Noch vor wenigen Monaten war die Situation um Nordkorea aufs Äußerste gespannt. Jetzt ist „Frieden“ in aller Munde. Wie diese Kehrtwende zustande kam und was dahintersteckt. Von Vincent Angerer.
Wir erinnern uns an die Stimmung, als im September des vergangenen Jahres eine nordkoreanische Testrakete über Japan abgeschossen wurde. Diese Reaktion folgte auf das Aufgebot amerikanischer Truppen im Rahmen einer Militärübung, welche zusammen mit Südkorea veranstaltet wird, um Manöver in einem potentiellen Konflikt mit dem Norden zu üben. Die Zuspitzung der Situation schien vielen die Dynamik eines militärischen Konflikts zwischen Nordkorea, den USA und ihren Verbündeten Japan und Südkorea anzunehmen. Sogar über einen dritten Weltkrieg wurde spekuliert. Der ‚verrückte Raketenmann‘ in Nordkorea stand Trump gegenüber, der sich auf die großmäulige Rhetorik seines Kontrahenten einließ, indem er damit angab, dass sein ‚Atomknopf‘ größer und mächtiger sei, als der Kim Jong-Uns.
Das Kriegsgetöse fand ein abruptes Ende, als Kim in einer symbolträchtigen Geste dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-In den gemeinsamen Einmarsch der Teams beider Koreas bei den Olympischen Spielen anbot. Am 27.4. folgte ein historisches Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea, dessen Ergebnis eine Deklaration für Friedensverhandlungen und die Herstellung von diplomatischen wie wirtschaftlichen Beziehungen ist. Nur wenig später stand der Termin eines US-Nordkoreanischen Gipfeltreffens am 12. Juni in Schanghai fest, um die nukleare Abrüstung Nordkoreas, die eine Kondition des von den USA ausgehandelten Friedens ist, zu besprechen. Trump wurde für seine Bemühungen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen und der „Raketenmann“ ist plötzlich ein akzeptabler Verhandlungspartner. Obwohl Trump kurzfristig drohte, das Treffen platzen zu lassen, scheint es nun planmäßig stattzufinden.
Kim Jong-Un, der Stratege
Obwohl der nordkoreanische Diktator gerne als ‚irrational‘ dargestellt wird, beruhen sowohl seine Kriegsandrohungen als auch seine Annäherungsbereitschaft auf einem wohldurchdachten Kalkül, das aus der konkreten Situation Nordkoreas zu erklären ist.
Nordkorea wurde nach 1945 unter die Kontrolle der Sowjetunion gebracht, wo die bürokratische Clique rund um Kim Il-sung installiert wurde. Das junge Nordkorea zeichnete sich durch einen extensiven Personenkult und eine Reihe von politischen Säuberungen aus. Wirtschaftlich war Nordkorea stark von der Sowjetunion (SU) und China abhängig. Trotz großer Bodenschatzvorkommen ist das Land zu klein, um wirtschaftlich auch nur annähernd autonom sein zu können. Mit dem Zusammenbruch der SU brachen eine große Wirtschaftskrise und eine Hungersnot, die vermutlich über 1 Mio. Menschen das Leben kostete, über das Land herein. Das Überleben des Staates gelang einerseits durch eine noch stärkere wirtschaftliche Orientierung auf China, sowie durch die Forcierung ihres Atomwaffenprogramms und damit einem diplomatisch/militärischen Drohmittel. 2005 verkündeten sie erstmals, über funktionsfähige Atomwaffen zu verfügen.
Krieg ist keine Option
Ein Krieg war aber weder für Nordkorea, noch für die anderen Mächte eine wirkliche Option. Im Gegensatz zu Gebieten wie dem Irak, wo ein Krieg zur Durchsetzung der Interessen der Imperialisten hingenommen wurde, könnte Nordkorea der hochmodernen und großen Wirtschaftsmacht in Südkorea ernsthafte Schäden zufügen, mit ungewissen politischen Auswirkungen weit über die Region hinaus. Nordkorea könnte mit seiner Militärmacht zwar massive Schäden anrichten, jedoch keinesfalls gewinnen.
Das Interesse der nordkoreanischen Bürokratie beläuft sich auf ein ähnliches Szenario wie in China, wo es der Bürokratie möglich war, im Rahmen von weitgehenden Privatisierungen faktisch zu einer kapitalistischen Wirtschaft zurückzukehren und während dieses Prozesses an der Macht zu bleiben.
