1912 fand der Friedenskongress in Basel statt, wo sich über 550 VertreterInnen der internationalen sozialistischen Bewegung aus 23 Ländern trafen, um den gemeinsamen Kampf gegen den drohenden Weltkrieg und für die internationale Solidarität zu beschließen. Nur 2 Jahre danach stimmte die selbe 2. Internationale für die Vaterlandsverteidigung der jeweiligen Länder und machte sich dadurch mitschuldig am Ausbruch des 1. Weltkrieges. Hundert Jahre später steht Europa wieder am Rande des Abgrunds. Welche Parallelen können wir zu damals ziehen, welche Schlüsse müssen daraus folgern? Oder kurz gesagt: Was sind die Aufgaben der Linken – heute wie damals?
Als am 24.-25. November 1912 der Friedenskongress stattfand, stand Europa am Abgrund. Der wirtschaftliche Kampf der europäischen Bourgeoisien konnte nicht mehr im Rahmen der kapitalistischen Konkurrenz ausgetragen werden, da ihre Märkte übersättigt waren. Um die Profite trotzdem noch steigern zu können und Überproduktionskrisen zu vermeiden, mussten sie in die ganze Welt expandieren. Bereits seit den 1880er Jahren setzte deshalb ein nie da-gewesener Drang nach Expansion ein, welcher zu immer schwerwiegenderen Konflikten der industrialisierten Länder in Afrika und Asien führte. Die ganze Welt wurde unter den wichtigsten Industrieländern aufgeteilt. Es war nur eine Frage der Zeit bis dieser aufkommende Sturm auch Europa erreichen würde, schließlich hatten die imperialistischen Ziele der europäischen Nationen auch ein nie dagewesenes Wettrüsten in Europa selbst zur Folge. So bereiteten sich die nationalen Bourgeoisien auf einen europäischen Krieg vor, um ihre imperialistischen Machtinteressen gegen die anderen europäischen Staaten durchzusetzen, sprich die Macht über die neuen Kolonien zu erlangen. Der Kapitalismus war also in die Phase des Imperialismus eingetreten. (vgl. W.I. Lenin: Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus)
Der Friedenskongress 1912
Das Einzige, was den Bourgeoisien dieser Zeit im Weg stand, war die damalige Organisation der ArbeiterInnen, die Sozialdemokratie und ihre 2. Internationale. Die stärkste Sektion war die Deutsche, mit ca. einer Million Mitgliedern. Damals war die Sozialdemokratie durch und durch Klassenpartei: die Partei der ArbeiterInnen. Als dieser erste Friedenskongress am 24.-25. November in Basel stattfand, setzten sie ein klares Zeichen gegen den imperialistischen Krieg und für die Interessen der ArbeiterInnen. Auch wenn die Sozialdemokratie im Innern zwischen Reform und Revolution zerstritten war, stellte sie sich an diesem Tag geschlossen gegen den imperialistischen Krieg, und einte die ArbeiterInnen Europas im Geiste. Wie schon die Resolution des Stuttgarter Internationalen Kongresses von 1907 bestätigte der Kongress in Basel, dass „falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, es die Pflicht der Sozialdemokratie sei, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu be-schleunigen.“
Die systemimmanenten Krisen des Kapitalismus kennen nur wenige Auswege, der Letzte da-von ist der Krieg. Doch eine Kriegswirtschaft kann überhaupt nur bestehen, wenn die ArbeiterInnen sich ihr unterordnen, dem Kriegsgeschrei der profitgierigen Elite Folge leisten und mit ihrem Schweiß die Kriegsproduktion am Laufen halten. Den am Kongress teilnehmenden SozialistInnen war bewusst, dass nur die ArbeiterInnen das Interesse und auch die Macht hatten, diesen europaweiten Krieg zu verhindern und bei Ausbruch zu beenden. Und dies nicht durch die Unterdrückung des Klassenkampfs, sondern eben durch ihn, durch seine lähmende Kraft auf die Bourgeoisie. Nur die Massen selbst können einen imperialistischen Krieg verhindern oder bezwingen, durch ihre Verweigerung, ihre Empörung, also durch den politischen Massenstreik als gewaltiges Mittel der ArbeiterInnen zum Kräftemessen mit der kriegsführenden Elite.
