Dieses äußerst spannende Interview mit dem ehemaligen Handelsminister Eduardo Samán über seine Erfahrungen in der revolutionären Bewegung, ArbeiterInnenkontrolle, den Kampf gegen Wirtschaftssabotage und die Rolle der Bürokratie in Venezuela erschien zuerst in Lucha de Clases.
Am 10. Februar 2010 wurde Eduardo Samán von der venezolanischen Bundesbehörde darüber informiert, dass der Vorstand der PSUV ihn vom Amt des Handelsministers abgelöst habe. Samán war in Venezuela bekannt als Minister, der sehr enge Beziehungen zu den revolutionären Kräften unterhielt und die Probleme und Sorgen der arbeitenden Menschen kannte. Er war bei den ArbeiterInnen sehr beliebt, weil er die Arbeiterkontrolle in Fabriken wie La Gaviota im Bundesstaat Sucre vorantrieb.
Das Vorgehen seines Ministeriums führte jedoch zu einer großen Unzufriedenheit bei den Arbeitgebern, denen Samán eine Mitschuld für seine plötzliche Entfernung aus dem Amt gibt. Lucha de Clases, die venezolanische Sektion der International Marxist Tendency interviewte Samán, um seine Meinung über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bolivarischen Revolution zu erfahren.
LC: In Venezuela bist du sehr bekannt, aber dieses Interview wird auch einer internationalen Leserschaft zugänglich gemacht und auf der Website von www.marxist.com veröffentlicht werden. Könntest du uns zuerst etwas über deine politischen Aktivitäten, den Kampf, den du gegen die Wirtschaftssabotage geführt hast etc. erzählen?
ES: Ja, natürlich. Das will ich gerne tun. Ich wurde 1964 als Kind arabischer Immigranten im Arbeiterviertel Catía im Westen von Caracas geboren. Mit 18, also 1982, wurde ich zum ersten Mal politisch bewusst. Ich beteiligte mich am Kampf von Oberschülern, denen man den Zugang zur Universität verweigerte. Wir wollten auf die Uni und eine vernünftige Ausbildung und Zukunft haben.
Ich wollte Pharmazie studieren, aber die UCV (Venezuelas Zentraluniversität) war damals sehr elitär. Mir wurden damals die bestehenden tief greifenden sozialen Ungleichheiten bewusst. Die Reichen wissen das: Sie haben ihr eigenes Klassenbewusstsein. Aber diejenigen, die aus bescheidenen Verhältnissen kommen, sehen das nicht auf dem ersten Blick, wir glauben, dass jeder in der Gesellschaft gleich ist.
1982 nahm ich an einem viertägigen Hungerstreik teil. Ich durfte schließlich auf die Uni und schloss mein Studium im Januar 1989, kurz vor dem Caracazo-Aufstand, ab. Damals war ich Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, aus dem ich aber ein Jahr vor dem Ende meines Studiums austrat, als ich merkte, dass die KP politisch degenerierte, was sich 1993 bestätigte, als die Partei die Präsidentschaftskandidatur des konservativen Rafael Caldera unterstützte.
LC: Welche Erinnerungen hast du an den Caracazo-Aufstand?
ES: Das war ein schreckliches Blutbad. Am 27. Februar hielt ich eine Vorlesung in der medizinischen Fakultät. Ich konnte in der pharmazeutischen Industrie keinen Arbeitsplatz finden, denn wenn mal als „Roter“ auf der Liste stand, gaben sie dir keine Arbeit.
Der Caracazo-Aufstand war eine spontane Aktion, bei der die Führung fehlte. Er war wie eine Explosion der Frustrationen, die sich bei den Menschen über einen langen Zeitraum aufgestaut hatten. An diesem Tag beschloss ich den ganzen Weg von der medizinischen Fakultät in Altamira, im Osten von Caracas, zu meiner Wohnung in Catía zu laufen. Auf den Straßen hatten die Plünderungen begonnen, aber das Überraschende war, dass sich viele Polizisten daran beteiligten.
Ich sah auch die ersten Repressionsmaßnahmen auf den Straßen. Aber erst am zweiten Tag zog Militär in der Hauptstadt auf und Soldaten wurden in die Elendsviertel geschickt, um die Situation „unter Kontrolle“ zu bringen. Sie wollten ihre Klassenbrüder und -schwestern nicht erschießen.
Natürlich mussten wir unsere politischen Materialien verschwinden lassen, um nicht verhaftet zu werden oder in die Hände der berüchtigten Geheimpolizei DISIP zu geraten. Damals verlor ich meine gesamten Werke von Marx, Engels und Lenin.
Der Caracazo-Aufstand war ein Faktor, der die politische Landschaft in den vergangenen zwanzig Jahren beeinflusst hat.
