Nach dem Taiwan-Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi richtete sich der Blick der Medien von der Ukraine auf die Insel vor der chinesischen Küste. Die chinesische Regierung antwortete auf die Provokation mit breit angelegten Militärübungen um die Insel und ökonomischen Sanktionen gegen Taiwan. Wieso droht ein Diplomaten-Besuch den gesamten indopazifischen Raum zu destabilisieren, und was steckt hinter dem Säbelrasseln der USA und Chinas? Von Christoph Pechtl.
„Wer mit dem Feuer spielt, wird daran zugrunde gehen”, warnte Chinas Präsident Xi Jinping sein amerikanisches Pendant Joe Biden nur wenige Tage vor dem Besuch. Der Besuch Pelosis ist daher ein bewusster Versuch, China zu provozieren, da China Taiwan als sein eigenes Territorium beansprucht. Aber wieso den Modus Vivendi der gesamten Region aufs Spiel setzen?
Hinter den heuchlerischen Phrasen Amerikas über die „Verteidigung der Demokratie” und Chinas chauvinistischer Hysterie um Taiwan steckt nichts anderes, als der bestimmende imperialistische Konflikt unserer Zeit. Taiwan wurde dabei zum zentralen Austragungsort dieses Kräftemessens.
Obwohl die USA immer noch die mächtigste imperialistische Nation der Welt sind, befinden sie sich in einem Niedergang. So sank der Anteil der USA an der weltweiten Wirtschaftsleistung von über 50% nach dem Zweiten Weltkrieg auf heute 24%. Die ökonomische Schwächung manifestierte sich zuletzt in militärischen Niederlagen der USA wie in Afghanistan. Die USA können der restlichen Welt nicht mehr problemlos ihren Willen aufzwingen. Dies eröffnet Spielräume für andere imperialistische Räuber, einen Anteil an der Ausbeutung der Welt zu beanspruchen. Der Pelosi-Besuch in Taiwan sollte daher als Zeichen dienen, dass sich die USA nicht so einfach von aufsteigenden Mächten herumschubsen lassen.
Während sich hinter der Aggressivität der USA ihre eigene Schwäche versteckt, stellt die chinesische Aggression die entstehende Stärke des jungen Imperialismus dar. Das nie dagewesene Wirtschaftswachstum Chinas schuf einen ernstzunehmenden Gegenspieler für die USA. So beläuft sich der Anteil Chinas am Anstieg des weltweiten BIPs von 1990 bis 2018 auf 45%. China ist mittlerweile das größte Exportland der Welt, mit einem Anteil von 15% an exportierten Gütern weltweit, beinahe doppelt so viel wie die USA. Doch nicht nur die im Inland überschüssigen chinesischen Waren fließen auf den Weltmarkt und unterwandern dort die Konkurrenz, sondern das Kapital selbst sucht sich neue ausländische Investitionsmöglichkeiten. Mit der Annexion Hongkongs betragen Chinas Auslandsinvestitionen bereits mehr als 3 Billionen USD. Auch wenn die USA noch immer die erste Geige im Export von Kapital mit 8,1 Billionen USD spielen, hat China mittlerweile den zweiten Platz erklommen. Laut der Harvard Business Press vergab China in den letzten zwei Jahrzehnten zusätzliche 1,5 Billionen USD als Kredite an über 150 Länder. Dies macht China zum größten offiziellen Kreditgeber, noch vor den US-dominierten Institutionen Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
Der chinesische Imperialismus wirft so sein wirtschaftliches Netz über die ganze Welt. Das chinesische Kapital, eng verschmolzen mit dem chinesischen Staatsapparat, verfolgt dabei die strategischen Interessen des chinesischen Imperialismus. Durch Chinas ökonomisches Gewicht in Form von Handel und Investitionen sichert sich die Bourgeoisie Kontrolle über Rohstoffquellen und Energie, neue Märkte und diplomatische Einflusssphären. Dies bringt China in immer schärferen Widerspruch mit dem – von den USA dominierten – Status Quo.
