Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi hat im Auftrag der EU eine aufschlussreiche Studie über die (fehlende) „Wettbewerbsfähigkeit Europas“ erstellt. Der ehemalige „Retter“ des Euros skizziert als Lösung eine imperialistische Offensive. Von Emanuel Tomaselli.
Draghis Studie spricht eine deutliche Sprache: Die EU wird von den USA und China abgehängt. Er analysiert: Einst hat die EU vom globalen Freihandel besonders profitiert, findet sich heute aber auf einem „ungleichen globalen Spielfeld“ wieder, das man nun „zurechtrücken“ müsse. Das zweite große Problem ist die mangelnde Innovationskraft der europäischen Industrie, wodurch die Arbeitsproduktivität in Europa von den USA und China abgehängt wird (siehe Grafik).
Digitalisierung, Dekarbonisierung und Rüstung seien die drei großen Zukunftsfelder, in die nun investiert werden muss, um im internationalen Wettbewerb der Monopole Siege zu erringen. Dafür müsse der Investitionsanteil an der Wirtschaftsleistung (BIP) um 5 % angehoben werden. 27 % des BIP sollen also in Investitionen fließen, das gab es zuletzt in den boomenden 1960ern. Dies entspricht Mehrausgaben von 750-800 Mrd. € jährlich. Weil dies private Firmen nicht leisten werden, solle ein neuer „Marshallplan“ aufgelegt werden, viermal größer als jener nach dem Zweiten Weltkrieg. Höhere Budgetdefizite für diese Investitionen seien in Ordnung, so Draghi.
Doch Kapital allein genügt nicht. Laut Draghi werden Industrie, Forschung, Bildung, strategische Handelspolitik, Rohstoffsicherung, Autonomie in Schlüsseltechnologien und militärische Macht als politische Aufgabenfelder verstanden, die man koordiniert und zielstrebig verfolgen müsse. Dazu müsse der bisher auf Konsens aller Mitgliedstaaten beruhende politische Prozess in Europa „dynamisiert“ werden. Um ausreichend Durchschlagskraft auf dem Weltmarkt zu entwickeln, müssen größere europäische Konzerne entstehen, wofür es mehr Zentralisierung bräuchte (in allen Bereichen: Kapitalmarkt, Energieversorgung, Forschung, Top-Universitäten, EU-Budget und EU-Schulden, Außenpolitik …). Denn:
„Europa muss auf eine Welt mit weniger stabiler Geopolitik reagieren, in der Abhängigkeiten zu Schwachstellen werden und es sich für seine Sicherheit nicht mehr auf andere verlassen kann. (…) Eine moderne Agenda zur Wettbewerbsfähigkeit muss auch die Sicherheit umfassen.“
Problem: Europa wird abgehängt
Draghi zeichnet ein Bild des Abstiegs der EU in den letzten Jahren: Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum seit 2002 liegt in den EU-27-Ländern bei 1,4 %, in den USA bei 2 % und in China bei 8,3 %. Faktoren, die das Wachstum der EU in dieser Periode noch getragen haben – die Ausweitung des Welthandels (das machte hohe 43 % des EU-27-BIP aus); billige Energie aus Russland; niedrige Militärausgaben durch die globale US-Hegemonie – sind heute schon Geschichte.
Allein die Abkoppelung vom russischen Gas habe ein Jahr Wirtschaftswachstum vernichtet. Die Produktivität der europäischen Wirtschaft entwickelte sich mit plus 0,7 % pro Jahr gleichzeitig nur etwa halb so schnell wie jene der USA, die in der Informationstechnologie führend ist. Man habe die Digitalisierung schlicht verschlafen und seit der Finanzkrise 2008 fallen die privaten Investitionen in Europa besonders stark zurück. Das Fehlen eines geeinten europäischen Bankenmarktes und die weitgehend nicht erfolgte Privatisierung des Pensionssystems bedeuten, dass zu wenig Kapitalmasse für Investitionen in neue Technologien zur Verfügung steht, womit der Produktivitätsrückstand sich perspektivisch beschleunigt. Denn Draghi schätzt, dass durch die Anwendung von Artificial Intelligence (AI) allein in der europäischen Pharmaindustrie Zusatzprofite von bis zu 110 Mrd. € zu holen wären.
