Am 14. Dezember, genau einen Monat nach der Besetzung der Keramikfabrik Sanitarios Maracay, organisierte die Belegschaft der Fabrik gemeinsam mit der FRETECO und der Unterstützung des Gewerkschaftsdachverbandes UNT die größte Demonstration für die Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle in der Geschichte Venezuelas. An die 1000 DemonstrantInnen versammelten sich am Vormittag in Caracas, um gemeinsam am Parlament vorbei zum Präsidentenpalast Miraflores zu marschieren. Ein Bericht von unserem Lateinamerika-Korrespondenten Emanuel Tomaselli.
Der Demonstrationszug wurde von den Kindern der in Sanitarios Maracay arbeitenden KollegInnen eröffnet. Dahinter wurde die Fahne Venezuelas getragen. Das Hauptkontingent der DemonstrantInnen stellten die ArbeiterInnen von Sanitarios selbst. Alle waren dabei, es fehlten nur jene 200 KollegInnen die während der Demonstration die Fabriksbesetzung aufrecht erhalten mussten, sowie eine Gruppe von 30 Angestellten, die sich offen gegen die Besetzung der Firma stellt. Viele brachten ihre Familienangehörigen mit. Das zweitgrößte Kontingent wurde von den KollegInnen der momentan einzigen, unter ArbeiterInnenkontrolle produzierenden Fabrik Inveval gestellt. Mit über 100 anwesenden KollegInnen, beteiligte sich in etwa die Hälfte der Belegschaft der Metallfabrik in Los Teques, darunter auch zurückgekehrte TeilnehmerInnen der Panamerikanischen Konferenz der besetzten Betriebe in Joinville/Brasilien.
Die Slogans auf den handgemalten Transparenten und Schildern waren eindeutig: „Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle, jetzt sofort!“, „Nieder mit der Bürokratie“, „Geschlossenes Unternehmen – Enteignetes Unternehmen“, „Weg mit den Kapitalisten“.
Vor dem Parlament wurde eine ArbeiterInnendelegation, begleitet von FührerInnen der UNT, der FRETECO und des CMR (Corriente Marxista Revolucionario) zu den Abgeordneten vorgelassen. Diese versicherten, sich dem Fall anzunehmen und ein Gespräch mit dem Eigentümer, unter Teilnahme der ArbeiterInnen zu suchen und sich ein klares Bild von der Situation zu verschaffen. Viele ArbeiterInnen beschwerten sich über die Abgeordnete Marcela Masparo, die offen in die Spaltung der Gewerkschaft in Maracay involviert ist, indem sie einer Gruppe von leitenden Angestellten und Freunden des Eigentümers die politische Deckung zur Gründung einer gelben Gewerkschaft im Betrieb verschaffte.
Vor dem Parlament ergriff Jose Gregorio, Mitglied des Leitungsgremiums von Inveval, Sprecher der FRETECO und Unterstuetzer des CMR das Wort. Die zentrale Aussage seiner Ausführungen war, dass nur die Enteignung des Kapitals die Revolution in die Offensive bringen könne. Er appellierte an die Führung und die Strömungen der UNT, sich endlich dieser Aufgabe anzunehmen. Er erinnerte nochmals daran, dass Präsident Chávez selbst dazu aufgerufen hatte, über 1000 Unternehmen zu besetzen, ohne dass die UNT dies bisher wahrgenommen hätte. Das jetzige Momentum durch die Besetzung von Sanitarios müsse generalisiert werden, so Jose Gregorio.
In weiterer Folge sprachen Emilio Bastidas, Ismael Sánchez und Stalin Pérez für die UNT Aragua, die Natioanle Koordination der UNT, sowie die größte Gewerkschaftsstroemung CCURA. Weitere Redner auf der Demonstration: Die Gewerkschaft von Mercal, Sprecher der Kampagne „Hände weg von Venezuela“, die den Kampf seit Anfang an solidarisch unterstützt, und Jose Antonio Hernandez für die CMR, die marxistische Strömung deren politische Vorbereitungskurse den entscheidenen Faktor in der Vorbereitung der Besetzung bildete.
Zuletzt sprach Kollege Villegas von Sanitarios Maracay. Er betonte, dass man bereits nach einem Monat ohne Eigentümer und Chefs sagen und beweisen kann, dass eine Firma ohne Kapitalist besser funktioniere. Die Produktion laufe, und die Distribution werde momentan im Einklang mit den revolutionären Organisationen in Maracay gestaltet. Er bedanke sich namentlich bei der CMR, der UNT und der C CURA, hob besonders die Rolle von Carlos Rodriguez von der CMR/FRETECO, sowie von Wanderci Buena Silva, der besetzten Fabriken Brasiliens (siehe Interview) für den bisherigen Erfolg der Besetzung hervor.
Vor Miraflores wurde eine Petition an den Präsidenten Chavez überreicht, sowie eine Ausstellung der unter ArbeiterInnenkontrolle produzierten Produkte veranstaltet. Die Objekte wurden dann in Folge an Passanten verschenkt.