Wohin geht Nordkorea?
Seit der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre konnte der nordkoreanische Staat immer weniger die früher übliche Gratisversorgung mit Wohnungen, Strom, Grundnahrungsmitteln und Kinderkrippen bereitstellen. Obwohl die staatliche Planwirtschaft immer noch dominierend ist, entstand ein beträchtlicher (kleinbürgerlicher) privater Wirtschaftszweig, der inoffiziell geduldet wird. Die wie üblich vagen Schätzungen von Nordkoreaexperten gehen davon aus, dass dieser bereits 25% der nordkoreanischen Wirtschaft ausmacht. Nordkorea ist völlig von Rohstoffexporten (vor allem Kohle) nach China abhängig – 2016 fanden 87% der Exporte nach China statt.
Kim Jong-Un ist daher bestrebt, seine Abhängigkeit von China zu reduzieren und mit einer Annäherung an den Süden und die USA zu spielen. Die Hinrichtung seines Onkels 2013 und seines Bruders im Februar 2017 durch Kim Jong-Un, die beide gute Kontakte zu China pflegten, sind in diesem Lichte zu sehen. Dieser Affront veranlasste China dazu, Sanktionen gegen Nordkorea zu erlassen. Sie führten zu einer Verdopplung der Benzinpreise in Nordkorea im Laufe des Jahres 2017. Ferner sind die Exporte nach China um zirka ein Drittel gefallen und somit auf dem niedrigsten Wert seit 2011. Für China war Nordkorea zunehmend ein nerviger „kleiner Bruder“ geworden, den sie als Pufferzone gegenüber der US-Präsenz in Südkorea zwar behalten wollen, jedoch das aufmüpfige politische Auftreten Nordkoreas nicht gutheißen. Ihre Sanktionen waren ein zusätzlicher Anreiz für Kim, ‚friedlichere‘ Töne anzuschlagen, nicht zuletzt weil eine Annäherung an den Süden und die USA Nordkorea ein gewisses Polster gegenüber China verschaffen kann.
Wer will Frieden?
Nordkorea ergriff daher die Chance, dass eine Annäherung auch für den südkoreanischen Präsidenten gerade sehr opportun ist. Die aktuelle südkoreanische Politik erscheint ganz im Zeichen der Massenproteste von 2016, die zur Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Park Geun-hye geführt haben. Der neue, ‚liberale‘ Präsident Moon Jae-In fährt entgegen seiner Wahlversprechen mit der Sparpolitik seiner Vorgängerin fort, und auch die tiefsitzende Korruption zwischen Bourgeoisie und südkoreanischem Staatsapparat besteht weiter. Für Präsident Moons Beliebtheit ist es daher essenziell, zumindest sein Wahlversprechen der Annäherung an den Norden zu verwirklichen. Die Ankündigung des Gipfeltreffens zwischen Nord- und Südkorea ließen seine Beliebtheitswerte auf 71% nach oben schnellen. Für Präsident Moon besteht daher ein klares Interesse, eine versöhnlerische Politik gegenüber dem Norden anzusteuern. Südkorea würde eine solche Entwicklung auch deshalb begrüßen, da es der südkoreanischen Bourgeoisie im Rahmen von Privatisierung im Norden und einem einhergehenden Frieden möglich wäre, auf die billigen Arbeitskräfte zurückzugreifen.
Während ein Frieden für die herrschende Klasse Südkoreas also aktuell sehr günstig wäre, verhält es sich mit einer tatsächlichen Wiedervereinigung anders. Die wirtschaftlichen Kosten dafür wären nämlich so astronomisch, dass die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland dagegen harmlos schiene.
Zusammengefasst ist ein Frieden für Nord- und Südkorea, wie auch für China, wünschenswert. Letztere könnten ihren großen Einfluss auf den Norden in so einem Fall gut nutzen. Doch das große Fragezeichen sind die USA: Sie waren seit 1945 die dominierende imperialistische Macht in der Region.