LC: Wie wurdest du zum Anführer beim Kampf gegen das Horten von Lebensmittel und der Sabotage durch die Nahrungsmittelindustrie?
ES: Ich wurde von der venezolanischen Vizepräsidentin Adina Bastidas zum Leiter der INDECU ernannt. Bastidas war eine sehr mutige Frau, die politisch weit links von der Regierung stand.
INDECU war das Institut zur Verteidigung und Erziehung der Konsumenten, 2008 wurde der Name geändert in INDEPABIS, Institut zur Verteidigung des Zugangs der Bevölkerung zu Waren und Dienstleistungen. Der Grund für die Namens- und Gesetzesänderung war das Wort „Konsument“, das aus dem kapitalistischen Sprachgebrauch kommt. Der „Konsument“ ist eine Person, die über Geld verfügt und so in der Lage ist, gewisse Produkte zu konsumieren.
Wir wollten mit diesem System brechen. Wir glaubten, es sei unmöglich das neue Venezuela mit den alten Begriffen des kapitalistischen Handels aufzubauen und entwickelten eine Analyse, wie die Monopole gestärkt werden.
Das grundlegende Problem ist, dass man Venezuela nicht auf einer kapitalistischen Basis industrialisieren kann. Sie verurteilten Venezuela als „Rohstoffökonomie-Land“, das ausschließlich Öl produziert und sämtlichen anderen Produkte importiert. Wir besitzen eine petrochemische Industrie, aber es wird in ganz Venezuela kein Spielzeug hergestellt.
LC: Welche Schwerpunkte hatte euer Ministerium? Wie hat es den Menschen gedient?
ES: Es gab Leute, die haben gesagt: „Samán wollte Polar, [den größten Nahrungsmittelkonzern Venezuelas], ruinieren. Was kann ich denen entgegnen? Natürlich wollte ich das! Es ist nicht zu rechtfertigen, dass ein Konzern das Handelsmonopol hat und es ist nicht vertretbar, dass dieser Konzern sein Eigentum nutzt, um zu entscheiden, wann es zu einer Lebensmittelverknappung kommt und wann nicht.
Preiskontrollen waren unsere Waffe im Klassenkampf. Davon haben wir im März 2009 unter meiner Führung, mit der Zustimmung von Präsident Chávez, Gebrauch gemacht, als wir beschlossen, die Reisplantagen von Polar zu inspizieren und wir fanden heraus, dass sie nur Luxusreis produzierten, um so die Preiskontrollen zu umgehen. Während dieser Auseinandersetzungen entschloss sich der Präsident, mich zum Handelsminister zu ernennen.
Vom ersten Tag in dieser Position an versuchte ich, die Macht der venezolanischen Oligarchie und der multinationalen Konzerne zu brechen. Wir schufen das Arepera Socialista Restaurant in Caracas, wo Leute ein Mittagessen erhalten, das 40% und billiger ist.
Wir untersuchten ebenfalls den Handel und die Produktion in verschiedenen Sektoren, u.a. in der Kaffeeerzeugung. Dort fanden wir heraus, dass Café Madrid und Café Fama de América 80% des Marktes durch schmutzige Tricks und unfaire Handelsvorteile beim Kauf der Rohstoffe kontrollierten. Wir beschlossen bei Café Fama de América einzuschreiten und Cafea, eine Fabrik, die von den ArbeiterInnen in Rubio im Bundesstaat Táchira besetzte worden war, zu verstaatlichen.
LC: Du hast sehr intensiv mit ArbeiterInnen im gesamten Land zusammengearbeitet. Eine besonders wichtige Erfahrung hast du bei den ArbeiterInnen von La Gaviota im Bundesstaat Sucre gemacht. Kannst du davon berichten?
ES: La Gaviota ist eine Sardinenkonservenfabrik. Im Januar und Februar 2009 gab es einen Streik der ArbeiterInnen als der Boss nicht bereit war, den meisten Rahmenabkommen und den im Arbeitsrecht festgelegten Rechten nachzukommen.
Wir fassten den Beschluss uns dort einzumischen, um die Fabrik wieder in Gang zu bekommen. Aber natürlich waren die Maschinen alt und abgenutzt, die Arbeitskräfte waren schon älter und das Ziel des Unternehmers war es, die Fabrik aufzulösen. Das wäre aber für die umliegenden Gemeinden eine Katastrophe gewesen, da viele Familien von einer funktionierenden Fabrik abhängig waren. In der Fabrik arbeiteten 300 ArbeiterInnen, die zum größten Teil aus den beiden Nachbargemeinden kamen.