Aber die „Kleinheit der europäischen Firmen“ und der nationalen Märkte Europas (mit ihren unterschiedlichen Steuer- und Fördermodellen, technischen Regulatorien, kleinen Datensätzen …) ermögliche es nicht, die Skalierungseffekte der AI auszunützen. Eine AI-Modellierung etwa zur Entwicklung neuer Werkstoffe würde rund eine Mrd. Euro kosten, und die Kosten würden mit jedem weiteren Anwendungsgebiet explodieren. So viel Risikokapital kann kein europäischer Konzern aufbringen. Kein einziges der zehn größten Unternehmen, die an der Entwicklung von Quantencomputern forschen, hat seinen Sitz in der EU.
Die nationalstaatlich fragmentierten Energie- und Datenkabelnetze schränken überhaupt den effizienten Betrieb von Rechenzentren in Europa ein. Die derzeit größten Datencenter verbrauchen im Durchschnitt deutlich über 100 Megawatt – das entspricht etwa der Hälfte des durchschnittlichen Stromverbrauchs der ÖBB oder der Stadt Linz. Gewünscht werden unterdessen, zum Beispiel von Sam Altman (OpenAI), Rechenzentren im Leistungsbereich von 5 Gigawatt (entspricht ca. fünf AKW).
Draghi warnt: Bleibt die Produktivitätssteigerung auf dem Niveau des vergangenen Jahrzehnts, bedeutet dies, dass das EU-27-BIP bis 2050 stagniert. Denn allein aufgrund der Altersstruktur des Kontinents verkleinert sich ab 2040 der Arbeitsmarkt um zwei Mio. Lohnabhängige pro Jahr. Weniger Lohnabhängige, die ausgebeutet werden, bedeutet weniger Profit, so einfach ist das. Eine Kombination aus hoher Staatsverschuldung, anhaltend „hoher“ Zinsen und höheren Ausgaben für die Investitionen in die Dekarbonisierung, Digitalisierung und Aufrüstung könnte eine neue Staatsschuldenkrise auslösen, selbst ohne neue wirtschaftliche oder militärische Krisen (und wir wissen: das ist ausgeschlossen).
Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit
Die Hälfte der Unternehmen sehen laut Draghi in den Energiepreisen Europas ein Investitionshemmnis. Die gegenwärtige EU-Gesetzgebung bedeute, dass energieintensive Produktionszweige (Chemie, Metall, Papier) in den kommenden 15 Jahren 500 Mrd. € investieren müssen, um die gesetzlich vorgegebenen CO2-Einsparungsziele zu erreichen. Im Verkehrswesen müssen (bis 2050) jährlich 100 Mrd. € investiert werden. Letztlich müsse man diese Grundstoffproduktionen aus Sicherheitsgründen in Europa halten. „Clean tech“ – also „grüne Technologien“ – könnte die Energieerzeugung langfristig verbilligen und neue innovative Produkte mit Weltmarktpotential hervorbringen.
Allerdings hinkt dieser Plan, weil China mittlerweile für viele neue Technologien bereits die Führerschaft in Entwicklung und Produktionskapazität übernommen hat. Im Jahr 2030 soll Chinas Akkuproduktion den Weltverbrauch befriedigen können und seine Solaranlagen-Produktionskapazität das doppelte des globalen Verbrauches ausmachen. Die europäische Windanlagenerzeugung ist auch stark von der chinesischen Konkurrenz bedrängt, das könnte sich bei anderen Technologien wiederholen. Draghi beschreibt, dass in den Jahren 2015-19 noch 65 % der Patente für Wasserstofferzeugung in der EU angemeldet wurden, in der Periode von 2020-22 sank der Anteil auf 10 %. Selbst wo es Innovationen gebe, seien Konzerne und die europäischen Kapitalmärkte im Weltmaßstab zu klein.