In diesem Sinne war der Basler Kongress ein Meilenstein für die internationale Solidarität der ArbeiterInnenklasse Europas. Rosa Luxemburg schrieb dazu: „Es war wie ein Rütlischwur. Die ganze Welt richtete die Blicke auf das Basler Münster, wo die Glocken zur künftigen großen Schlacht zwischen der Armee der Arbeit und der Macht des Kapitals ernst und feierlich läuteten.“
Nationalismus und Kriegsförderung
Nur zwei Jahre später wurden all diese Erkenntnisse verworfen. Die Führungen der Sozialdemokratie (hauptsächlich die Parlamentsfraktionen) und der Gewerkschaften entschieden sich, unter der Fahne ihrer Nation die Interessen der ArbeiterInnenklasse zugunsten der Bourgeoisie aufzugeben. In ganz Europa stimmten sie mit wenigen Ausnahmen den Kriegskrediten zu und riefen die ArbeiterInnen dazu auf den Kampf für bessere Löhne und Lebensumstände aufzugeben. Dass der Kampf für den Sozialismus damit ebenfalls beerdigt wurde, erklärt sich von selbst.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion verkündete also am 4. August 1914 den deutschen ArbeiterInnen, ihr Vaterland sei in Gefahr, es ginge nun um die nationale Verteidigung, es sei ein Volkskrieg um ihre Existenz, Kultur und Freiheit (gegenüber einem rückständigen Land wie zum Beispiel dem russischen Zarenreich). Alles andere ergab sich daraus als einfache Folge: „Die Haltung der Partei- und der Gewerkschaftspresse, der patriotische Taumel der Massen, der Burgfrieden, die plötzliche Auflösung der 2. Internationale – alles war nur die unvermeidliche Konsequenz der ersten Orientierung, die im Reichstag getroffen wurde.“ (R. Luxemburg: Junius-Broschüre) So hatte sich die Sozialdemokratie selbst entmachtet, indem sie ihr einziges Mittel der Einflussnahme über Bord warf, den Klassenkampf, das heißt die Mobilisierung und Organisierung der Massen zur Verteidigung ihrer Interessen. Durch die Kriegskredite und durch die Unterordnung der Sozialdemokratie unter den Nationalismus hat die Sozialdemokratie den Beginn des Krieges wie dessen Länge mit zu verantworten.
Die Situation heute
Auch wenn wir heute eine andere Situation haben als 1912, gibt es doch einige Parallelen. Was heute in Europa herrscht, ist ein sozialer Krieg, ein Krieg der Eliten gegen die Massen der Menschen Europas. Damals wie heute stecken wir in einer tiefen Überproduktionskrise. Die Profitraten in der produktiven Wirtschaft sind schon seit Jahren am Fallen, weil die Absatzmärkte gesättigt und somit keine profitablen Investitionen mehr möglich sind. Wie Marx vorausgesagt hatte, gerät das kapitalistische System zyklisch in solche Überproduktionskrisen oder Nachfragekrisen, wie die bürgerlichen Ökonomen zu sagen pflegen, welche den systeminhärenten Widerspruch von Arbeit und Kapital – also der Widerspruch zwischen der kapitalistischen Profitlogik und dem Lebensstandard der ArbeiterInnen, der gleichzeitig auch die Nachfrage generiert – offen zutage legen.
Die Bürgerlichen haben als Antwort darauf verschiedene „Krisenprogramme“, die vor allem eines gemein haben: sie alle werden auf dem Rücken von den RentnerInnen, SchülerInnen und ArbeiterInnen Europas ausgetragen. Allen voran stehen ständige Entlassungen, Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Unsichere Arbeitsverhältnisse, erhöhter Druck durch sogenannte Effizienzsteigerungen und krasse Einschnitte bei den Arbeitsrechten sollen die Lohnabhängigen noch zusätzlich einschüchtern. Und zusätzlich hat die europäische Bourgeoisie die hohen Staatsdefizite – wohlbemerkt durch die Bankenrettungen entstanden – zum Anlass genommen, um kurzerhand das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen zusammenzustreichen. Kurz um – der soziale Krieg ist im vollem Gang, nur wird er einseitig geführt, die Schläge kommen nur von Oben. Wo bleibt der organisierte Widerstand, wo bleibt die Antwort der Linken?
Der Niedergang der Linken
Während sich die Politik der Sozialdemokratie 1914 mit den Kriegskrediten, die zum Massensterben der Arbeiter auf Europas Schlachtfeldern führte, gegen die eigene Klasse richtete, so tut die Sozialdemokratie dies heute, indem sie an der Spitze des sozialen Krieges gegen die ArbeiterInnen Europas steht. José Luis Zapatero in Spanien und Giorgos Papandreou in Griechenland haben die von der EU diktierten Sparprogramme und Privatisierungen brav ausgeführt, was zu Massenarbeitslosigkeit (Jugendarbeitslosigkeit über 50%) und drittweltähnlichen Zuständen – griechische Kinder, die wegen Mangelerscheinungen in der Schule zusammengebrochen sind oder von ihren Eltern auf der Straße ausgesetzt wurden, weil sie sie nicht mehr ernähren konnten – geführt hat. Auch hat sowohl die spanische PSOE-, wie auch die griechische PASOK-Regierung Demonstrationen und Streiks gegen diese unmenschlichen Konterreformen mit schärfster Repression beantwortet. Aber auch in den anderen europäischen Ländern steht es nicht viel besser um die Sozialdemokratie. Die Labour Party in Großbritannien mit Gordon Brown, die SPÖ mit Werner Faymann und die SPD mit Franz Müntefering (dessen klarste politische Aussage war: „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“) oder Simonetta Samaruga in der Schweiz – sie alle sind erschreckende Symptome einer sich im Niedergang befindenden europäischen Sozialdemokratie.
