Interview mit Wanderci Silva Bueno, Repräsentant des besetzten brasilianischen Betriebes CIPLA in Venezuela – geführt beim Treffen der besetzten Betriebe in Joinville, Brasilien.
F: Wanderci, kannst du dich bitte kurz vorstellen?
A: Ich bin Wanderci Silva Bueno und bin zur Zeit Repräsentant der Cipla in Venezuela. Meine Aufgabe ist es das Projekt Cipla-Pequivem, also das Abkommen zwischen der Cipla hier in Joinville (Brasilien) mit dem staatlichen venezolanischen Petrochemie-Konzern, das die Errichtung von Fabriken zur Herstellung von Fertigteilhäusern vorsieht, abzuwickeln.
F: Cipla steht unter ArbeiterInnenkontrolle. Kann man davon ausgehen, dass du deine Aufgabe in Venezuela nicht nur auf die technischen Umsetzung des Projektes beschränkst?
A: So ist es. Auf Grundlage der Diskussionen hier in Brasilien haben wir beschlossen in Venezuela mit der FRETECO, der revolutionären Einheitsfront, welche die Fabriksbesetzungen in Venezuela organisiert und vorantreibt, zu kooperieren. Genauso wie in Brasilien geben wir uns nicht mit einigen Fabriken unter ArbeiterInnenkontrolle zufrieden, sondern organisieren und beraten diese neue soziale Bewegung. Heute liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit in der Diskussion mit der Gewerkschaft und den ArbeiterInnen von Sanitarios Maracay.
F: Sanitarios Maracay wurde am 14. November besetzt, kannst du uns beschreiben was seither passiert ist?
A: In Sanatrios Maracay passieren wichtige Dinge, die es zu analysieren und diskutieren gilt. Die bisherigen Erfahrungen der Fabriksbesetzungen in Venezuela, angefangen mit Invepal und Inveval betreffen allesamt Fabriken, die bereits geschlossen waren und erst mühsam wieder hinaufgefahren werden müssen. Bei Sanitarios Maracay ist der Fall anders. Nach einem monatelangen, harten Arbeitskonflikt mit dem Eigentümer beschlossen die ArbeiterInnen die Fabrik zu besetzen und sofort, ohne Unterbrechung die Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle fortzuführen und von Anfang an die Kampagne zur Verstaatlichung des Unternehmens unter ArbeiterInnenkontrolle aufzunehmen. Dies ist eine neue und wichtige Erfahrung für die gesamte ArbeiterInnenklasse in Venezuela. Der Reiz der Situation liegt auch darin, dass der Wunsch nach der zukünftigen Organisation von der Belegschaft selbst formuliert werden kann und nicht das staatlich favorisierte Modell der Kooperativen zum Zug kommt. Bisher lautet die Formel so: 51 Prozent für den Staat, 49 Prozent für die Kooperative, die von der Belegschaft formiert wird. In Maracay wird die Fabrik seit Anfang an von den Komitees der ArbeiterInnen geführt. Sie verknüpfen ihre Selbstorganisation und Produktion mit den Bedürfnissen und Wünschen des Volkes im allgemeinen und verstehen ihr Modell als Zukunftsmodell der revolutionären Weiterentwicklung.
F: Ich kann mir schwer vorstellen, dass dies ohne Widerstand bleibt. Kannst du uns sagen welche Reaktionen es bisher von Seiten der öffentlichen Hand gegeben hat?
A: Das Leitungskomitee der Fabrik, und die Gewerkschaftsführung sind an die Regierung des Bundesstaates Aragua mit der Forderung herangetreten, dass die Speisung der Fabrik mit Wasser und Energie, sowohl Gas wie auch Elektrizität von der Regierung aufrecht erhalten werden. Gleichzeitig schrieben wir einen Brief an die Regierung der Republik, besser gesagt an den Präsidenten Chávez selbst, mit der Bitte und Forderung, dass er eine ArbeiterInnendelegation von Sanitarios empfängt. Die letzte Entscheidung von der ich weiß, ich bin jetzt ja seit einigen Tag zurück in Brasilien, ist, dass es am 14. Dezember eine Demonstration der ArbeiterInnen in Caracas geben soll, und zwar nach Miraflores (dem Präsidentenpalast, Anm.).
Wir sind weiter mit Repräsentanten des Ministeriums für Handel und Leichtindustrie, insbesonders mit der Ministerin Maria Christiana und dem Vizeminister in Kontakt, um die Gespräche bezüglich der Verstaatlichung voranzutreiben. Wenn man die Geschichte der Ministerin und anderer Repräsentanten des Ministeriums ansieht, dann glaube ich, dass wir hier ein offenes Ohr finden. Immerhin erfuhren ja bereits Inveval, Invepal und andere Fabriksbesetzungen von dieser Seite Unterstützung, wie auch vom Präsidenten Chavez. Und zu guter Letzt bin ich optimistisch, dass Chavez der von den ArbeiterInnen vorgeschlagenen Lösung sich nicht verschließen wird.