Indo-Pazifische Region
Der „Hinterhof” Chinas, das Südchinesische Meer und der Pazifik, ist die zentrale Arena, in der die USA und China aufeinanderprallen. Seit dem Zweiten Weltkrieg war diese Region sicheres Hoheitsgebiet des US-Imperialismus, der sich auf seine Verbündeten in der Region wie Japan, Australien oder Südkorea stützte. Der Aufstieg Chinas transformierte die Region zum Zentrum des Welthandels und verwandelte China zur dort dominanten Handelsmacht. 60% des gesamten Welthandels fließen durch Ostasien und den Pazifik, wobei mehr als ein Viertel der Handelsschiffe unter chinesischer Flagge segeln. Ebenso hat China die Vorherrschaft über die gewonnenen Rohstoffe der Region inne. Mehr als die Hälfte der exportierten Meeresfrüchte, des Holzes und der Mineralien fließen nach China. Selbst für die engsten Verbündeten der USA, wie etwa Japan, ist in den letzten Jahren China zum wichtigsten Handelspartner avanciert. Den USA werden dabei Stück für Stück Zugriff auf Rohstoffe, Investitionsmöglichkeiten und Einfluss in der Region abgerungen.
Chinas ökonomische Stärke wird gefolgt von dessen militärischem Schatten, mit denselben Stärken und Schwächen. Wie Chinas Hightech-Sektor hinter den USA hinterherhinkt, so hinkt ebenso die Qualität der Militärtechnik hinter den USA her. Doch trotz der 778 Mrd. USD jährlichen Militärausgaben der USA, mehr als das 3-fache Chinas, ist China mittlerweile ein ernstzunehmender Gegner. China besitzt die größte Flotte der Welt und holt in Raketentechnik und Flugtechnik auf. Vor allem versucht China, seinem ökonomischen Einfluss in anderen Ländern zunehmend auch militärischen Ausdruck zu verleihen.
Kleinere Nationen in der Region balancieren zwischen den beiden Großmächten und versuchen vorteilhafte Investitionen für sich zu sichern, ohne die Wut des jeweils anderen auf sich zu ziehen. Doch mit der Zuspitzung des Konflikts und dem damit einhergehenden Druck der beiden Imperialisten wird der Spielraum hierfür immer enger. Der abgeschlossene Deal zwischen China und den Salomoninseln ist symptomatisch hierfür. Das Land, das bereits unter vollständige ökonomische Abhängigkeit Chinas geriet, unterzeichnete nun einen Sicherheitspakt, der die Möglichkeit einer ersten ausländischen Militärbasis Chinas in der Region enthält – auch wenn China diese Intention bestreitet. Obwohl die USA dutzende ausländische Militärbasen in der Region besitzen, sahen sie das als Warnsignal, dass mittlerweile selbst ihre militärische Monopolstellung in der Region gefährdet ist.
Taiwan
Der US-Imperialismus richtet daher seine Aufmerksamkeit immer deutlicher auf den Pazifik. Der Besuch Pelosis in Taiwan war Teil einer Reise durch mehrere Nationen, um die Anti-China-Trommel zu rühren. Taiwan wurde dabei der Kristallisationspunkt des Konflikts. Jahrzehntelang pflegte die herrschende Klasse der USA nur informelle diplomatische Beziehungen mit Taiwan. Im Sinne der „One China Politik“, wurde Taiwan von den USA nicht als eigenständiger Staat anerkannt. Doch mit der Zuspitzung des Konflikts auf Weltebene wurde dieses labile Gleichgewicht Stück für Stück unterwandert. Joe Biden sprach erstmals von Taiwan als „unabhängigem Staat”, nur um kurz darauf wieder zurückzurudern. Solche Aussagen zielen darauf ab, den US-Imperialismus als Hüter von Demokratie zu stilisieren, dem die Interessen der taiwanesischen Bevölkerung am Herzen liegen. Der Zynismus, von Demokratie zu reden und gleichzeitig eine ganze Weltregion an den Rand eines Kriegs zu treiben, ist bekannte Tradition der US-Imperialismus.
In Wahrheit ist Taiwan zentraler Baustein in der US-Politik zur Eindämmung Chinas, sowohl aus einer militärischen, als auch aus einer ökonomischen Sicht. Ohne Kontrolle Chinas über die Insel kann die Straße von Malakka, durch die der Bärenanteil des chinesischen Handels und die wichtigsten Rohstoffe fließen, nicht militärisch gesichert werden. Außerdem nimmt Taiwan eine zentrale Rolle in der weltweiten Arbeitsteilung ein. Der wichtigste Mikrochip-Hersteller (TSMC) hat seinen Sitz auf der Insel. Die enge Verflechtung Taiwans mit der chinesischen Wirtschaft bietet daher einen Hebel für Washington, Druck auf China auszuüben. China hinkt in diesem Sektor dem Westen hinterher und ist weitgehend von der taiwanesischen Produktion abhängig. Die USA nutzen dies als Druckmittel, um ihren imperialistischen Gegner zu schwächen. Sie investieren einerseits in die heimische Produktion, subventionieren aber gleichzeitig die Produktion in US-nahen Nationen in Ostasien. Diese Subventionen für Firmen sind daran gekoppelt, keinen weiteren Ausbau der Produktion in China selbst vorzunehmen, um zu verhindern, dass China im Hightech-Sektor zum Westen aufschließen kann.