China würde die Produktion von „clean tech“ doppelt so stark subventionieren wie die EU, die USA sogar 5- bis 10-mal mehr. Falls China in der Elektrofahrzeugindustrie einen ähnlichen Subventionspfad einschlägt, würde die EU-Inlandsproduktion von Elektrofahrzeugen um 70 % zurückgehen und der Weltmarktanteil um 30 % sinken. 14 Millionen Arbeiter sind in der Automobilindustrie beschäftigt.
Draghi kritisiert, dass der Ausstieg aus der Verbrennertechnologie für das Jahr 2035 von der EU beschlossen wurde, ohne einen Gesamtplan zu entwickeln. Nun schlägt er eine Mixstrategie je nach Industriesparte vor: Freihandel; erzwungener Technologietransfer und Mindestquoten für europäische Bestandteile; vollständige Abschottung; Dauersubventionen für ausgesuchte „clean tech“-Industrien, um sie zu Weltmarktgiganten aufzublähen; staatliche Abnahmegarantien für junge Industriezweige; eine Rettung der Autoindustrie; sowie das Ende der CO2-Bepreisung für energieintensive Industrie. Die Nachteile aus „unfairem Wettbewerb aus dem Ausland und der anspruchsvollen Klimaziele“ müssten ausgeglichen werden.
Militarisierung
Der Kampf um die Märkte und Einflusszonen wird klarerweise nicht nur auf dem Heimmarkt geführt, sondern weltweit. Draghi beschreibt:
„Europa sieht sich nun mit konventioneller Kriegsführung an seiner Ostgrenze und hybrider Kriegsführung überall konfrontiert, auch Angriffe auf Energieinfrastruktur und Telekommunikation, Eingriffe in demokratische Prozesse und die Waffe der Migration. Gleichzeitig verlagert sich die strategische Doktrin der USA von Europa weg und hin zum pazifischen Becken (…) angetrieben von der wahrgenommenen Bedrohung durch China. Infolgedessen wächst der Bedarf an Verteidigung.“
Abhängigkeiten von kritischen Rohstoffen und Zukunftstechnologien sind „strategische Schwachstellen“, die etwa ein Fünftel der EU-Importe umfassen.
Der Zugang zu Rohstoffen und der Aufbau einer Lieferkette für die Chipproduktion wird teuer werden, da nicht mehr die effizienteste Produktion, sondern die Kontrolle über die Produktion zum zentralen Kriterium wird. China habe sich in Afrika einen großen Vorsprung erarbeitet. Es sei eine Schwäche Europas, dass der Handel mit Rohstoffen privaten Akteuren und dem Markt überlassen sei. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Vorzüge des „freien Marktes“ auf Weltebene gepriesen werden. Stattdessen skizziert Draghi in klassisch imperialistischer Manier:
„Die EU muss eine echte ‚Außenwirtschaftspolitik‘ entwickeln, die auf Sicherung kritischer Ressourcen basiert.“
Im nächsten Jahrzehnt müssen die Rüstungsausgaben dafür um 500 Mrd. € gesteigert werden, zitiert Draghi Zahlen der EU-Kommission. Man habe sich zu sehr auf die USA verlassen und die eigenen Militärausgaben vernachlässigt. Die Rüstungslieferungen in die Ukraine haben die Lagerbestände geleert und gezeigt, dass auch die Rüstungsindustrie zu klein dimensioniert sei. Technologisch seien europäische Panzer, U-Boote etc. jenen der USA ebenbürtig oder gar besser. Aber die Innovationskraft der europäischen Waffenindustrie drohe ins Hintertreffen zu kommen, da die USA jährlich 130 Mrd. € allein für militärische Forschung ausgeben, und die EU nur 10,7 Mrd. € (2022). Die Finanzen für die Entwicklung komplexer Militärsysteme der Zukunft können von den einzelnen europäischen Nationalstaaten nicht aufgebracht werden, daher auch hier: Mehr Europa, um Drohnen, Hyperschall-Raketen, Energie-Waffen, militärische AI, Meeresboden- und Weltraumwaffen zu entwickeln! Stattdessen würden aktuell viele Kapazitäten verschwendet, weil in der EU 12 verschiedene Kampfpanzer hergestellt werden.