Zuerst einmal haben wir den ArbeiterInnen erklärt, dass wir keine neuen Bosse seien. Ich schickte Genossen in die Fabrik, die an der Seite der ArbeiterInnen arbeiteten, um ihnen etwas zu lehren, aber gleichzeitig selbst auch zu lernen.
Das Entscheidende in der ersten Phase war es, die Teilung zwischen der Handarbeit und der Verwaltung aufzubrechen. In jedem kapitalistischen Betrieb ist es normal, dass der Unternehmer die ArbeiterInnen von den Angestellten in der Verwaltung trennen will, um eine Verbrüderung um jeden Preis zu verhindern. Das ist kein Zufall, denn die Offenlegung der Konten, des Haushalts usw. enthüllt sämtliche Betriebsgeheimnisse und deckt die wirklichen Zahlen auf. Der Arbeitgeber will, dass die ArbeiterInnen diese nicht zu Gesicht bekommen.
Am 19. Mai 2009, nur zwei Wochen nachdem der Staat sich in die Fabrik eingemischt hatte, produzierte das Werk mit 50% seiner Kapazität, d. h. zwischen 25 und 30 Tonnen in der Woche. Die Gewinne waren sehr gering, aber die Fabrik machte keine Verluste. Wir haben praktisch aufgezeigt, dass wir in der Lage waren mit den Erlösen aus der Produktion, die Löhne zu zahlen und die Instandhaltungsarbeiten zu gewährleisten
Das höchste Entscheidungsgremium war in dieser Periode die ArbeiterInnenversammlung. In den ersten vier Monaten hielten wir 40 Versammlungen ab, an denen die gesamten Arbeitskräfte teilnahmen. Es wurde ebenfalls ein Arbeiterrat gewählt, der jedoch nicht den Gegenpart zu den Gewerkschaften spielte. Im Gegenteil, die beiden Organe ergänzten sich gegenseitig, der Rat führte die alltäglichen Geschäfte in der Fabrik und die Gewerkschaften kämpfte für die Forderungen der ArbeiterInnen. Es ist eigentlich sehr bezeichnend, dass die Hälfte der Mitglieder der Gewerkschaftsführung, die militantesten Kräfte, auch in den neuen Arbeiterrat gewählt wurde.
Außerdem wurde eine grundlegende kulturelle Arbeit mit den ArbeiterInnen initiiert. Es wurde eine Theatergruppe gegründet, eine Bibliothek errichtet, um das Lesen von Büchern zu fördern und wir starteten Ableger des Bildungsprogramms der Regierung: die Misión Ribas und Misión Robinson.
Wir machten dabei hervorragende Erfahrungen, die unglücklicherweise beendet wurden, als man mich aus dem Ministerium vertrieb. Aber das Beispiel von La Gaviota zeigt, dass Arbeiterkontrolle keine „Illusion“ ist, wie Toby Valderrama u.a. behauptet haben, sondern etwas Konkretes, das zeigt, dass ArbeiterInnen sehr wohl in der Lage sind, die Gesellschaft selbst zu führen.
LC: Warum, glaubst du, hat man dich aus dem Handelsministerium entfernt?
ES: Es ist schon vorher passiert, dass unpopuläre Entscheidungen in Venezuela genau vor den Feiertagen getroffen werden, um das Volk ruhig zu halten. Das war auch in meinem Fall so, sie haben mich genau vor den Karnevals-Feiertagen aus meinem Amt entfernt.
Dafür wurden keine Gründe genannt und natürlich kann der Präsident die Minister nach Belieben austauschen. Aber ich vermute, dass die Kapitalisten in der Nahrungsmittelindustrie beteiligt waren. Ich glaube, sie haben meinen Kopf als Garantie verlangt und als Gegenleistung versprochen, im Wahljahr keine Lebensmittelknappheit zu erzeugen. Sie sprachen Drohungen aus und ich war das Hindernis, das sie aus dem Weg geschafft haben wollten.
Der neue Handelsminister Ricardo Canán gab als erstes grünes Licht für Preissteigerungen für wichtige Produkte wie Tomaten, Margarine und Mayonnaise. Ich hätte dem nie zugestimmt.
LC: Welches sind die Perspektiven für die Bolivarische Revolution nach den Wahlen vom 26. September?
ES: Es sind in der momentanen Situation zwei Szenarien möglich. Die erste ist eine Radikalisierung der Revolution. Um diesen Weg zu gehen, muss sich die PSUV grundlegend ändern. Das beinhaltet einen kompromisslosen Kampf gegen Bürokratie und Korruption.
Das andere Szenario ist eine Art Versöhnung seitens der Revolution mit dem rechten Flügel oder der Status Quo könnte bleiben wie bisher, ohne bedeutende Änderungen. In einem solchen Fall hätten wir es mit einem Todeskampf zu tun, nämlich den langsamen Tod der Revolution.
