Das de-facto-Abtreibungsverbot in Polen ist in Kraft getreten. Tausende protestieren weiter gegen die Verschärfung. Sarah Ziermann-Österreicher berichtet.
Bereits im Funke Nr. 188 berichteten wir von den landesweiten Protesten gegen das Abtreibungsverbot in Polen. Durch eine weitere Einschränkung des ohnehin restriktiven Abtreibungsgesetzes kommt es zu einem de-facto-Verbot, das vor allem diejenigen trifft, die sich keine Behandlung im Ausland leisten können. Die Regierung hat versucht, die Demonstrierenden durch eine Hinhaltetaktik auszubrennen. Seit am 28. Jänner – nach mehr als drei Monaten – das Gesetz durch das Verfassungsgericht tatsächlich in Kraft gesetzt wurde, gehen die Proteste mit unverminderter Kraft weiter. Auch unsere Schwesterorganisation Czerwony Front beteiligt sich am Kampf und geht gemeinsam mit tausenden Menschen seit Wochen auf die Straße. Dabei kritisiert sie scharf die Opposition, die nur zum „liberalen Kompromiss“ zurückmöchte, und fordert sichere und kostenlose Abtreibungen für alle Frauen.
Die reaktionäre Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) hat die Verschärfung zwar in die Wege geleitet, aber zu glauben, dass die aktuelle Situation nur ihre Schuld sei, ist falsch. Die nationalistischen Vorgängerparteien der PiS haben im Einvernehmen mit der heutigen Opposition vor 30 Jahren – im Rahmen der Restauration des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Stalinismus – den Grundstein für das jetzige Abtreibungsgesetz gelegt, um die Unterstützung der katholischen Kirche zu erlangen. Zwar kritisiert die Opposition die Regierung, aber selbst jetzt fordern die größte Oppositionspartei PO (die liberale „Bürgerplattform“), die PSL („Polnische Bauernpartei“) und Szymon Hołownias neue Bewegung „Polen 2050“ nur die Rückkehr zum Status vor der Verschärfung. Dieser „liberale Kompromiss“ würde noch immer eines der restriktivsten Gesetze in Europa und für Viele ein Abtreibungsverbot bedeuten. Rund 1.000 legale Abtreibungen pro Jahr fanden nach dem alten Gesetz statt. Dazu gab es jährlich 200.000 illegale Schwangerschaftsabbrüche. Von den legalen fanden über 90 Prozent aufgrund schwerer fötaler Fehlbildungen statt. Das soll nun verboten werden. Laut dem neuen Gesetz sind Frauen gezwungen, unheilbar kranke Kinder zur Welt zu bringen, damit sie „getauft und beerdigt“ werden können, wie PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczynski fordert.
Das Ziel muss eine sichere und kostenlose Abtreibung für jede Frau, die sie will oder braucht, sein – aus welchem Grund auch immer. Verbunden werden muss das mit der Einführung einer universellen Sexualerziehung in den Schulen, die die Menschen zur Entscheidungsfähigkeit ermächtigt, und mit einer sofortigen Verbesserung der Qualität und der Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung, damit Schwangerschaftsabbrüche auf Wunsch der Frau mit den sichersten medizinischen Methoden durchgeführt werden können.
Massenbewegungen wie jene in Polen können zwar den konservativen Einfluss in der Gesellschaft zurückdrängen und damit die gesetzliche Situation der Frau entscheidend verbessern. Doch erst die soziale Befreiung der Arbeiterklasse durch die Enteignung des Kapitals wird die Ausbeutung der Frauen als industrielle Reservearmee und Reproduktionsmaschinen in Haushalt und Kinderzimmer beenden und damit die materielle Grundlage für ihre allumfassende Selbstbestimmtheit herstellen. Bis dahin wird jeder erkämpfte Fortschritt für die Frau je nach wirtschaftlicher und ideologischer Konjunktur weiter umstritten bleiben.
Wie verbissen Staat und Kirche in Polen darum kämpfen, die Frau als zweite Kategorie des Menschen zu halten, zeigt sich daran, dass nun von der polnischen Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Marta Lempart, Chefin der in der Protestbewegung führenden Organisation „Allpolnischer Frauenstreik“, aufgenommen wurden. Es droht ihr eine Haftstrafe von bis zu acht Jahren. Daher müssen die Proteste weitergehen. Um erfolgreich zu sein, ist es aber notwendig, dass sie sich gegen jeden Ausdruck der Barbarei des Kapitalismus (z. B. gegen Zwangsräumungen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohnrückhaltungen durch Unternehmen Missmanagement der Corona-Pandemie durch die PiS-Regierung usw.) wenden. So können die anderen Teile der Arbeiterklasse und der Jugend gewonnen werden. Eine solche mächtige Massenbewegung – ausgestattet mit einem revolutionären Programm zum Aufbau des Sozialismus – kann dann tatsächlich siegen und damit den Grundstein für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung legen. Dafür kämpfen die MarxistInnen von Czerwony Front.
(Funke Nr. 191/17.2.2021)
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Workshop: Der Kampf gegen das Abtreibungsverbot in Polen
Am 22. Oktober 2020 urteilte der Verfassungsgerichtshof in Polen, dass das Gesetz zur Erlaubnis von Abtreibungen von missgebildeten Föten verfassungswidrig sei, womit der Zugang zu legalen Abtreibungen noch einmal stark erschwert wurde. Als Reaktion darauf brachen in 60 Städten Proteste aus, die sich in den Nächten vom 23. und 24. Oktober in Stadtzentren, vor Büros der regierenden PiS-Partei und religiösen Verwaltungsgebäuden sammelten. Am 25. Oktober wurden Sit-Ins in katholischen Kirchen organisiert, in einigen Städten wie Katowice und Poznań wurden so auch Sonntagsmessen gestört.
Am 23. Oktober mobilisierte der Premierminister Mateusz Morawiecki die Militärpolizei, um der regulären Polizei ab 28. Oktober bei der „Aufrechterhaltung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung“ zu helfen. Für diesen Tag war ein landesweiter Frauenstreik geplant. Am 30. Oktober gingen in der Hauptstadt Warschau über 100.000 Menschen auf die Straße.
Beim Workshop wird ein Mitglied der marxistischen Organisation „Czerwony Front” über die Abtreibungsgesetze in Polen, deren historischen Kontext und ihren Grundlage in den Klassenbeziehungen referieren. Dabei werden wir auch Auswirkungen der Proteste auf die Politik und das Bewusstsein der Massen (insbesondere von Jugendlichen) diskutieren sowie die Rolle der katholischen Kirche analysieren. Wir müssen uns auch über die Auswirkungen bewusst sein, die die Pandemie und Wirtschaftskrise auf den Verlauf der Proteste haben. So können wir analysieren, wie die Situation in Polen sich gesellschaftlich so zugespitzt hat, wie es seit dem Ende des Stalinismus nicht mehr der Fall war.