Die „Kommunistische“ Partei Chinas, die durch die US-Provokationen ebenso ihr Prestige in Gefahr wähnt, schlägt einen immer härteren Ton gegenüber dem „separatistischen” Taiwan an. Zusätzlich kam Xi Jinping innenpolitisch unter Druck, nachdem seine „Zero-Covid” Politik und harte Lockdown-Maßnahmen zu immer größeren sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen. Xi Jinping, der entgegen der Norm eine dritte Amtsperiode im November anstrebt, kann sich keine Schwäche in der Außenpolitik erlauben. Die aggressive Antwort Chinas zielt vor allem darauf ab, durch nationalistische und chauvinistische Hysterie von den internen Problemen abzulenken. Langfristig ist jedoch die „Vereinigung” mit Taiwan eine Lebensnotwendigkeit für den chinesischen Imperialismus.
Wirtschaftlicher Protektionismus und „Entflechtung“
An einem direkten militärischen Konflikt zwischen den Atommächten USA und China, welcher die Gefahr gegenseitiger Vernichtung birgt, ist keine der beiden herrschenden Klassen interessiert. Auch die enge Verflechtung der beiden Wirtschaften und gegenseitige Abhängigkeit bereiten den Kapitalisten Kopfzerbrechen. Mit der Zuspitzung der Krise wird der Protektionismus die bewusste Politik der imperialistischen Nationen: Sie versuchen die eigene Wirtschaft gegenüber anderen Nationen zu bevorzugen, indem sie Zölle oder Handelsbeschränkungen verhängen und die eigene Produktion subventionieren. Vorerst werden beide Seiten in diesem Sinne versuchen, durch ökonomische Sanktionen den Gegner niederzuringen und ihre strategischen Abhängigkeiten zu verringern. Doch dieser Prozess wird enorm widersprüchlich und vor allem teuer.
Chinesische Waren, die einen insgesamten von Wert von mehreren Milliarden USD ausmachen, unterliegen immer noch Zöllen und Einfuhrbeschränkungen in die USA, die schon in der Trump-Ära verhängt wurden. Zuletzt zeigten sich jedoch offene Risse in der Biden-Administration über den China-Konflikt. Biden selbst erklärte vor Pelosis Besuch, er „sei im Augenblick keine gute Idee”. Ebenso wurden Stimmen innerhalb der Demokraten lauter, die Sanktionen gegen China gesamthaft einzustellen. China ist nicht nur einer der wichtigsten Absatzmärkte für die USA, sondern auch immer noch eines der wichtigsten Investitionsfelder. Eine Entflechtung der Wirtschaft ist aus der Sicht vieler Bürgerlicher suizidal. Doch imperialistische Konflikte folgen einer eigenen Logik, die selbst den kurz- und mittelfristigen Interessen der Kapitalisten oft widersprechen.
Im August zogen sich fünf der wichtigsten chinesischen Staatsunternehmen von der Wall Street zurück, der führende Elektrobatterie-Hersteller Chinas strich seine Pläne, eine Multimilliarden-Produktionsstätte in den USA zu bauen, und der Elektronikkonzern Huawei ächzt zunehmend unter dem Druck der US-Sanktion. Immer mehr Konzerne versuchen, ihre Lieferketten in weniger riskante Gewässer zu verlegen. Die Financial Times vermerkte, eine Entflechtung sei ohnehin unmöglich. Sie vergaßen hinzuzufügen, dass die USA und China es dennoch versuchen werden.
Der China-US-Konflikt ist nicht nur Ausdruck der Krise des Kapitalismus, sondern wird in Zukunft ein entscheidender Motor für die zunehmende Instabilität. Die Epoche, die vor unseren Augen Gestalt annimmt, ist jedoch nicht nur die Epoche von Kriegen zwischen Nationen – sie ist ebenso die Epoche von Kriegen zwischen den Klassen. In ganz Südostasien sitzen die Herrschenden auf Dynamit. Die Zündschnur von Sri Lanka über Bangladesch nach Vietnam ist längst gezündet. Nur die Arbeiterklasse, das Dynamit an den Grundfesten unserer Gesellschaft, kann dem imperialistischen Teufelskreis aus Kriegen und Krisen ein Ende setzen.
(Funke Nr. 206/30.8.2022)