Die Konterrevolution wird den Präsidenten nicht sofort attackieren. Sie haben kein Interesse an ein Abwahlreferendum, denn sie braucht die beiden nächsten Jahre bis 2012, wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden, um bei den Armen, den ArbeiterInnen und den Bauern die notwendige Apathie zu erzeugen. Ihr Hauptziel ist es, dass die Unzufriedenheit dazu führt, dass die Leute nicht mehr zu den Wahlen gehen und das wäre für die Revolution tödlich.
Obwohl die Opposition milde Töne anschlägt und vorgibt, Probleme, wie die Kriminalitätsrate, die Inflation usw. lösen zu wollen, ist sie in Wirklichkeit nicht an der Weiterentwicklung Venezuelas interessiert. Sie will nicht einmal ihre eigene Politik umsetzen, sie wird von den USA gesteuert. Ihr eigentliches Anliegen besteht darin, den nordamerikanischen Imperialisten das Öl zurückzugeben.
Man muss sich vorstellen, dass es sich um einen großen Apparat handelt, der gegen einen Mann ist, gegen Präsident Chávez. Erinnerst du dich an den ersten Computer, der Schach gegen einen Menschen spielte? Etwas Ähnliches passiert momentan und in Wirklichkeit kämpft Genosse Chávez gegen diese Maschinerie.
LC: Wir haben viel über die Probleme bezüglich der Revolution gesprochen. Aber welche Botschaft kannst du unseren Lesern übermitteln? Wie sieht in der jetzigen Situation der Weg nach vorn aus?
ES: Der einzige Weg nach vorn verlangt nach einer breit geführten Diskussion in unserer eigenen Partei, der PSUV. Wir müssen innerhalb der PSUV eine radikale Strömung aufbauen nicht um die Partei zu spalten, sondern um uns als Strömung in die Diskussion einzubringen.
Präsident Chávez muss die Existenz einer solchen radikalen Strömung anerkennen. Diese Strömung kann die Revolution vor einer vollständigen Niederlage retten, denn sie könnte in der Lage sein, die Unzufriedenen zu aktivieren und sie auf die Partei zu orientieren. Anstatt wertvolle Leute zu haben, die von der Bürokratie und dem langsamen Fortschreiten der Revolution enttäuscht sind, nach Hause gehen und sich von der Politik abwenden, könnten sich diese in einer radikalen Strömung organisieren, falls sie diese als durchführbare Alternative, als Hoffnungsschimmer, betrachten.
Mit einer organisierten Strömung innerhalb der Partei könnte die Bürokratie herausgefordert werden. Es ist nicht wahr, dass die venezolanische Opposition die „Fünfte Kolonne“ ist. Das ist ein Versuch diesen Begriff zu verwässern. Die wirkliche „Fünfte Kolonne“ ist die Bürokratie, die in unserer eigenen Bolivarischen Bewegung existiert und wir sollten uns organisieren, diese aus den führenden Positionen, die sie besetzt hält, zu verdrängen. Nur auf der Basis der Anwendung der drei „R’s“ [Chávez Forderung nach Revision (Änderung), Rektifikation (Verbesserung) und Weiterentwicklung, Anm.] auf die Revolution können wir einen Weg nach vorn finden.
Analyse der Parlamentswahlen in Venezuela: Sozialistische Partei gewinnt Mehrheit, doch Opposition gewinnt an Boden
Die Stimmung im Präsidentenpalast Miraflores in der Wahlnacht war vorsichtig abwartend und man konnte eine leichte Nervosität spüren, die in der Luft lag, als tausende Anhänger der Bolivarischen Bewegung gespannt auf das erste Ergebnis der parlamentarischen Landeswahl warteten.
Anmerkung der Redaktion. Dieser Artikel wurde von unserem Korrespondenten in Caracas geschrieben als das Endergebnis der Wahl noch nicht vollständig vorlag. Trotzdem geben wir diesen Text vollständig wieder, da er sehr wichtige Fragen aufwirft und deshalb ungekürzt bleiben soll. Wir werden durch Anmerkungen im Text, den aktuellen Stand der Wahlen in Venezuela wiedergeben.
Es ging um sehr viel in diesen Wahlen. Verschiedene Zeitungen und Nachrichtenagenturen rund um die Welt hatten geschrieben, dass Venezuela nicht nur über die Zusammensetzung des Parlaments abstimmt, sondern auch über das Schicksal des „Marsches zum Sozialismus“, den die Chavez-Regierung als ihr erklärtes Ziel ausgegeben hat.
Endlich, um 02:00 Uhr morgens wurden die ersten Ergebnisse vom nationalen Direktor der CNE, Tibisay Lucena, verkündet.