Ähnlich wie heute ging der Krise Anfang des 20. Jahrhunderts eine lange Aufschwungsphase voraus. In solchen Perioden kann eine kämpferische Partei und ihre Gewerkschaften gewisse Reformen durchsetzen, in den Betrieben wie in den Parlamenten. In den eigenen Reihen schürt dies jedoch die Illusionen einer Reformierbarkeit des Systems. Bürokratisierung und Opportunismus sind die Folgen einer Politik, die sich immer mehr auf die Bühne der Parlamente konzentriert und so auch dem enormen Druck des bürgerlichen Staates direkt ausgesetzt ist.
Stellvertreterpolitik als einziges Mittel und Reformen als einziges Ziel – heute ist die Sozialdemokratie auch auf dem Papier nicht mehr revolutionär, sie hat ihre Traditionen über Bord geworfen und den Klassenkampf für beendet erklärt. Sie will den Kapitalismus nicht mehr überwinden, sondern ihn zähmen, will heißen, sie akzeptiert die kapitalistische Profitlogik, versucht sie aber etwas humaner zu gestalten. In Krisenperioden, wie oben ausgeführt, bedeutet dies, den sozialen Krieg mitzutragen, um den Kapitalismus zu retten. Hat eine solche Partei, die traditionelle Partei der ArbeiterInnen, nicht ihre Existenzberechtigung verwirkt, wenn sie sich widerstandslos vor den Karren des Kapitals spannen lässt?
Die Aufgaben der Linken – heute wie damals
Der Kapitalismus vermag die Bedürfnisse der Menschen Europas nicht mehr befriedigen. Sie suchen nach einem neuen System, nach einer Alternative zu Ausbeutung und Krise. Dieses System kann nur der Sozialismus sein, für welchen die Sozialdemokratie schon lange den Kampf aufgegeben hat. Sie begreifen nicht, dass das Ausbleiben zusätzlicher Wählerstimmen und Mitglieder eben nicht bedeutet, dass die Menschen keine Alternative zur heutigen Weltordnung suchen. Die ArbeiterInnen, RentnerInnen und SchülerInnen haben richtig erkannt, dass die heutige Sozialdemokratie und die Gewerkschaften eben nicht die Lösung, sondern Teil der heutigen Weltordnung sind.
Doch wäre eine starke klassenbewusste Partei und Gewerkschaft heute so wichtig wie nie zuvor, denn ohne eine Gegenmacht wird das europäische Bürgertum weiterhin die gesamten Kosten der Weltwirtschaftskrise auf die Bevölkerung abwälzen. Wollen die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften wieder ihre ursprüngliche Rolle spielen, müssen sie sich wieder ausnahmslos den Interessen der überwiegenden Mehrheit unterordnen. Keine Kompromisse dürfen mehr gemacht werden. Die Sozialdemokratie muss den Sozialismus wieder ins Zentrum setzten und nicht in eine unbestimmte Zukunft. Denn nur ein sozialistisches Programm ist ein echtes Programm gegen die Krise und gegen den sozialen Krieg von Oben.
In einer derart globalisierten Welt muss auch der Widerstand und der Kampf für den Sozialismus globalisiert werden. Die linken Parteien und Gewerkschaften Europas müssen sich gemeinsam organisieren nach dem Vorbild der 2. Internationale 1912. Die internationale Solidarität ist die stärkste Waffe im Kampf gegen das Kapital. Wenn wir diese Solidarität aufgeben, wie das am Ausbruch des 1. Weltkrieges geschehen ist, dann können wir den Kampf gegen das organisierte Kapital nur verlieren.
Wie Luxemburg schon damals sagte: „Teuer erkauft die moderne Arbeiterklasse jede Erkenntnis ihres historisches Berufes … Aber wir sind nicht verloren und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben. Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, ’um Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind’.”
Olivia Eschmann,
Juso Stadt Basel
Die GenossInnen des Funke in der Schweiz organisierten in den vergangenen Wochen eine Kampagne zum Gedenken an den Basler Friedenskongress vor 100 Jahren und verknüpften dies mit einer Diskussion über die Lage im Nahen Osten. Einen Bericht dieser Kampagne findest du HIER