Imperialismus aus dem Lehrbuch
Draghis Bericht ist eine Blaupause für die Tendenzen des modernen Kapitalismus. Er drückt in den Worten eines ernsthaften Kapitalstrategen aus, was schon Lenin vor über hundert Jahren über die höchste und letzte Stufe des Kapitalismus, den Imperialismus, zu sagen hatte: Gekennzeichnet ist er durch allgemeine gesellschaftliche Fäulnis unter der eisernen Faust immenser Konzentration von Kapital und Macht. Profitabel einsetzen kann man die moderne Technologie nur, wenn man den Weltmarkt beherrscht. Diese Herrschaft muss aber (gewaltsam) erkämpft werden.
Was ein immenses Potential für die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse in einer weltweiten demokratischen Planwirtschaft wäre, wird im Zwangskorsett von Nationalstaat und Privateigentum so zur Triebkraft für Militarismus gegenüber anderen Kapitalgruppen und Nationalstaaten und soziale Angriffe gegenüber der „eigenen“ Arbeiterklasse. Draghi untermauert diese dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen mit Zahlen, Daten und Fakten.
Dabei nimmt er fest die Klassenposition der herrschenden Klassen Europas ein. Sein Bericht soll die politischen Eliten wachrütteln, um die Herausforderungen der imperialistischen Konkurrenz der USA und Chinas anzunehmen und ihnen offensiv entgegenzutreten. Die imperialistischen Leitgedanken seines Reports prägen die Politik in Europa schon jetzt. Aber der Haken an Draghis Perspektive ist: Einen letztendlich dafür notwendigen europäischen Zentralstaat wird es nicht geben. Der europäische Kapitalismus ist und bleibt nationalstaatlich strukturiert und es gibt keine soziale Klasse, die im Kapitalismus der Träger einer geschlossenen imperialistischen europäischen Zentralmacht sein könnte.
Draghi hat recht darin, dass viele Zwergstaaten, darunter Österreich, im Konzert der großen EU-Mächte vernachlässigbare Größen sind, deren Interessen man in Berlin oder Paris (und auch Peking und Washington) biegen kann. Aber wenn er etwa einen einzigen, gemeinsamen europäischen Panzer fordert, oder ein bis zwei europäische Mega-Banken, die auf Weltebene die Konkurrenz herausfordern können, stellt sich sofort die Frage: Wer im Konzert der sich gegenseitig spinnefeinden europäischen herrschenden Klassen kontrolliert diese letztlich? Welches Land kontrolliert Europa selbst, Deutschland oder Frankreich? Und mit wem verbünden sich Italien, Spanien oder Polen? Die letzten Jahre zeigen, dass die Krise des Kapitalismus diese Widersprüche noch zuspitzt, anstatt sie aufzuheben, was aus Sicht des Kapitalstrategen notwendig wäre.
Die innereuropäischen nationalen Widersprüche können auf kapitalistischer Basis nie friedlich gelöst werden. Die globale militärische Macht der USA schwindet und ihre Staatsfinanzen sind völlig zerrüttet, China ist zunehmend von immenser Überproduktion geprägt. Perspektivisch aber bleibt Europa gegenüber diesen imperialistischen Konkurrenten durch seine Zersplitterung weiter im Hintertreffen, im Weltmaßstab ist und bleibt Europa ein großer Balkan. Diese Schwäche des Kapitalismus in Europa ist eine Chance für die Arbeiterklasse die Herrschenden zu stürzen, die Konzerne zu enteignen, die Grenzen niederzureißen und eine friedliche, demokratische Planwirtschaft innerhalb der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas zu errichten.
(Funke Nr. 227/07.10.2024)