Ein sehr knappes Ergebnis
Gemäß PSUV und Opposition gewann die PSUV zusammen mit ihren Koalitionspartner, der kleinen PCV (Kommunistische Partei Venezuelas) und der MEP (Volkswahlbewegung) 98 Sitze, während die Parteien der rechten, bürgerlichen Allianz MUD 65 Sitze gewannen und die PPT 2 Sitze.
Der rechte Flügel behauptet, die Mehrheit von 52% gewonnen zu haben. Sie seien durch das System der Wahlkreise geschlagen worden, obwohl sie ja die eigentlichen Sieger der Wahl seien.
Allerdings passt diese Behauptung der Opposition auch nicht zu dem absoluten Stimmenergebnis dieser Wahl zusammen: Endergebnis: PSUV und Verbündete 5.451.422 (48,20%); rechte Opposition 5.334.309 (47,17%).
Manche Menschen in Caracas sprechen von einem „technischen Patt“, wenn es um die absolute Stimmenzahl geht, aber die PSUV gewann die Mehrheit der Sitze im Parlament.
Wenn wir uns die verschiedenen Bundesstaaten genauer ansehen, wird klar, dass die Revolution in einigen Schlüsselregionen an Terrain verloren hat. Es wurde zwar erwartet, dass die Opposition in Zulia gewinnen würde, wo sie seit mehreren Jahren den Gouverneur stellt. Aber nur wenige konnten sich vorstellen, dass die Opposition dort einen derartig massiven Sieg davon tragen würde, wie wir ihn gestern gesehen haben; während die Opposition 12 Sitze gewann, bekam die PSUV nur noch 3.
Eine andere große Überraschung war das Ergebnis in Anzoátegui, wo die PSUV eine demütigende Niederlage erlitt und im Verhältnis von 1 zu 5 geschlagen wurde. Und dies trotz der Tatsache, dass sie dort den Gouverneur stellt und jahrelange Wahlsiege vorweisen konnte.
Im Bundesstaat Miranda gab es ein Unentschieden zwischen PSUV und MUD, jede der Parteien bekam sechs Sitze. In Nueva Esparta wurde die PSUV im Verhältnis 3 zu 1 geschlagen. Ein genereller Trend bei dieser Wahl war, dass die zentralen Regionen des Landes mit einer hohen Bevölkerungsdichte an die Opposition verloren gingen. Ein Phänomen, welches wir schon bei den Kommunal- und Regionalwahlen 2008 sahen.
In vielen Wahlkreisen siegte die PSUV nur sehr knapp. Die offiziellen Ergebnisse sind bis jetzt noch nicht raus, aber nach nicht offiziellen Berichten von Organisatoren der PSUV hat etwa Robert Serra im Wahlkreis 2 in Caracas nur mit einem knappen Vorsprung von 3.000 Stimmen (50,33 Prozent) gewonnen. Aristúbolo Istúriz, der auch in Caracas aufgestellt war, gewann seinen Wahlkreis mit ähnlich knappem Vorsprung in einem Kopf-an-Kopf-Rennen gegen den Oppositionskanditaten.
Anmerkung Redaktion: Offiziell gewann die PSUV die Mehrheit der Sitze in 16 von 23 Bundesstaaten. Siege in den ländlichen Bundesstaaten Apure, Barinas, Guarico, Cojedes, Lara, Portugesa, Vargas und Yaracuy; große Siege in den industriellen Bundesstaaten Bolivar und Carobobo. Die PSUV gewann auch sieben Sitze im Bezirk Hauptstadt, die MUD dagegen nur drei. Im Bundesstaat Miranda, in dem die Hauptstadt Caracas liegt, gewannen PSUV und MUD je drei Sitze.
Warum scheiterte die PSUV darin die 110 Sitze zu gewinnen?
Die Situation nach diesen Wahlen ist diese, dass die PSUV immer noch die einfache Mehrheit hat. Aber sie scheiterte darin, die 110 Abgeordneten zu gewinnen, die für die Zweidrittel-Mehrheit erforderlich sind. In dem Artikel den wir am Wahlsonntag schrieben (Die Bedeutung der heutigen Wahlen in Venezuela) haben wir wir unterstrichen, dass das Erreichen der Zweidrittel-Mehrheit das Hauptziel für Hugo Chavez sein muss, weil es seiner Regierung erlauben würde, die Gesetzgebung und Verabschiedung von Gesetzten ohne jede Einmischung der Opposition weiter voranzutreiben.
Wie wir betonten, würde die Opposition alle Kräfte darauf konzentrieren, Chávez diese Zweidrittel-Mehrheit streitig zu machen, weil dies ihr die Möglichkeit zur Blockade und Behinderung jeder neuen revolutionären Initiative geben würde. Leider hat die Opposition ihr Ziel erreicht und mehr als ein Drittel der Sitze in der neuen Nationalversammlung gewonnen.
