Der Sturm aufs Kapitol am 6. Jänner durch randalierende und bewaffnete Trump-AnhängerInnen läutete das neue Jahr mit einem Knall ein. Dabei handelte es sich weder um einen Putschversuch, noch um einen aufsteigenden Faschismus – in der tiefsten Krise des Kapitalismus ist dies nur eine Seite der wachsenden Polarisierung. Wir halten die sozialistische Perspektive hoch.
Noch nie in der Geschichte – nicht einmal im Bürgerkrieg – wurde das Kongressgebäude von Protestierenden gestürmt, noch dazu angestachelt vom amtierenden Präsidenten. Donald Trump hatte seine Basis mobilisiert, um in einem letzten, verzweifelten Versuch, die Angelobung Bidens zu verhindern. Die Demonstration mit mehreren Tausend TeilnehmerInnen lief schließlich aus dem Ruder, als Teile davon ins Kapitol eindrangen. Im krassen Gegensatz zur militarisierten Polizeipräsenz während der Black-Lives-Matter-Bewegung zeigte sich die Polizei hier entweder völlig unvorbereitet oder stellte sich gar offen auf die Seite der Randalierer, denen es leicht möglich war, die wackligen Absperrungen zu überwinden. Erst Stunden später wurde das Kongressgebäude von der Nationalgarde geräumt.
Ein Putschversuch?
Nicht wenige sprechen nun von einem Putschversuch. Immerhin stellte es den Versuch eines abgewählten Präsidenten dar, im Amt zu bleiben, und dies mithilfe von bewaffneten Anhängern (mehrere Bomben mussten nach den Protesten entschärft werden). Doch es braucht einen Sinn für Proportionen. Für die Durchführung eines Putsches und die Errichtung einer Diktatur bräuchten Trump und seine Anhänger die Unterstützung von bedeutenden Teilen des Militärs. Die hat er aber nicht. Nur drei Tage vor dem Sturm aufs Kapitol veröffentlichten alle zehn noch lebenden Ex-Verteidigungsminister der USA in der Washington Post, dass sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen anerkennen und davor warnen, dass eine militärische Einmischung hier in ein „gefährliches, ungesetzliches und verfassungswidriges Territorium“ führen würde. Das Militär wäre eher bereit, Trump zu entfernen, als ihn an die Macht zu hieven!
Zudem sind die rechten und rechtsextremen Trump-AnhängerInnen wie die „Proud Boys“ oder die Q-Anon-Verschwörungstheoretiker zahlenmäßig viel zu klein und nicht Teil des Staatsapparates (wenn auch einige von ihnen bei Militär oder Polizei sein mögen). Die Arbeiterklasse könnte diese Elemente mit organisierten Aktionen im Handumdrehen beiseite fegen.
Oder gar Faschismus?
Hierin liegt gleichzeitig auch die Antwort auf die Frage, ob in den USA eine faschistische Massenbewegung droht. Der Faschismus zeichnet sich dadurch aus, dass er eine aktive Massenbasis hat, die die organisierte Arbeiterbewegung komplett vernichtet. Daher entstand historisch gesehen Faschismus immer nach tiefsitzenden und schweren Niederlagen der Arbeiterklasse, etwa in gescheiterten Revolutionen. Doch davon kann in den USA keine Rede sein. Die massiven und weitreichenden Black-Lives-Matter-Proteste waren in Wahrheit erst ein Vorgeschmack dessen, was die Arbeiterklasse – die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft – mobilisieren kann. Geschätzte 10% der US-Bevölkerung beteiligten sich an dieser Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt. Sie sind ein Zeichen dafür, dass die Arbeiterklasse in den USA quicklebendig und erst am Anfang ihrer Aktivität steht.
Das heißt nicht, dass der reaktionäre Mob, der sich um Trump schart, nicht in einzelnen Fällen schwere Schäden anrichten und Leben vernichten kann. Und es stimmt: Wenn die Arbeiterklasse in den nächsten Jahrzehnten die Macht nicht ergreift und eine erfolgreiche, sozialistische Revolution durchführt, kann dieser rechte Mob zu einer realen, tödlichen Gefahr im großen Maßstab heranwachsen. Doch zum jetzigen Zeitpunkt würde die „Peitsche der Konterrevolution“ vielmehr die Instabilität der Gesellschaft vertiefen und eine massive Gegenreaktion der ArbeiterInnen und linken Jugend hervorrufen.
Polarisierung
Der wahre Charakter des Trump-Phänomens liegt in der tiefen Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft begründet – und diese Wiederum ist Resultat der existenziellen Krise des Kapitalismus.