F: Maria Christina ist eine der ReapräsentantInnen der Linken in der Regierung Chavez, ihr glaubt also dass dies eine Hilfe sein könnte?
A: Ja, das glaube ich schon. Die Haltung Maria Christina zu den Fabriksbesetzungen war immer eine positive. Sie selbst stellt sich mit den ArbeiterInnen an die Spitze dieses Prozesses. Wenn es mal Probleme mit ihrer Haltung gegeben hat, wie etwa im Fall von Invepal (die Betriebsversammlung wählte den Direktor ab, dieser konnte sich aber mit Hilfe des Ministeriums bisher erfolgreich gegen seine Absetzung wehren, Anm.), dann lagen die eher in der Konfusion der Situation, nicht aber in einer tiefgreifenden politischen Meinungsverschiedenheit. Daher wird die Rolle von Maria Christina auch in diesem Fall eine wichtige sein. Und ich glaube sagen zu können, dass sie auf der Seite der ArbeiterInnen stehen wird.
F: Sanitarios Maracay ist ja nicht irgendeine Fabrik. Die Belegschaft kämpft seit mehreren Jahren für ihre Rechte. Wie reagiert die ArbeiterInnenbewegung auf die Fabriksbesetzung?
A: Das erste was nach der Besetzung unternommen wurde, ist dass mit der Führung der UNT Kontakt aufgenommen wurde und auch mit verschiedensten Gewerkschaften in Aragua, um sie einzuladen, sich solidarisch an unserem Kampf zu beteiligen. Als erstes stellte sich die Gewerkschaft der Getränkeindustrie voll und ganz hinter uns. Andere Gewerkschafter der UNT hielten einige interne Diskussionen ab, aber die Resultate dieser Beratungen sind in diesem Fall diskussionswürdig. Marcela Masparo und Orlando Chirinos, die Hauptfiguren im Bildungsprozess der UNT, nehmen Haltungen ein, die zwar verschiedene Wege einschlagen, aber beide nicht sehr positiv im Sinne der ArbeiterInnen von Sanitarios und darüber hinaus sind. Ich möchte hier einmal annehmen, dass dies aufgrund von Missinformationen passiert ist, obwohl es schon klare Fehleinschätzungen von der Seite der Führung der UNT gibt. Chirinos etwa ist der Meinung, dass eine Fabriksbesetzung die Gewerkschaft in Frage stellt. Dies ist ein großer Fehler, und zwar nicht nur in der Theorie. Erstens wurde die Idee der Fabriksbesetzung von der Gewerkschaftsführung von Sanitarios beschlossen und angeführt. Andererseits ist es im Falle von Sanitarios so, dass die Forderungen des Eigentümers auf die Auflösung des in der Praxis nie erfüllten Kollektivvertrages, die völlige Kaltstellung der Gewerkschaft im Betrieb bedeutet hätte, das Ende der Gewerkschaft. Kein einziger Arbeiter oder Arbeiterin in Sanitarios hat die Idee, die Gewerkschaft aufzulösen, ganz im Gegenteil, die Besetzung bedeutet auch die Rettung der Gewerkschaft. Auf der anderen Seite nahm sich Marcela Masparo jenen Kräften in der Firma an, vor allem der hohen Angestellten und sonstiger Lohnempfänger, die über Jahre dem Eigentümer nahe standen, und half ihnen eine neue Gewerkschaft zu gründen, die jetzt ein Referendum ihrer Anerkennung im Unternehmen anstreben. Diese Spaltung der Gewerkschaft im Betrieb zum jetzigen Zeitpunkt ist ein großer Fehler, da es die Lohnabhängigen im Betrieb spalten wird. Auf der anderen Seite wieder hat Chirinos zum Zeitpunkt als ich noch in Maracay, vor meiner Abreise nach Brasilien, war, angeboten, sich in Maracay als Vermittler einzuschalten. Er schlug vor, dass er mögliche Investoren suchen werde, welche die Firma kaufen und die Rechte der ArbeiterInnen respektieren würde. Der Fabriksrat lehnte diese Hilfe ab und erklärte, dass er weiter an der Nationalisierung unter ArbeiterInnenkontrolle festhalten würde. Ich glaube, dass sowohl Masparo als auch Chirinos sich einem demokratischen Dialog stellen müssen, der offen und demokratisch geführt wird, wie es den Traditionen unserer Klasse entspricht. Marcela und Orlando sind die zwei wichtigsten Repraesentanten der sich in Bildung befindlichen UNT, und sie repraesnetieren die zwei Hauptströmungen. Was jetzt notwenig ist, ist eine Einheitsfront für die Enteignung, für Sanitarios Maracay und für den weiteren Weg der venezolanischen Revolution.
F: Die FRETECO vertritt seit ihrer Gründung die strategische Linie der Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle. Wie ist das Verhältnis der FRETECO zur UNT?
