Seit dem 12. Oktober 2010 hat die Bewegung gegen die Angriffe auf das Pensionssystem eine entscheidende Schwelle überschritten. Die großen Aktionstage bilden nicht mehr das Zentrum, wenngleich sie weiterhin genauso stark und kämpferisch sind, wie es der 19. Oktober gezeigt hat. Künftig verlagert sich die zentrale Achse des Kampfes jedoch auf unbefristete Streiks und verschiedene Methoden der Wirtschaftsblockade.
In allen Regionen kommt es zu einem Anstieg der Initiativen in der Bewegung: Arbeitsniederlegungen, Streikposten, Sperren, Kundgebungen usw. In der besten Tradition der französischen ArbeiterInnenbewegung entwickelt sich der Streik zu einer Initiative der Gewerkschaften auf Ebene des jeweiligen Unternehmens, der Region, berufsübergreifend usw. – trotz der Passivität der Bundesleitungen, die auf diesem Gebiet gar nichts leiten. Dazu kommt die zunehmende Einbindung der Jugend; künftig werden auch Studierende gemeinsam mit den massiv mobilisierten SchülerInnen die Bühne betreten. Tag für Tag wird der Regierung Sarkozy der Boden unter den Füßen ein Stückchen mehr entzogen.
Im Land des Juni 1936 und des Mai 1968 kann niemand sagen, wo die Streikbewegung enden wird. Schon jetzt häufen sich die Forderungen – bezüglich Löhnen, Arbeitsbedingungen, Beschäftigung – zur gewünschten Rücknahme der Reform Woerth (Arbeitsminister; Mitglied der UMP) wie das Massaker an den Pensionen offiziell heißt. Die Bewegung nährt sich von der über die letzten Jahre angesammelten Wut und Frustration der Masse der Bevölkerung. Die Autorität der Regierung befindet sich im freien Fall. Eric Woerth ist der am meisten diskreditierte Mann Frankreichs. Und trotzdem schickt Sarkozy ihn auf die Fernsehbildschirme, um uns zu erklären, dass diese Reform das „allgemeine Interesse“ darstellt – zwei Worte, die fremd im Mund des Ministers für Arbeit und Korruption klingen.
Die Tatsachen widersprechen laufend den fortwährenden Versicherungen der Regierung. Woerth behauptet, dass die Bewegung „sich verlangsamt“, obwohl sie sich täglich verstärkt. Dominique Bussereau (Staatssekretär für Verkehrswesen; Mitglied der UMP) bestätigt, dass es keine Benzinknappheit gibt, obwohl die AutofahrerInnen das Gegenteil feststellen müssen. Fillon(Premierminister; Mitglied der UMP) beschwört, dass er nicht zulässt, dass sich die Blockaden über das Land ausdehnen – und siehe da, wie sie sich vermehren. Und so weiter. Die Regierung versinkt in einer grotesken Realitätsverweigerung. Ihre Ohnmacht macht sich vor aller Augen sichtbar. Das untergräbt ihre Autorität noch weiter – und stärkt die Moral der Jugend und der ArbeiterInnen im Kampf.
Kürzlich appellierte Xavier Bertrand (Generalsekretär der UMP) an die vermeintliche „schweigende Mehrheit“, ihrer Unterstützung für die Reform Woerth Ausdruck zu verleihen. Dieser Appell ist offenbar im Nichts verhallt. Sie haben offensichtlich vergessen, den Chef der UMP (Union pour un mouvement populaire – Union für eine Volksbewegung; rechts-konservatives Parteienbündnis) von den Umfragen zu informieren, die seit mehreren Monaten ergeben, dass nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung das Projekt der Regierung unterstützt. Die große Mehrheit ist dagegen, ebenso wie sie gegen die Regierung als Ganzes und gegen Nicolas Sarkozy im Speziellen ist. Sie ist dagegen trotz der fortwährenden – wenig schweigsamen – Medienfanfaren, die vergeblich versuchen, uns zu überzeugen, dass diese Reform unaufschiebbar ist.
Die Dienstfertigkeit der Medienindustrie ist unverhohlen. Die Fernsehsendungen tischen uns alle Lügen der Machthabenden auf. Sie versuchen, die Bewegung zu diskreditieren, indem sie in Dauerschleifen Bilder von Zusammenstößen zwischen Ordnungskräften und den „Jugendbanden“ (die von ProvokateurInnen durchsetzt sind) ausstrahlen. Sie schweigen über die schlagkräftige Bewegung, die sich in zahlreichen Teilen der Wirtschaft entwickelt. Doch das hat seine Grenzen. Statt die Bewegung zu diskreditieren, diskreditieren sich die Massenmedien nur selbst.
