Anfang September kam es in mehreren russischen Städten zu Protesten gegen die von der Regierung geplanten Verschlechterungen für die russische Arbeiterklasse. Der russische Staat gab darauf die einzige Antwort, die er kennt: Repression und Verhaftungen. Von Felix Bernfeld
Nach den Plänen der Regierungspartei Einiges Russland soll das Pensionsantrittsalter für Männer von 60 auf 65 Jahre und für Frauen von 55 auf 63 Jahre erhöht werden. Zudem soll die Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent angehoben werden. Was die russische Arbeiterklasse von den brutalen Attacken auf ihren Lebensstandard hält, spiegelt sich in den Umfragewerten für Präsident Wladimir Putin wider. Diese sanken innerhalb von wenigen Wochen von 82 auf etwa 60 Prozent und werden seitdem nicht mehr publiziert. Dies zeigt, wie fragil dieses unzerstörbar erscheinende Regime tatsächlich ist. Sobald die soziale Frage auf den Plan tritt, äußert sich der angestaute Hass der Massen und richtet sich direkt gegen ihre Ausbeuter und Unterdrücker.
Protest im ganzen Land
Die Wut gegen den Gesetzesentwurf fand ihren zentralen Ausdruck in Demonstrationen, die von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation organisiert wurden und an denen russlandweit tausende Menschen teilnahmen. In Moskau versammelten sich am 2. September 10.000 und in St. Petersburg 2.000 Menschen. Weitere Proteste fanden im Ural, im Kaukasus, in Sibirien und auf der Krim statt. Unter den Demonstrierenden konnte man neben ArbeiterInnen auch Studierende, PensionistInnen und überdurchschnittlich viele Frauen vorfinden. Bei den Protesten waren u. a. Plakate mit einer roten Faust, die einen Eisbär (das Symbol von Putins Regierungspartei) boxt, zu sehen und Schilder mit Aufschriften wie: „Bis zum Rentenbeginn sterbe ich.“
Arbeiten bis zum Tod
Die durchschnittliche Lebenserwartung der russischen Männer liegt bei lediglich 67 Jahren – für Arbeiter natürlich noch geringer. In großen Teilen Russlands liegt die Lebenserwartung sogar unter diesem Wert, was bedeutet, dass diese Menschen ihr gesamtes Leben arbeiten müssten, ohne jemals überhaupt eine Pension bekommen zu können. Die ganze Situation gestaltet sich dadurch noch prekärer, dass in ländlichen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit oft ganze Familien davon abhängig sind, dass ihr Einkommen durch die Pension der Großeltern aufgebessert wird – bei einer durchschnittlichen Pensionshöhe von 170 Euro pro Monat. 15 Prozent der russischen Bevölkerung leben unter dem Existenzminimum – Tendenz steigend.
Repression und Verhaftungen
Eine Woche nach den Protesten vom 2. September fanden am 9. September Demonstrationen statt, die vom bürgerlichen Oppositionellen Alexei Nawalny organisiert wurden. Er versuchte, durch den Unmut seine eigenen Beliebtheitswerte zu steigern, jedoch schaffte er es bisher nicht, die Bewegung unter seine Kontrolle zu bekommen. In St. Petersburg nahmen wieder einige tausende Personen an dem mehrere Kilometer langen Protestzug teil, ein Umstand, der die Polizei dazu verleitete, mit Schlagstöcken gegen die Protestierenden vorzugehen und bis zum Ende des Tages über 400 Personen zu verhaften. Russlandweit wurden an diesem Tag schätzungsweise 1.000 Personen festgenommen. Das zeigt, wie tief die Angst vor dieser Bewegung der russischen Bourgeoisie im Nacken sitzt.
Unsere russischen GenossInnen intervenierten bei beiden Demonstrationen in St. Petersburg und konnten am 9. September nur knapp einer Verhaftung entrinnen. Neben dem Verkauf ihrer Zeitung „Feinde des Kapitals“ sprach ein Genosse am 2. September auf der Bühne Seine Botschaft war klar: Das in der Pensionskasse fehlende Geld muss denen genommen werden, die es der Arbeiterklasse gestohlen haben, durch Korruption, Schwarzarbeit und ganz legale Methoden der Ausbeutung. Er beendete seine Rede mit den Worten: „Uns wird gesagt: Revolution ist ein Albtraum. Für uns heißt es aber: Entweder arbeiten wir bis zum Tod oder wir ändern diese Welt. Für die Unternehmer ist die Revolution ein Albtraum. Aber für Millionen von arbeitenden Menschen bedeutet sie Befreiung!“