Die Corona-Pandemie und Wirtschaftskrise haben in der US-Bevölkerung eine Verelendung historischen Ausmaßes hervorgerufen. Immer mehr Menschen sind von Armut, Mangelernährung und Obdachlosigkeit bedroht. Dem stehen unvorstellbare Profite einer kleinen Minderheit gegenüber. Die immer absurdere Ungleichverteilung erzeugt eine explosive Stimmung in der Gesellschaft.
Trump nützt die Polarisierung zu seinen Gunsten aus. So hatte er sich in der Frage der finanziellen Unterstützung (in Form von sogenannten „stimulus checks“) als Anwalt des kleinen Mannes dargestellt, indem er die 600 Dollar, die die Menschen bekommen, als „lächerlich“ niedrig bezeichnet und eine Erhöhung auf 2000 Dollar fordete. Gleichzeitig bewies der Kapitalist und Milliardär Trump in einem geleakten Telefonat mit dem Staatssekretär von Georgia seine wahre Verachtung für die WählerInnen und die Demokratie. Darin forderte er seinen republikanischen Parteigenossen dazu auf, die 11.780 Stimmen, die für seinen Sieg in dem Bundesstaat notwendig waren, „zu finden“.
Trumps zunehmend egomanische Unberechenbarkeit wurde seit den Wahlen selbst vielen der Republikaner zu heiß. Seit November feuerte er alle Berater, die an seiner „Theorie“ vom Wahlbetrug zweifelten. Der Sturm aufs Kapitol war von ihm zweifellos nicht vorgesehen – doch mit seiner aufwiegelnden Rhetorik spielte er mit dem Feuer. Nun ist er zunehmend in seiner eigenen Partei isoliert und die Republikaner drohen in eine Krise zu stürzen.
Biden ist nicht die Lösung
Wer jedoch glaubt, dass mit der Angelobung Bidens der Weg in die alte „Normalität“ angetreten wird, hat weit gefehlt. Zwar bemüht er sich um ein betont diverses Kabinett und kündigte für seine erste Amtswoche eine Reihe von populären Entscheidungen an, wie den Wiedereintritt in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation, eine Verlängerung der Delogierungs-Stopps sowie der Rückzahlungen von Studierenden-Schulden während der Corona-Krise und ein Ende der Einreisebeschränkungen für Menschen aus „muslimischen“ Ländern.
Doch es wird sich schon bald mit aller Deutlichkeit zeigen, dass er als treuer Vertreter der Wall Street angesichts der Wirtschaftskrise eine Seite wählen muss: die der Arbeiterklasse, oder die der Kapitalisten. Und wir wissen jetzt schon, welche es sein wird. Es wird zu harten Angriffen auf den Lebensstandard der Massen kommen. Und da die Demokraten beide Kammern des Kongresses und den Präsidenten stellen, haben sie keine Ausflüchte, wenn sie diese Maßnahmen unterstützen.
Eine Veränderung im Sinne der Arbeiterklasse kann nur von der Arbeiterklasse selbst erkämpft werden. Dazu ist es nötig, die Arbeiterbewegung für ein radikales Programm zu mobilisieren: Für einen Mindestlohn von 1000$ in der Woche, für ein Ende aller Delogierungen, für einen Mietendeckel von 10% des Einkommens. Angesichts der Tiefe der Krise würden diese Forderungen Millionen von Menschen mobilisieren. Eine Massenbewegung, die für diese Ziele kämpft, würde die reaktionäre Polarisierung der Gesellschaft durchbrechen und die arbeitenden Menschen auf einer Klassenbasis zusammenschließen.
Die spontanen Aufstände unter dem Slogan „Black Lives Matter“ und die Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahlen markieren eine Zäsur in der Gesamtsituation. Wir sehen schon Keime der revolutionären Entwicklungen, die die Zukunft für uns bereithält. Hunderte wilder Streiks beweisen, dass Millionen von Menschen begonnen haben, in den Klassenkampf einzugreifen.
In den USA erleben wir den Todeskampf der bürgerlichen Demokratie. Die US-Sektion der IMT argumentiert in diesem Prozess, dass die Arbeiterklasse eine eigene, unabhängige Organisation braucht. Um die Schrecken des Kapitalismus zu beenden und eine Arbeiterregierung aufzubauen, braucht die Arbeiterklasse eine eigene Partei. Es muss eine Organisation aufgebaut werden, die es der Arbeiterklasse ermöglicht, anstelle des sterbenden Kapitalismus eine sozialistische Welt mit materieller Sicherheit für alle Menschen zu errichten. Der Prozess der Revolution verändert schon jetzt das Bewusstsein von Millionen in diese Richtung.
(Funke Nr. 190/20.1.2021)