Diese Demonstration kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt der venezolanischen Revolution, und könnte der ArbeiterInnenbewegung ein neues Momentum verschaffen. Alle revolutionären AktivistInnen in Venezuela haben sich bereits vor den Wahlen auf Veränderungen nach dem 3. Dezember eingeschworen. Es wird erwartet, dass nun massive Schritte gegen Kapital und Bürokratie erfolgen müssen, damit die versprochenen und lebensnotwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation nun endlich greifen. Nach den Wahlen konnte man jedoch zuerst eine Offensive der rückständigsten, bürokratischen und reformistischen Kräfte im Staatsapparat erleben. Der Angriff erfolgt besonders auf der ideologischen Ebene. In der Mission Vulvas Caras etwa, wurde die gesamte politische Bildung ausgesetzt, mit der Begründung, dass man zuerst neue Bildungsunterlagen brauche, da die bisher verwendeten einen zu großen marxistischen Einfluss hätten. In den Medien sehen wir eine Offensive reformistischer “Intellektueller”, die auf Biegen und Brechen versuchen, dem Konzept des ”Sozialismus im 21. Jahrhunderts” jeden revolutionären Inhalt zu nehmen.
Dies kommt nicht unerwartet: Das Beharrungsvermögen der staatlichen Bürokratie will nun sechs Jahre in Ruhe leben, die Revolution geht ihnen bereits jetzt zu weit. Ob bewusst oder unbewusst (in der Praxis läuft es auf das gleiche hinaus) soll die Revolution zum Stillstand gebracht werden. Darin liegt die größte Gefahr für die venezolanische Revolution. Eine Revolution kann nicht auf halben Wege stehen bleiben. Es muss zu einer Entscheidung kommen ob der Kapitalismus sich durchsetzt, oder die Enteignung und die ArbeiterInnendemokratie. Dazwischen gibt es keinen Weg. Geht die Bürokratie und der Reformismus nun in die Offensive und macht Boden gut, wird dies die soziale Basis für eine wie auch immer geartete zukünftige Konterrevolution sein.
Darin liegt auch die Bedeutung von Sanitarios. Dies ist die erste Bewegung nach den Wahlen, die diese bürokratische Blockade zu durchbrechen versucht. Die Entscheidung wer in diesem Konflikt siegt, ist eine Entscheidung, die über Sanitarios und den Bundesstaat Aragua hinausgeht. Sie kann die Weichen für den Fortgang der Revolution stellen.
Die GenossInnen des CMR und der FRETECO schlagen daher vor, den Konflikt aus Sanitarios hinaus zu tragen. So kann der Druck von der Belegschaft genommen werden, und die ArbeiterInnenbewegung in dieser Situation auf ganzer Linie nach vorne gehen.
Konkret lauten die Vorschläge so:
– Eine Konferenz der UNT-Aragua einzuberufen, um die aktuelle Situation auf breiter Ebene zu diskutieren und Beschlüsse zu fassen.
– Die Bildung von Solidaritätskomitees mit Maracay, die ökonomische (u.a. Vertrieb von Produkten) und politische Solidarität üben.
– Einen Aktionstag zur Besetzung von Betrieben und Ländereien (gemeinsam mit der Bauernbewegung FNCEZ) in Aragua zu veranstalten.
– auf nationaler Ebene wurde der Appell an Marcela Masparo und Orlando Chirinos gerichtet, ihre persönliche Schlammschlacht, welche die UNT seit Monaten blockiert und die venezolanische Arbeiterklasse entlang unpolitischer und völlig zweitrangiger Linien entzweit, einzustellen und auf Basis der Fabriksbesetzungen und einer allgemeinen Offensive der Klasse für die größtmögliche Einheit der Klasse einzutreten.
– Die Vorbereitungen für einen nationalen Aktionstag der Betriebs- und Landbesetzungen im ersten Jahresdrittel 2007 aufzunehmen.
– Gleichzeitig eine breite politische Kampagne mit der Forderung der Enteignung der großen Unternehmen, der Banken und des Großgrundbesitzes lancieren.
Der Erfolg dieser Initiative ist nicht nur ein Test für alle Strömungen der venezolanischen und internationalen ArbeiterInnenbewegung, sondern die praktische Umsetzung dieses oder eines ähnlichen Aktionsprogrammes kann sich als entscheidend für Sieg und Niederlage der venezolanischen Revolution erweisen. Zentral ist, dass die ArbeiterInnenbewegung in Venezuela sich zu einer demokratischen Diskussion über die aktuelle Situation und die Aufgaben zusammenfinden kann. Sanitarios Maracay ist nun der erste Praxistest, ob die ArbeiterInnenbewegung sich gegen Kapital und seine reformistischen und offen konterrevolutionären Verbündeten im Staatsapparat durchsetzen kann. Sieg oder Niederlage werden das Kräfteverhältnis entscheidend mitbestimmen, daher der Aufruf an alle, auch an die internationale ArbeiterInnenbewegung, sich hier und jetzt in diesen Konflikt einzuschalten.