich von derjenigen der verkommenen, prowestlichen Liberalen unterscheidet, ist eine weitere Ursache für die Schwäche der Antikriegsbewegung.
Aber in den Reihen der kleinen, aktiven kommunistischen und linken Organisationen gibt es nicht wenige, die bereit dazu waren und sind, die Fahne des proletarischen Internationalismus hochzuhalten und zu verteidigen. Je mehr militärische Befehle und Zensur verschärft werden, desto schärfer muss die Abgrenzung zwischen den kommunistischen Internationalisten und allen fortschrittlichen Kräften zum grassierenden Nationalismus werden, gegen den wir unsere demokratischen, sozialistischen und klassenmäßigen Überzeugungen verteidigen müssen.
Der revolutionäre Flügel der Bewegung, die sich auf das Prinzip „gegen das Regime und die Liberalen, für eine unabhängige Klassenpolitik und für die Revolution“ stützt, ist noch klein. Aber sie ist dabei, ihre Kräfte aufzubauen und zu konsolidieren. Es wurden wichtige Schritte unternommen. Inmitten dieses reaktionären Krieges beginnen sich die wirklich revolutionären kommunistischen Elemente in der russischen Gesellschaft zu sammeln und leisten praktische Arbeit unter den Bedingungen eines äußerst brutalen Regimes, das an ein allgemeines Kriegsrecht grenzt. Aber wenn sie diese objektiven Schwierigkeiten überwinden kann, dann steht vor ihr die Aussicht, ein Anziehungspunkt zu werden, sobald die Massen die durch diesen Konflikt verursachte Lähmung und Verwirrung überwinden und in den Kampf eintreten – als der einzige politische Pol mit einem sauberen Banner.
Viele sehen der Zukunft mit Schrecken und Panik entgegen, aber als revolutionäre Kommunisten blicken wir mit Optimismus in die Zukunft, denn in dieser alten Welt haben wir und unsere Klasse nichts zu verlieren außer unseren Ketten. Ja, wir sind noch ein relativ kleiner Faktor, aber das macht es nur noch dringlicher für uns, die Basis für eine revolutionäre Partei zu schaffen, die in der Lage sein wird, das russische Proletariat zusammen mit seinen Klassenbrüdern und -schwestern in der ganzen Welt zum Sieg zu führen!