Die Frage, die sich jedes Mitglied der PSUV stellt, ist natürlich, weshalb die eigene Partei nicht mehr die Zweidrittel-Mehrheit gewinnen konnte. Außerdem fürchten viele Menschen zu Recht, dass die Opposition sich nun in einer neuen Qualität organisieren und formieren wird.
Während der Unterschied zwischen Revolution und Konterrevolution, ausgedrückt durch das Stimmenverhältnis, bei den Bürgermeister- und Gouverneurswahlen im November 2008 58% zu 42% betrug und sich 2009 bei der Volksbefragung zur Verfassungsänderung auf 54% zu 46% reduzierte, haben wir jetzt am Sonntag nahezu ein „technisches Unentschieden“.
In anderen Worten, es ist klar, dass die Opposition an Kraft gewonnen hat. Dies nicht zu berücksichtigen, wäre ein schwerer Fehler; ein Fehler der dazu dient, die Aufmerksamkeit von einer sehr ernsten Gefahr abzulenken, einer Gefahr die sehr real zu werden droht. Wir müssen eine ehrliche und kritische Bilanz dieser Wahl ziehen, wenn wir die Niederlage der Revolution in der Zukunft vermeiden wollen.
Warum konnte die Opposition an Boden gewinnen? Wir wissen, dass die Stimmenthaltung nicht so weit verbreitet gewesen ist, wie man hätte befürchten können. Die Wahlbeteiligung betrug rund 67%, was ein gutes Ergebnis für eine Parlamentswahl in Venezuela darstellt, obwohl dieses Ergebnis ein wenig unter dem Ergebnis von 70% liegt, welches bei der Volksbefragung von 2009 erreicht wurde.
Wir haben immer noch nicht alle Informationen über das Ausmaß der Wahlenthaltungen in den einzelnen Wahlkreisen, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass das Ausmaß der Wahlenthaltungen in den Hochburgen der Chávez-Anhänger höher ist als in den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Wohngebieten. Wir wissen sicher, dass die PSUV wieder in Petare verloren hat, einer der ärmsten Gegenden von Venezuela, wenn nicht sogar von ganz Lateinamerika. Dies ist eine ernste Warnung, dass etwas verdammt falsch läuft.
Es ist auch wahrscheinlich, dass einige Schichten von traditionellen Chávez-Unterstützern ein „voto catigo“ („Denkzettel“, Anm. d. Red.) ausstellten: sie bestraften die PSUV-Bürokratie für ihre schlechte Politik, indem sie die Opposition wählten. Nicht weil sie mit der Opposition zufrieden sind, sondern weil sie von dem ineffizienten und korrupten Charakter vieler Funktionäre und professionellen Politiker müde sind, die innerhalb der Bolivarischen Bewegung Ränge bekleiden.
Dies ist der Hauptgrund, der die Niederlage in Anzoátegui erklärt. Der Grund, weshalb die PSUV in diesem Bundesstaat in solch einem zerstörerischen Ausmaß verlor ist nicht schwer zu sehen. Der Präsident, Tarek William Saab, der offiziell als Repräsentant der Sozialistischen Partei im Amt ist, hat eine Politik betrieben, die sehr weit vom Sozialismus entfernt liegt. Er unterstützte die Bosse im Automobil-Sektor, einige von ihnen multinationale Konzerne, in ihren Kampf gegen die Betriebsbesetzungen bei Mitsubishi, Vivex, Macusa und anderen Werken. Dies erklärt, weshalb die Arbeiterklasse von Anzoátegui sehr wenig Begeisterung bei dieser Wahl zeigte.
Dasselbe Phänomen wiederholte sich an vielen Orten. Außerdem sollte noch folgendes generelles Problem berücksichtigt werden, welches Venezuela konfrontiert.
Dies waren die ersten Wahlen seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise, die Venezuela berührt. Neben dem Problem der hohen Inflationsrate bei den Preisen von Lebensmitteln und Konsumgütern des täglichen Lebens, was besonders die Arbeiter und Armen hart trifft, haben wir weiterhin das Problem der Schwarzmärkte und der Parallelwährung in Form der US-Dollar. Dies treibt die Spekulation an.
Der Regierung gelang es zwar, Lebensmittel-Paniken zu vermeiden, indem sie im Vorfeld der Wahlen Millionen in Lebensmittelprogramme steckte. Doch wie ein aktueller Artikel im Economist beschreibt führte dies dazu, dass die Regierung nun knapp an Mitteln ist und viele Kredite und Darlehen, die bereits Mittelklassenfamilien und kleinen Unternehmen zugesagt waren, wurden wieder zurückgerufen.