Die Interessen der USA
In ganz Korea kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer revolutionären Bewegung. Die USA wollten um jeden Preis eine Revolution in Korea verhindern. Dieses Interesse drückte sich in einer Reihe von militärischen Intervention aus, welche darauf abzielten, den Süden Koreas als Pufferzone gegen den Einfluss der Sowjetunion aufzubauen. Der heutige, moderne Kapitalismus wurde in Südkorea überhaupt durch das Eingreifen der USA geschaffen. Da es direkt nach dem zweiten Weltkrieg noch kein starkes, nationales Bürgertum in Korea gab, stützten sich die USA vor allem auf Militärdiktaturen, um den Kapitalismus trotz fehlender Klassenbasis zu stützten. Die wirtschaftliche Hilfe, welche von den USA an Südkorea im Sinne des Bewahrens dieser Pufferzone verausgabt wurde, war ein essentieller Faktor im Aufbau des Kapitalismus. Obwohl der Korea-Krieg selber in einem Patt endete, konnten sich die USA durch ihren Bezug zu Japan und Südkorea ihre dominante Rolle in der Region sichern.
In den vergangenen 10 Jahren ist jedoch China ein ernstzunehmender Gegenspieler der USA geworden. Chinas Aufstieg als Wirtschaftsmacht und wichtiger Handelspartner bringt traditionelle Verbündete der USA, wie Thailand, die Philippinen, aber selbst Südkorea, immer näher an das Reich der Mitte. Nicht zuletzt die militärischen Niederlagen der USA im Nahen Osten (Irak, Syrien …) wirkten verunsichernd auf ihre Partner in Asien. Nordkorea ist in diesem Kontext für Trump vor allem Verhandlungsmasse: Sein anfänglicher Hardliner-Zugang zur Diktatur sollte beweisen, dass die USA das Selbstvertrauen haben, in Ostasien den Ton anzugeben. Andererseits ist auch das Interesse der USA, bei politischen Entwicklungen in der Region eine entscheidende Rolle zu spielen, ein wichtiger Faktor. Trumps und Kims Form der Diplomatie besteht darin, zuerst auf viel Krach und Provokation zu setzten, um danach aus einer günstigeren Position heraus zu verhandeln.
Trump zeigt Schwäche
Die Annäherung Nord- und Südkoreas passierte jedoch erstmals an den USA vorbei und beweist tatsächlich die fortschreitende Schwächung der USA. Trump schien sich zunächst nicht daran zu stören und gab sich mit dem positiven Image von ihm als Friedensvermittler, das von Südkorea aktiv geschürt wurde, zufrieden. Immerhin war dies eine gute Story, die man auch an die US-Öffentlichkeit verkaufen konnte. Doch als wenig später seine Aufkündigung des Atomdeals mit Iran nicht dazu führte, dass Europa ebenfalls alle Verbindungen zum Iran unmittelbar abbrach, und somit ein weiterer Beweis seiner Schwäche auf der Bühne der Weltpolitik geliefert war, musste er noch einmal seine Muskeln spielen lassen. Kurzerhand drohte er, das USA-Nordkorea-Gipfeltreffen abzusagen. Die Absicht war zu beweisen, dass ohne die USA eben nichts funktioniert – ein wirklicher Abbruch des Verhandlungsprozesses war nicht angedacht.
Doch auch dieser, in typischer Trump-Manier, erratische Schritt brachte nicht den gewünschten Effekt. An den USA vorbei gab es ein weiteres Treffen zwischen Nord- und Südkorea am 26. Mai. In den Medien wurde Trump der schwarze Peter zugesteckt und Kim Jong-Un als der vernünftige Friedenspolitiker porträtiert. Nur wenig später revidierte Trump seine provokative Rhetorik und brachte das Gipfeltreffen zurück aufs Tableau.
Keine Lösung für die nordkoreanischen Massen
Für die Herrschenden ist ein Friede auf der koreanischen Halbinsel prinzipiell von Vorteil. Was bei den kommenden Verhandlungen herauskommen wird, und inwieweit dieser tatsächlich verwirklich werden kann, ist jedoch ungewiss – denn aus der eigenen Logik kann Nordkorea nicht einfach völlig auf Atomwaffen verzichten, was die USA jedoch wünschen. Klar ist, dass eine Wiedervereinigung sehr unwahrscheinlich ist. Die verhandelte Lösung wird in jedem Fall nur den Herrschenden dienen und den Unterdrückten in Nordkorea kein besseres Leben bescheren. Die einzige Lösung zugunsten der Arbeiterklasse in Nord- und Südkorea besteht in einer Abschaffung des kapitalistischen Ausbeutersystems und dem Wegfegen aller imperialistischer Herrschaftslogik – kurz: dem Sozialismus.
Dieser Artikel erschien erstmals am 30.5.2018 im Funke Nr. 164