Die Macht der ArbeiterInnenklasse
Diese Bewegung ist die Antwort auf alle SkeptikerInnen, die in den letzten 30 Jahren über die „Ohnmacht“ und die „Atomisierung“ der ArbeiterInnenklasse, sogar über ihr „Verschwinden“ räsoniert haben. In Wirklichkeit gebieten die Werktätigen über eine potenziell absolute Macht. Sie bilden die überwältigende Mehrheit der aktiven Bevölkerung. Nichts funktioniert ohne ihre Erlaubnis. Nun besteht die erste Konsequenz einer großen Streikbewegung darin, den ArbeiterInnen das Bewusstsein über ebendiese ihre Kraft zu vermitteln. „Das Land sind wir!“ rief kürzlich ein Streikender in einer Raffinerie vor laufender TV-Kamera aus. Diese Wahrheit hat revolutionäre Implikationen. Wenn sich die ArbeiterInnen in der Aktion einmal ihrer großen kollektiven Kraft bewusst geworden sind, kann sie so leicht nichts mehr aufhalten!
In Frankreich wie in ganz Europa hat die zunehmende Integration und gegenseitige Abhängigkeit unterschiedlicher Wirtschaftszweige die potenzielle Macht der Lohnabhängigen beträchtlich verstärkt. JedeR sieht heute bei den Streiks in Häfen und Raffinerien die Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft. Ebenso würde ein Generalstreik der LKW-FahrerInnen, der EisenbahnerInnen und aller Beschäftigten im Transportwesen das Land völlig lahmlegen. Noch jemand ruft zum unbegrenzten Streik auf, der die drückende Stimmung an der Staatsspitze noch verstärkt: die Gewerkschaft der Geldkuriere. 2001 schon hatte ein mächtiger Streik der Geldkuriere die Verteilung und Versorgung mit Banknoten paralysiert.
Am Dienstag den 19. Oktober kündigte Francois Fillon einen „Plan der Treibstoffbeförderung“ an, der die „Rückkehr zur Normalität“ in „vier oder fünf Tagen“ erlauben sollte. Diese Verlautbarung folgte 48 Stunden nach jener, bereits vergessenen, der gemäß es keine Versorgungsengpässe gäbe. Doch der Premierminister zeigt sich nicht sehr beredsam bezüglich der Details seines Plans. Es sei denn, die Regierungsmitglieder befördern selbst den Treibstoff in die Tankstellen, wo ihn die ArbeiterInnen übernehmen müssten oder führen die Zwangsarbeit wieder ein, wie es seit wenigen Tagen in einer Raffinerie in der Nähe von Paris der Fall ist. Die in diesem Sektor Beschäftigten wirken aber nicht so, als ob sie auf die Regierung gut zu sprechen wären! Die Dienstverpflichtung von Streikenden – mit fünf Jahren Gefängnis bedroht – ist eine skandalöse Verletzung des Streikrechts. Die Hauptwirkung davon ist einzig die Verstärkung der Wut und der Entschlossenheit der BerufsfahrerInnen. Es wird keine „Rückkehr zur Normalität“ geben, solange der Streik der Raffinerien, der Streik in den Häfen und die Blockade der Lagerhallen aufrecht bleiben.
Für einen unbefristeten Streik
Immer wieder hat La Riposte erklärt, dass die Entschlossenheit der Regierung, unsere Pensionen zu ruinieren, nicht mit Aktionstagen – und seien sie noch so lautstark – erschüttert werden kann. Künftig sind sich dessen alle bewusst. Das Beharren Sarkozys ist aus Sicht der Klasse, deren Interessen er verteidigt, völlig normal. Angesichts einer größeren Wirtschaftskrise und einer Rekordstaatsverschuldung (über 80% des BIP) hat die KapitalistInnenklasse keine andere Wahl als unsere sozialen Errungenschaften anzugreifen. Heute sind es die Pensionen. Morgen wird es die Krankenversicherung sein, das Bildungswesen, der soziale Wohnbau, die Arbeitslosenversicherung sein – und dann wieder die Pensionen. Nachdem Milliarden Euro in Banksafes und Großkonzerne geschüttet worden sind, will der Staat dieses Geld zum Nachteil der großen Mehrheit der Bevölkerung wieder zurückhaben. Kapitalismus bedeutet künftig die permanente Rücknahme des Sozialen.
