Mit Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld und der darauffolgenden Teilmobilmachung in Russland dreht sich die Eskalationsspirale immer weiter. Doch wofür wird dieser Krieg eigentlich geführt? Florian Keller analysiert.
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, und seit dem Beginn des Einmarsches der russischen Armee in der Ukraine tobt auf beiden Seiten eine Propagandaschlacht um die Interpretation des Krieges. Aber wenn man zwischen den Zeilen liest, findet man selbst in der Lawine an Propaganda „westlicher Geschmacksrichtung“ immer mehr Hinweise auf die Frage, worum der Krieg in der Ukraine tatsächlich geführt wird.
Worum wird der Krieg geführt?
Schlagen wir etwa die September/Oktober-Ausgabe des angesehenen amerikanischen Journals „Foreign Affairs“ auf, finden wir dort einen Artikel mit dem Titel „Was Putin will“. Dort lesen wir:
„Mehreren früheren hochrangigen US-Beamten zufolge, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich ukrainische und russische Verhandler im April 2022 vorläufig auf die Grundlagen einer Verhandlungslösung geeinigt zu haben: Russland würde sich auf seine Positionen vor dem 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil des Donbas und die gesamte Krimhalbinsel kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien einer Reihe von Ländern erhalten. Aber der russische Außenminister Lawrow hielt in einem Interview mit den Staatsmedien seines Landes im Juli fest, dass dieser Kompromiss nicht mehr länger zur Debatte steht.“
Und tatsächlich, Ende April waren die Nachrichten voll mit Hinweisen, dass die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland um ein Ende des Krieges weit fortgeschritten waren. Doch mit einem Schlag wurden sie damals abgebrochen. Warum das passiert ist, kann der interessierte Leser aus dem „Foreign Affairs“-Artikel nicht herauslesen.
Um das herauszufinden, müssen wir stattdessen die „Ukrainska Pravda“ (eine ukrainische Tageszeitung, deren Blattlinie dezidiert pro-westlich ist) bemühen. Sie nannte am 5. Mai in einem Artikel mit dem Titel „Möglichkeit für Gespräche zwischen Selenskyj und Putin kamen nach Johnsons Besuch zum Erliegen“ zwei Ursachen, erstens die registrierten russischen Gräueltaten und:
„Das zweite ‚Hindernis‘ für ein Abkommen mit den Russen kam am 9. April nach Kiew. Laut Quellen der Ukrainska Pravda, die Selenskyj nahestehen, brachte der Premierminister Großbritanniens, der fast ohne Vorwarnung in der Hauptstadt eintraf, zwei einfache Botschaften mit.
Die erste war, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist, der unter Druck gesetzt werden sollte, und mit dem man nicht verhandeln sollte.
Die zweite war, dass selbst wenn die Ukraine dazu bereit wäre, ein Abkommen mit Garantien an Putin abzuschließen – sie [Der Westen, Anm. d.Ü.] wären es nicht.“
So ergibt sich ein klares Bild der Ereignisse, das auch voll und ganz mit den Interessen der Hauptakteure übereinstimmt. Nachdem sich die russische Armee mit der gescheiterten Invasion im Norden der Ukraine zu Beginn des Krieges eine blutige Nase geholt hatte, war Putin bereit, ein Verhandlungsangebot zu unterzeichnen, das eine defacto Akzeptanz des Status Quo von vor dem Krieg bedeutete, mit der einzigen Bedingung von Garantien gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.
Doch offensichtlich war eine „neutrale“ Ukraine für Boris Johnson unannehmbar. Er setzte der ukrainischen Führung die Pistole auf die Brust: Entweder ihr führt den Krieg weiter, oder wir überlassen euch eurem Schicksal. Da das Land von der finanziellen und militärischen Unterstützung des Westens abhängig ist, eskalierte die ukrainische Delegation daraufhin ihre Forderungen. Die Verhandlungen wurden abgebrochen, und das tausendfache Sterben ging weiter – letztendlich nur für die Frage, ob die Ukraine in die NATO oder in die russische Einflusssphäre eingegliedert werden soll!
Gegensätzliche imperialistische Interessen im westlichen Lager
Dieser Krieg ist also nichts anderes als ein Krieg zwischen imperialistischen Mächten, und zwar dem (schwächeren) Russland direkt und dem (stärkeren) Westen indirekt, der hier einen Stellvertreterkrieg führt.
Doch es ist es kein Zufall, dass der britische Premierminister derjenige war, der nach Kiew reiste, um den Krieg zu befeuern. Denn unter der Oberfläche der großspurigen Propaganda von der „bedingungslosen Unterstützung der Ukraine“ aus dem Westen sind tatsächlich die verschiedensten Interessen zusammengefasst, die nichts mit Liebe für Demokratie und Menschenrechten zu tun haben und die sich teilweise direkt widersprechen.