A: FRETECO hat heute eine große Aufgabe – und ist eine aufsteigende Kraft. Die Führer der UNT sollten die Einladung zu gemeinsamen Gesprächen bezüglich der Fabriksbesetzungen annehmen. Wenn es hier unterschiedliche Meinungen gibt, etwa betreffend der Nationalisierung und Enteignung, so kann man doch davon ausgehen, dass alle Kräfte in der UNT die Fabriksbesetzung als Kampfmittel akzeptieren. Die Besetzung bedeutet den Kampf gegen das Privateigentum an Produktionsmittel im Konkreten anzugehen. Und die revolutionäre Haltung der UNT vorausgesetzt, kann es niemand geben, der sich hier dagegenstellt. Ob diese besetzten Fabriken nun nationalisiert werden, sich in Kooperativen organisieren, oder selbstverwaltet agieren, das kann man dann noch immer diskutieren. Wichtig ist aber, dass man sich das zentrale Mittel der Fabriksbesetzung nicht aus der Hand nehmen lässt. Ich glaube hier liegt eine wichtige Aufgabe der FRETECO, Chirinos aber auch Masparo von der Richtigkeit dieser Strategie zu überzeugen. Die venezolanische Revolution wird damit einen großen Sprung nach vorne nehmen. Nur über die Fabriksbesetzung ist es möglich einen Planungsprozess der Wirtschaft zu initiieren. Wenn alle in der UNT sagen: „Wir sind Revolutionäre, wir sind Sozialisten, wir sind gegen das Privateigentum an Produktionsmittel“, dann glaube ich, dass sie es auch wirklich so meinen. Also lasst uns zusammensitzen und die ersten Schritte auf diesem Weg gehen! Wir können dabei immer flexibel bleiben, in jedem Moment die Diskussion über die neue Eigentumsform fortsetzen. Jetzt aber muss die Betriebsbesetzungsbewegung angeheizt werden. Das ist ein zentraler Aspekt. Die FRETECO organisiert und vernetzt heute bereits die besetzten Betriebe, das muss jedoch ausgeweitet werden. In jeder Stadt müssen Strukturen geschaffen werden, welche die Besetzungen mit der Volksbewegung, und die Bedürfnisse der Bevölkerung mit einem Aktionsplan der Besetzungen koordiniert. Schlussendlich geht es bei den Farbriksbesetzungen nicht nur um die Sicherstellung der unmittelbaren Interessen der Arbeitenden, es geht darum dass die ArbeiterInnenklasse sich an die Spitze des revolutionären Prozesses stellt, und die Forderungen des gesamten Volkes umsetzt. Und dieser Prozess ist eng mit Aufbau der UNT verbunden. Und die GenossInnen der besetzen Beriebe, und ich kann hier sicher für alle sprechen, haben genau dieses Verständnis, der Stärkung der UNT und der revolutionären Weiterentwicklung.
F: FRETECO organisiert momentan 10-12 Fabriken im ganzen Land. Nun ist Sanitarios Maracay nicht irgendein Betrieb im nirgendwo, sondern befindet sich in Aragua, einem der Zentren der Leichtindustrie Venezuelas und einer Hochburg der Bauernbewegung. Habt ihr schon konkrete Pläne, wie ihr hier weitermachen wollt?
A: Einige Genossen, Repräsentanten der FRETECO haben in Maracay die Diskussion entfacht, ein Einheitsfrontkomitee der Fabriks- und Landbesetzungen zu etablieren. Die Gespräche mit der Landarbeiterbewegung Frente Ezequiel Zamorra sind schon sehr weit gediehen. Die Einheit der Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik und des Feldes ist eine zentrale Achse der Weiterentwicklung der Revolution. Wir halten aber fest, dass der UNT hier eine zentrale Rolle zukommt, und sich diesem Kampf anschließen muss. Dann kann man hier ein revolutionäres Inferno veranstalten. Ich glaube man muss noch anmerken, dass die Landarbeiter- und Bauernbewegung, auf Grund ihrer Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft, natürliche Verbündete braucht. Das ist die ArbeiterInnenbewegung, der überhaupt die Avantgarderolle in der Revolution zukommt. In letzter Konsequenz kann nur die ArbeiterInnenbewegung die Landreform endgültig durchsetzen, und zwar in Form einer ArbeiterInnenregierung. Sanitarios Maracay hat hier die Diskussion in Aragua wieder angeheizt: die ArbeiterInnenregierung, basierend auf dem Volksrat, in dem nicht nur die ArbeiterInnenklasse repräsentiert ist, sondern die Bauern, Soldaten und armen Sektoren der Gesellschaft. Daher ist Sanitarios heute die zentrale Frage der venezolanischen Revolution: einerseits eine Produktionsbesetzung, andererseits die Bildung von Strukturen der Arbeiter- und Volksmacht.
Joinville, Brasilien 11.12.2006