Spekulanten machten durch die Intensivierung des Schwarzmarktes Geschäfte, wo man Dollars kaufen kann. Die Wirtschaft von Venezuela wird nun effektiv durch diese Praktiken dominiert, indem viele Preise sich an den Schwarzmarktpreisen orientieren, an den dortigen US-Dollar-Preisen und nicht an der offiziellen Währung des Bolívar. Ohne ein Außenhandelsmonopol ist die Regierung nicht in der Lage, mit diesem Problem fertig zu werden.
Andere Probleme wie das Problem der wachsenden Kriminalität oder Stromausfälle belasten die normalen Bürger schwer. Aber die wahrscheinlich wichtigste Sache ist, dass die Menschen nach elf Jahren Revolution und der konstanten Mobilisierung fühlen, dass sich die Haupthebel der Macht noch immer in den Händen der Oligarchie befinden.
Trotz der vielen fortschrittlichen Reformen und nach vielen Fortschritten unterdrücken die Landbesitzer immer noch die armen Kleinbauern, kontrollieren die Bänker immer noch die Kredite und beuten die Kapitalisten nach wie vor die Arbeiter aus. 70% des Brutto-Sozial-Produkts in Venezuela werden immer noch vom Privatsektor erwirtschaftet – eine Tatsache die zeigt, dass der Kapitalismus in Venezuela immer noch sehr lebendig ist.
Versöhnung und Pluralismus?
Am Montagmorgen nach der Wahl waren die meisten der rechten Medien in Venezuela euphorisch. „Venezuela ist kein rotes Territorium mehr!“ Die Tageszeitung El Nacional verkündete dies auf ihrer Titelseite. Bezug nehmend auf die Regierung sagte Oppositionsführer Ramón Guillermo Avelado, dass „jene, die für Krieg und nationale Spaltung eintreten, heute geschlagen wurden“. Außerdem erklärte er, das Ergebnis sei ein Signal an die Regierung, keine einseitigen sozialistischen Gesetze zu beschließen.
Solche Botschaften wurden immer wieder in den oppositionellen Medien verbreitet.Voll der Tatsache bewusst, dass die Situation für einen direkten Angriff auf die Revolution nicht günstig ist, stellen sie sich als Verteidiger der „Versöhnung zwischen den zwei Blöcken“ dar. Folglich veröffentlicht die Conindustria, die Vereinigung der Industrie-Bosse eine Erklärung in der es heißt: Wir denken es an der Zeit. „Es ist an der Zeit, Brücken des Dialogs zu bauen“. Dies würde „ein Klima schaffen, in dem die private Initiative wachsen kann“.
Einige Sprecher der Opposition argumentierten auch, dass das gestrige Ergebnis den „Wunsch nach einem pluralistischen Parlament“ zeigt. Diese Damen und Herren vergessen bequemer Weise, dass es die Opposition selbst gewesen ist, die zum Boykott der Wahlen 2005 aufgerufen hat. Sie taten dies, weil sie dem Grunde nach dieselben korrupten, gewalttätigen Vertreter der Oligarchie sind, welche Hugo Chávez im April 2002 durch einen illegalen Militärputsch vertreiben wollte.
Diese Personen argumentieren nun im parlamentarischen Gewand für „Dialog und Kompromiss“, „Versöhnung“ usw. Sie appellieren an die Regierung, ihre Mehrheit nicht für eine „einseitige sozialistische Gesetzgebung“ einzusetzen. Aber was soll das heißen? In Wirklichkeit liefe dies auf folgendes hinaus: Die Mehrheit soll sich nach dem Willen der Minderheit richten! Das Parlament soll sich selbst abschaffen, um ja nicht die Minderheit zu stören.
Dies wird wahrscheinlich ein Echo im reformistischen Flügel der PSUV-Bürokratie finden, die danach trachten, das Tempo der Revolution zu verlangsamen. Wenn wir diesen Vorschlägen Folge leisten und uns auf solch eine Politik einlassen würden, dann wäre damit die Katastrophe programmiert. Es würde die Regierung entscheidend lähmen und sie davon abhalten, die dringenden Probleme der Armen und der Arbeiter anzugehen.
Wir brauchen nicht mehr Mäßigung und auch kein leeres Gerede. Was wir brauchen ist Aktion! Die PSUV hat immer noch die Mehrheit im Parlament. Sie könnte dem Präsident mit Mehrheit eine Generalvollmacht für alle notwendigen Maßnahmen erteilen, um den Kapitalismus ein für alle Mal abzuschaffen. Dies ist der einzige Weg nach vorne und diese Forderung sollten in der PSUV alle revolutionären Arbeitern, Armen, armen Kleinbauern und Studenten stellen.
