Alle 160 Minuten wird in Mexiko eine Frau ermordet. Was als Reihe von scheinbaren Einzelfällen begann, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einer grauenvollen Pandemie. Über den Kampf dagegen berichtet Vincent Angerer.
Seit dem ersten dokumentierten Femizid (Frauenmord) im Jahre 1993 steigt die Zahl an Morden in Mexiko jährlich. Allein 2018 wurden 3,580 Frauen ermordet, 2019 ist die Zahl von ermordeten Frauen pro Tag von 9 auf 10 gestiegen. Betroffen sind vor allem Frauen aus der Arbeiterklasse. Oft bleibt eine ernsthafte Untersuchung der Behörden aufgrund von Desinteresse, Bürokratie und Korruption aus. Viele Morde sind außerdem mit dem um sich greifenden illegalen Drogengeschäft verbunden, das seit Jahrzehnten in Mexiko wächst. In letzter Instanz sind die Zustände in Mexiko nur ein konkreter Ausdruck der allgemeinen Unterdrückung der Frau im Kapitalismus.
Kapitalistischer Zerfall & Frauenmorde
Oft wird es, auch gerne in Österreich, so dargestellt, als ob Gewalt gegen Frauen lediglich importiert wäre und von „kulturfremden“ Ausländern ausgehen würde. Feststeht, dass auf der ganzen Welt der überwiegende Großteil aller Morde und Gewalttaten in der Familie stattfindet bzw. vom Partner ausgeht. Die vielen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die unsere Körper und Psyche zwischen sich zerreiben – Arbeitsdruck, der Stress durch Zukunftsängste und Leistungsanforderungen – nagen täglich an unseren sozialen Beziehungen, umso mehr jenen innerhalb der Familie. Der Machismo, die tiefgreifenden Besitzansprüche an Frauen, einzementiert durch die häufige ökonomische Abhängigkeit vom Partner sowie die Erwartung, dass man in den eigenen vier Wänden, gegenüber der ‚eigenen‘ Frau so sein darf, ‚wie einem gerade ist‘ fördern die Gewalt.
Es ist kein Zufall, dass die Femizide in Mexiko mit einem massiven Absturz der Lebensbedingungen der letzten 40 Jahre einhergehen. Mit dem Ende des Nachkriegs-Booms in den 1970ern tritt der Kapitalismus auch in Mexiko in die Krise. Die sozialen Errungenschaften werden zunichte gemacht. Ein kleiner Teil der Bourgeoisie häuft riesige Gewinne an, doch für den Großteil der Gesellschaft bedeutet die Krise einen rasanten Anstieg von Armut, Druck, Unsicherheit. Die Arbeitslosigkeit steigt, der Druck auf die Familie steigt massiv, Menschen werden durch Migration zerrissen und entwurzelt. Der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen breiten sich aus. Kinder wachsen in turbulenten und prekären Verhältnissen auf. Studien zeigen, dass Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, später häufiger zu Gewalt neigen.
Die Bewegung gegen Frauengewalt in Mexiko
Gegen die tägliche Entfremdung und Unterdrückung, die sich in der Krise des Kapitalismus nur weiter zuspitzt, treten in den letzten Jahren weltweit Millionen von Frauen auf, die, vereint in ihrem Kampfeswillen, den Status Quo nicht mehr akzeptieren wollen. Der Frauenstreik am 8 März 2018 in Spanien etwa wurde selbst von der spanischen Tageszeitung „El Periódico“ als „mehr als ein Streik, fast schon eine Revolution,“ beschrieben. Mehr als 6 Millionen ArbeiterInnen nahmen teil. In Irland wurde das Recht auf Abtreibung erkämpft, in Polen Angriffe auf bestehende Rechte abgewehrt.
Die Frauenmorde in Mexiko sind ein besonders barbarischer Ausdruck eines Systems, das an allen Ecken und Enden morsch ist. Doch als Antwort auf die täglichen Erniedrigungen hat sich auch in Mexiko eine wahre Frauenbewegung herausgebildet, deren radikalsten Teile das System als Ganzes in Frage stellen. Als Reaktion auf die Vergewaltigung einer Minderjährigen durch Polizeiangestellte in Mexiko-Stadt im Jahr 2019 und den dreisten Versuch, Beweise zu vertuschen, wurde innerhalb weniger Tage eine Demo von mehreren Tausend TeilnehmerInnen organisiert. Obwohl es nicht gelang, die Proteste mit anderen Protesten zu verbinden und eine landesweite Tragweite aufzubauen, zeigten sie das schiere Ausmaß an Wut, das unter der Oberfläche brodelt.
Demonstration am Weltfrauentag 2020 in Mexiko, Quelle: Marxismo.mx
Die vergangenen Monate und Wochen zeigen einen rasanten Anstieg an Militanz im Kampf gegen Femizide in Mexiko. In Mexiko- Stadt kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Die jüngsten Proteste sind nicht nur eingebettet in das globale Aufflammen der Frauenbewegung, sondern auch in eine Welle von Aufständen und Massenbewegungen, die im letzten Jahr durch Lateinamerika gefegt ist. In Chile, Ecuador, Puerto Rico, Haiti, Kolumbien, Haiti etc. kam es zu Massenbewegungen, die teilweise revolutionäres Ausmaß annahmen. In all diesen Bewegungen drückt sich, auf verschiedene Arten, die Unhaltbarkeit des bestehenden Systems aus.