So ist Russland für das deutsche Kapital ein direkter Konkurrent um Einfluss in Osteuropa und damit ein Gegner in diesem Krieg. Das deutsche Kapital muss dabei nicht nur auf die unmittelbaren eigenen Interessen achten, sondern auch die aus verschiedenen Gründen scharf-antirussischen Interessen der Herrschenden in Polen, den baltischen Staaten, aber auch Schweden und Finnland im Blick haben, um die Einigkeit der EU zu bewahren.
Aber die deutsche Industrie ist gleichzeitig von billigen russischen Energieträgern (insbesondere Gas) abhängig, mit deren Hilfe sie jahrelang auf dem Weltmarkt einen Wettbewerbsvorteil genießen konnte. Das Ziel Deutschlands ist daher ein möglichst schnelles Ende des Krieges, aber ohne russischen Sieg.
Für die USA dagegen ist eine Verlängerung des Krieges grundsätzlich wünschenswert. Russland soll im Stellvertreterkrieg so weit wie möglich geschwächt werden, damit die USA gegen den Hauptkonkurrent China den Rücken frei hat. Gleichzeitig ist das erzwungene Kappen der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland (und dem Rest von Europa) und Russland gut für die USA: Die amerikanische Industrie wird wettbewerbsfähiger, die europäischen Länder werden auch wirtschaftlich abhängiger von den USA, es gibt so weniger Spielraum für „Alleingänge“. Dies entspricht der langjährigen Praxis Washingtons, das durch Diplomatie und wirtschaftlichen Druck schon seit Jahren die Abkoppelung Europas von russischer Energie vorantreibt (inklusive Sanktionen gegen Nord Stream 2, und auch direkten Einschüchterungen des OMV-Managements).
Großbritannien ist nach seinem Austritt aus der EU dabei der Transmissionsriemen für die amerikanischen Interessen in Europa, wie Tony Blair schon im Irakkrieg der „Pudel“ von G.W. Bush war. Gleichzeitig musste Johnson im April auch nicht (im Gegensatz zu den USA) mit einem Auge nach China und auf die Interessen von Deutschland und die anderen europäischen Staaten blicken, wenn er sich Gedanken um seine Außenpolitik machte – die Zeiten des weltumspannenden britischen Empire sind lange vorbei.
Was hieße „Sieg der Ukraine“?
Die Siege der ukrainischen Armee in den letzten Wochen, v.a. in der Region Charkiv, haben der Position einer Verhandlungslösung zumindest zeitweise weiter Wind aus den Segeln genommen, was auch den ukrainischen Staatsapparat ermutigt, aus der Reserve zu kommen. Das wird etwa in einem Interview des Sekretärs des ukrainischen Sicherheitsrates Oleksiy Danilov mit „Voice of America“ deutlich.
Dabei definiert er als Kriegsziel nicht nur die Wiedereroberung des gesamten Gebietes der Ukraine, das diese seit 2014 verloren hat (inklusive der Krim), sondern auch die Verhinderung, dass Russland wieder einen Krieg anfangen könnte. Konkret heißt das für ihn: Russland soll durch „Dekolonisierung“ Gebiete verlieren, die es „im 19. Und 20. Jahrhundert“ erobert hat.
Auf gut Deutsch: Zumindest ein Teil der ukrainischen herrschenden Klasse hat durch die Erfolge jetzt eigene Großmachtfantasien und sieht eine Möglichkeit, den Krieg bis zu einer Zerstörung des russischen Staates in seiner heutigen Form zu führen, um die Einzelteile zu „befreien“, sprich, dem westlich-imperialistischen Einfluss (und eventuell auch teilweise dem eigenen) einzuverleiben – und dafür im Gegenzug von ihnen ordentlich bezahlt zu werden.
Mit der Kolonialisierung im 19. und 20. Jhd. wird Danilov dabei v.a. den Kaukasus meinen, der erst im 19. Jhd. dem russischen Zarenreich stabil einverleibt wurde. Die Kriegsziele wären also erweitert: die Republiken im Südkaukasus aus der russischen Einflusszone herausbrechen, z.B. Armenien; Südossetien und Abchasien wieder Georgien einverleiben und das Land in NATO und EU holen, den Bürgerkrieg im Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien wiederentfachen und diesen letztendlich aus Russland herausbrechen. Das alles hieße massives reaktionäres Blutvergießen, ethnische Säuberungen etc. wie in den 1990ern, nur auf noch höherer Ebene. Hunderttausende Tote wären die Folge.
Tatsächlich hat die militärische Schwächung Russlands jetzt schon unmittelbare Auswirkungen und es flammen derzeit eine ganze Reihe von Konflikten im Einflussbereich des Landes (wieder) auf.