In diesem Zusammenhang ist nur eine flächendeckende Verbreitung der Bewegung für einen unbefristeten Streik geeignet, Sarkozy zurückzudrängen. Es stimmt, dass sich eine solche Bewegung nicht per Erlass verordnen lässt. Wir dürfen die Losung eines unbefristeten Generalstreiks nicht achtlos auf die Tagesordnung setzen. Ein solcher entwickelt sich nur aufgrund der gegebenen Umstände: wenn er das einzige ist, das die Bewegung vorwärts treiben kann – und wenn das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse dafür bereit ist. Heute sind all diese Bedingungen ganz klar vorhanden. Ein unbefristeter Generalstreik wäre die direkte logische Verlängerung der vielfältigen Streiks, die das Land jeden Tag ein wenig mehr paralysieren. Appelle in diesem Sinn kommen aus zahlreichen Gewerkschaftsstrukturen – nicht nur aus den Gewerkschaftsverbänden, sondern auch aus den berufsübergreifenden Generalversammlungen, z.B. auf Departementebene in den Ardennen und in Haute-Loire. Außerdem zeigen die Umfragen, dass trotz der Beharrlichkeit der Regierung alle Kräfte der ArbeiterInnenklasse und der Jugend auch für eine lange und ausgedehnte Streikbewegung bereit sind.
Die Entwicklung eines unfristeten Generalstreiks muss von einer Zentralisierung und einer demokratischen Koordination der Bewegung begleitet sein. Die Stätten des Streiks müssen sich auf lokaler und nationaler Ebene koordinieren, auf Basis gewählter – und abwählbarer – Delegierter für eine Generalversammlung. Eine nationale berufsgruppenübergreinde Koordinierung könnte die Informationen zentral sammeln, sie weiterleiten, die Bewegung Tag für Tag diskutieren und die notwendigen Initiativen zur Stärkung des Streiks einleiten. Die intersyndicale nationale (landesweiter Koordination der Gewerkschaftsdachverbände), in der mehrere Mitglieder sich dafür ausgesprochen haben, die Bewegung nach einer Abstimmung im Senat zu beenden, darf keine Rolle spielen.
Die Regierung versichert, dass das Parlament die „Vertretung der Nation“ ist und dass es unter diesem Titel legitimerweise für die Reform Woerth stimmen kann. Doch in Wirklichkeit ist die parlamentarische Mehrheit das Sprachrohr einer Handvoll GroßkapitalistInnen, die sich um den „Pensionsmarkt“ scharen wie die Aasgeier. Auf der anderen Seite gibt es eine wachsende Mehrheit von Jugendlichen und Werktätigen, die gegen die Reform sind. Dieser Widerspruch zwischen dem Parlament und der ArbeiterInnenbewegung wird im Kampf entschieden werden. Laut einer am 20. Oktober veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts BVA sprechen sich 59% der Befragten dafür aus, dass „die Gewerkschaften ihre Appelle an die Streikbewegungen und die Kundgebungen auch nach der Verabschiedung der Pensionsreform durch das Parlament fortsetzen“. Die Gewerkschaftsführenden, die behaupten, dass die Abstimmung im Senat „die Gesamtlage ändert“, versuchen ihre Kapitulation mit einem institutionellen Deckmäntelchen zu verschleiern. Die Bewegung wächst. Sie muss gestärkt und weiter entwickelt werden – egal was die reaktionäre Mehrheit, die das Parlament kontrolliert, denkt.
Jerome Metellus, PCF im 18. Bezirk von Paris
Paris, 20. Oktober 2010
Übersetzung: „Wir sind ÖGB“
Finanzielle Solidarität mit den streikenden RaffineriearbeiterInnen!
Wir veröffentlichen ein Rundschreiben des Zentralsekretariats der französischen Gewerkschaft FNIC-CGT.
Wir haben eine Reihe von Vorschlägen zur solidarischen Unterstützung der Streikenden in unseren Betrieben erhalten. Wir möchten noch einmal unmissverständlich darauf hinweisen, dass die beste „Solidarität“ darin besteht, das Ausmaß der Streiks auf andere Berufe und Wirtschaftszweige auszuweiten und die Lücken in den Reihen der Streikenden zu schließen. Mit diesem Mittel allein können wir gemeinsam die drohende Zerschlagung unserer Sozialversicherung durch den Medef (frz. Wirtschaftsvereinigung) und die Regierung stoppen. Jeder und jede Einzelne muss deshalb sein bzw. ihr Bestes geben, um die Kämpfe in unserem Land weiter auszuweiten, nicht nur um unsere Forderungen durchsetzen zu können, sondern auch um die repressiven Auswüchse gegen unser Streikrecht und unser Recht auf die Verteidigung unserer Interessen in Frankreich zu beseitigen.
Die Nationale Föderation der Chemischen Industrien CGT möchte euch danken für die Organisierung der finanziellen Solidarität mit den ArbeiterInnen der Raffinerien und anderer Branchen, die gegen die drohende Pensionsreform und das Abwälzen der Schulden der Krise auf die Schultern der Lohnabhängigen streiken.
Beiträge für die finanzielle Solidarität können an folgende Adresse geschickt werden:
FNIC-CGT, 263 rue de Paris, Case 429, 93514 Montreuil Cedex.
Mit genosschenschaftlichen Grüßen,
Der Zentralsekretär der FNIC-CGT
Übersetzung: Anna Götsch