Nur wir selbst können uns befreien!
Seit vier Monaten wird an der UNAM, einer der größten Universitäten Lateinamerikas, gegen Frauengewalt und Belästigungen an der Universität gekämpft. Die Philosophie- Fakultät wird bestreikt, ibereits 11 weitere Fakultäten haben beschlossen sich dem Streik anzuschließen. Die Studierenden fordern eine Aufklärung von Missbrauchsfällen an der Uni. Seit kurzem werden Versammlungen der Studierenden gehalten, um auf demokratischer Basis zu entscheiden, wie gekämpft wird. Die Proteste erheben eine Reihe von Forderungen von der Entlassung gewisser Zeitungsredakteure, die Bilder einer ermordeten Frau publizierten, bis hin zur Forderung an den Staat endlich dezidiert gegen Frauenmorde durchzugreifen. Teilweise kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen am Campus, Bilder von brennenden Gebäuden gehen durch die mexikanischen Medien.
Im Kontext der aufgestauten Wut, die sich in immer häufigeren Intervallen entlädt ist die mediale Aufmerksamkeit groß. Der Druck auf den aktuellen Präsidenten Mexikos, den linken Andrés Manuel López Obrador (AMLO) endlich etwas zu tun, ist groß. Am 14. Februar wurde AMLO im Rahmen bei einer Pressekonferenz von einer Journalistin schonungslos zur Frage der Frauenmorde vernommen. Einige Stunden zuvor am Morgen haben feministische AktivistInnen die Pforten des Regierungssitzes mit Farbe beworfen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen findet eine Demonstration gegen Frauengewalt rund um den jüngsten Mord der 25-jährigen Ingrid Escamilla statt.
Die aktuelle Regierung von AMLO wurde 2018 auf einer Welle von Protesten ins Amt gebracht, wobei auch die Frage der Gewalt keine unbeachtliche Rolle spielte. Doch auch unter AMLO steigt die Zahl der Frauenmorde, dieses Jahr wurden bereits über 250 Frauen ermordet, unter ihnen zwei führende AktivistInnen im Kampf gegen die Gewalt. AMLO selbst will eine Reform der Justiz. Tatsächlich bleibt noch immer der Großteil aller Femizide unaufgeklärt. Im Gegenteil schützt die bürokratische, korrupte Justiz sogar oft genug die Täter. AMLOs Vorschlag ist aber deshalb unrealistisch, weil er ebenden Staat, dessen Justiz in der Frage der Frauenmorde versagt, reformieren will und durch ihn Verbesserungen erwirken will. Doch dieser Staat ist eben bis zum Hals in Korruption, der Mafia und Verbindungen mit den Kapitalisten verstrickt – er ist das Instrument der Kapitalistenklasse.
Aber selbst eine gerechtere Justiz würde dennoch an der Situation der ökonomischen Abhängigkeiten und Verarmung, die wesentlich Mitverantwortlich für Gewalt in Mexiko – auch jener an Frauen – sind, nichts ändern. In diesem Bereich hat AMLO Pläne, die Sozialausgaben zu erhöhen, um Armut zu bekämpfen. Doch diese möchte er umsetzen, ohne dabei einen offenen Kampf gegen die Macht der Kapitalisten zu führen: er will weder die Unabhängigkeit der Bank von Mexiko, noch die niedrigen Staatsausgaben, die Finanzpolitik oder das Eigentum der KapitalistInnen an Produktionsmitteln (Fabriken, Land…) antasten.
Stattdessen will er seine Sozialpläne durch Korruptionsbekämpfung finanzieren – ein Kampf, der aber, wenn man ihn ernsthaft führen will, gegen dieselben Personen, die mit dem Staat verbandelt und im Besitz des Reichtums des Landes sind gerichtet ist, kurz ein Kampf, der nur gewonnen werden kann, wenn man das System insgesamt angreift. Solange der Kampf nicht direkt gegen das Kapital geführt wird und der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums unberührt ist, bleiben AMLO nur Krümel übrig. Und solange der Staat Instrument der Bourgeoisie bleibt, wird sich an der wesentlichen Lage kaum etwas ändern. Nur der Druck der Massen, könnte AMLO genügend Fahrtwind geben, um sich in gewissen Bereichen tatsächlich von der Bourgeoisie abzuwenden.
Genau deswegen ist es notwendig, selbst aktiv zu werden. Die Versammlungen der Studierenden an der UNAM sind ein wichtiger Schritt um eine größtmögliche Zahl von Menschen zu mobilisieren. Nur wenn sie verallgemeinert, kann Druck auf das Rektorat aufgebaut werden.
Es ist zudem zentral, dass die Bewegung der Studierenden auf die Arbeiterklasse ausgeweitet wird. Denn während man Blockaden und Streiks an Unis aussitzen kann, setzen Streiks, die die Profite der KapitalistInnen gefährden, Regierung und Bosse massiv unter Druck. Doch um ihre wahre Stärke zu entfalten, muss die gesamte Arbeiterklasse gemeinsam kämpfen. In letzter Instanz leiden wir alle unter dem Kapitalismus. Nur durch eine revolutionäre Überwindung dieses Systems, können wir den Menschen von den ökonomischen Zwängen und dem Zwangskorsett der bürgerlichen Familie befreien.
(Funke Nr. 181, 25.2.2020)