An der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, wo die russische Armee einen Waffenstillstand nach dem Krieg 2020 überwacht (und das militärisch überlegene, durch die Türkei unterstützte Aserbaidschan in seinen Ambitionen einschränkt), starben bei Kämpfen zwischen 12. und 14. September mehr als 200 Soldaten. Die USA versucht die Schwäche Russlands als „Schutzmacht“ zu nutzen, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi besuchte Armenien nur wenige Tage darauf. In Zentralasien sind am 14. September Kämpfe zwischen Kirgisistan und Tadschikistan über die Grenzziehung mit dutzenden Toten ausgebrochen; in beiden Ländern unterhält Russland große Militärbasen, deren Personalstärke wegen dem Ukrainekrieg aber wohl reduziert wurde.
Die von Russland angekündigten Blitzreferenden über die Eingliederung der Gebiete Lugansk, Donezk, Saporischschja und Kherson sowie die Teilmobilmachung (diese Maßnahmen erlauben die Verwendung von zehntausenden Wehrpflichtigen im Krieg und das Einziehen von hunderttausenden Reservisten zur Armee) sind der logische nächste Schritt in der Eskalationsspirale des Krieges.
Ein „weiter so“ ist für den russischen Imperialismus nicht möglich, da eine militärische Niederlage drohte. Dass die russische Regierung diesen politisch höchstriskanten Schritt jetzt geht, ist ein Zeichen dafür, dass es nicht nur für die Herrschenden in der Ukraine, sondern auch für Putins Regime und den russischen Imperialismus in der Ukraine ums Überleben geht.
Für eine Klassenposition zum Ukrainekrieg – der Hauptfeind steht im eigenen Land!
Als die russische Armee im Februar dieses Jahres ihre Invasion der Ukraine begann, hielten wir fest, dass Marxisten keine der Kriegsparteien unterstützen. Beide Seiten im Krieg (Russland auf der einen Seite und der „Westen“, der mithilfe des ukrainischen Staatsapparates einen Stellvertreterkrieg führt, auf der anderen Seite) haben eine reaktionäre, rückschrittliche Agenda.
Für diese Position blies uns viel Gegenwind entgegen. Die GenossInnen der marxistisch geführten Sozialistischen Jugend in Vorarlberg mussten sich sogar den Vorwurf der JUNOS und vom Boulevardmedium „Österreich“ gefallen lassen, sie würden „Putinpropaganda“ machen.
Doch all die oben genannten Dinge zeigen, dass wir damit recht hatten und haben. In Zeiten der tiefen kapitalistischen Krise spitzen sich die Widersprüche zwischen den Nationalstaaten immer weiter zu, weil alle Konzerne versuchen, ihre Konkurrenz in anderen Ländern auch mit Mitteln des Staatsapparates zu übervorteilen. Handelskonflikte, aber auch imperialistische Kriege, sind die grausame Folge und spitzen sich immer mehr zu.
Entscheidend sind die jeweiligen Interessen, nicht wer zur Durchsetzung ihrer den ersten Schuss abgibt – auch wenn das Beispiel der Ukraine zeigt, dass Fragen der Moral auf den konkreten Kriegsverlauf durchaus einen Einfluss haben. Unter dem Deckmantel der „Selbstverteidigung“ werden systematisch Hunderttausende für die Interessen der ukrainischen Oligarchie und des westlichen Imperialismus mobilisiert, während das viermal so bevölkerungsreiche Russland mit einem Mangel an Soldaten zu kämpfen hat.
Die einzige Lösung, die es aus diese Spirale aus Krise, Leid und Tod gibt, ist die Beseitigung des Kapitalismus selbst, der alle diese Widersprüche hervorbringt. Die Zeche für die weitere Eskalation des Krieges in der Ukraine müssen russische und ukrainische Soldaten und Zivilisten mit ihrem Leben, die Arbeiter des Westens mit immer weiter steigenden Preisen bezahlen.
Die Realität des Krieges und seiner Auswirkungen wird allerorten die patriotischen Nebelschleier zerreißen und offenlegen, dass dies ein Krieg der Herrschenden jeder Nation gegen die Arbeiterklasse jeder Nation ist.
Die Position der Arbeiter aller Länder kann also nur sein:
- Nieder mit dem Krieg, nieder mit den eigenen Kriegsprofiteuren, nieder mit dem Kapitalismus!
- Nein zu Waffenlieferungen, Kriegskrediten und Sanktionen!
- Kein Frieren für Sieg, keine Lohnzurückhaltung wegen „wirtschaftlichen Unsicherheiten“ und „Lieferkettenproblemen“!
- Nieder mit den Kriegshetzern aller Nationen – Für die Verbrüderung der Soldaten der feindlichen Heere!
- Der Hauptfeind steht nicht im Nachbarland, sondern im eigenen Land!
22.9.2022