Ist die Revolution unumkehrbar?
Diese Ergebnisse waren ein Schock für viele Aktivisten der Bolivarischen Bewegung. In der Vergangenheit sah es danach aus, dass Chávez und die Bolivarische Revolution auf einer Welle der Unsterblichkeit reiten würde. Sie würden die Wahlen wieder und wieder gewinnen, die einzige Ausnahme war 2007 beim Referendum. Aber nun, nach diesen Wahlen mit einem „technischen Unentschieden“ fragen sich viele Leute die Frage, die sich allen aufdrängt: Ist die Revolution unumkehrbar?
Ein wahrer Freund der Bolivarischen Revolution ist nicht jemand, der lange Reden über die Wunder von Venezuela uns seine Führer hält. Ein echter Genosse der Revolution ist jemand, der sich traut seine Unterstützer vor den wirklichen Gefahren in der Situation zu warnen.
Die Revolution in Venezuela ist weit davon entfernt, unumkehrbar zu sein. Lateinamerika hat viele Revolutionen im 20. JH erlebt, Bolivien 1952, Chile 1970-73, Argentinia 1969 und 1973-76, und so weiter. Die Revolution der Sandinisten in Nicaragua dauerte elf Jahre, von 1979-1990. Aber letzten Endes wurden alle diese Revolutionen geschlagen und wenig, wenn überhaupt etwas ist heute noch von den sozialen Errungenschaften übrig, die durch sie erreicht wurden.
Der Hauptgrund dafür, dass die Revolution von Venezuela immer noch nicht unumkehrbar ist, liegt darin, dass die Haupthebel der Macht noch immer in den Händen der Kapitalisten und Landbesitzer liegen. Dies ist eine kraftvolle Waffe, die von den Feinden der Revolution nach ihrem Belieben gegen die Revolution eingesetzt werden kann.
So lange der Kapitalismus die Oberhand behält, werden die Auswirkungen der Weltkrise den Alltag der Arbeiter und Armen in Venezuela bestimmen. Sie leiden unter Inflation, Entlassungen, Spekulation und so weiter. Dies wird so weitergehen und wahrscheinlich noch schlimmer werden, solange die Produktionsmittel in privaten Händen liegen.
Wie der Vormarsch der Konterrevolution gestoppt werden kann
Die Notwendigkeit, die Revolution zu vollenden ist heute dringender denn je. Erstaunlicher Weise bleibt die Situation nach mehr als zehn Jahren Revolution vorteilhaft. Chávez könnte immer noch seine Mehrheit im Parlament dazu nutzen, die größten Unternehmen zu übernehmen: die Lebensmittelindustrie und Supermarkt-Ketten, Banken und Industrien, die sich noch in privater Hand befinden.
Dies könnte von einem staatliches Außenhandelsmonopol begleitet werden, welches Venezuela die volle Kontrolle über die Wirtschaft des Landes gäbe. Außerdem würde ein Erlass für die Einführung der Arbeiterkontrolle im staatlichen Sektor sicherlich auf eine begeisterte Antwort treffen und die Arbeiter würden in allen Unternehmen Fabrik-Komitees aufstellen, wie wir es in embryonaler Form bei SIDOR und andern Basisindustrien in Guayana gesehen haben.
Eine solche Entwicklung würde der Regierung rasch die Mittel in die Hand geben, um die Probleme der Inflation, Spekulation, Wohnungsnot, Lebensmittelhortung und unzureichender Infrastruktur in den Griff zu bekommen und zu lösen. Eine radikale Agrarreform würde die Vorherrschaft der Großgrundbesitzer (Latifundien) brechen und den Kleinbauern Land geben. Weitreichende Kontrolle der Kredite würde es der Regierung ermöglichen, zinsgünstige Darlehen an die Bauern zu geben, um die Agrarproduktion zu intensivieren. Dadurch würde auch die absurde Masseneinfuhr von Lebensmitteln ein Ende finden.
Diese Forderungen müssen innerhalb der PSUV aufgeworfen werden, genauso im Gewerkschaftsbund UNT. Nach diesen Wahlen wird eine wachsende Anzahl von Basismitgliedern und Funktionären der Bolivarischen Bewegung anfangen, sich selbst viele Fragen zu stellen. Sie werden sich mehr und mehr denselben marxistischen Schlussfolgerungen annähern. Es ist die Pflicht der Marxisten, dieser Stimmung einen organisierten Ausdruck zu geben.
Eine Sache ist absolut sicher: Die Bolivarische Revolution wird als eine sozialistische Revolution triumphieren oder sie wird überhaupt nicht triumphieren.
Caracas, 28.9.2010