Vor 70 Jahren am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Zweite Republik gegründet. Ein Gespräch mit Franz Rauscher über die vergessenen Anfänge der Verstaatlichung in Österreich nach 1945.
Franz Rauscher (Jahrgang 1900) stieß mit 17 zur Gewerkschaftsbewegung und zur Sozialdemokratie. Er arbeitete bei der Eisenbahn und war dort gewerkschaftlicher Vertrauensmann. Er gehörte zum ersten Jahrgang der Arbeiterhochschule, dessen TeilnehmerInnen eine wichtige Rolle bei der Organisierung des Widerstands gegen den Austrofaschismus und bei der Gründung der Revolutionären Sozialisten (RS) nach dem Februar 1934 spielten. Rauscher war bis zu seiner Verhaftung auch Mitglied des Zentralkomitees der RS. Unter den Nazis war er in mehreren Konzentrationslagern, u.a. in Buchenwald. Nach der Befreiung 1945 wurde er Staatssekretär im Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung und war maßgeblich verantwortlich für die Verstaatlichungen in den Nachkriegsjahren.
Genosse Rauscher, du bist an der Wiege der Verstaatlichung in Österreich gestanden. Wie hat sich das zugetragen?
Da muss man auf die Zeit des Ersten Wetkriegs zurückgreifen. Otto Bauer unterhielt nach dem Ersten Weltkrieg einen kleinen Zirkel, dem auch wir als Arbeiterstudenten angehörten. Dort diskutierten wir eingehend Otto Bauers Broschüre „Der Weg zum Sozialismus“. Er erzählte uns, dass die christlich-soziale Partei 1918 mit der Sozialisierung einverstanden war. Nach den Wahlen von 1919, bei denen die Christlich-Sozialen die Mehrheit erhielten, hatten sie aber kein Interesse mehr daran, die Sozialisierungsgesetze zu verwirklichen. Dies war einer der Gründe, warum wir nach dem Zweiten Weltkrieg etwas vorsichtiger waren.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde eigentlich nur das Betriebsrätegesetz wirklich durchgeführt. Die anderen Sozialisierungsgesetze wurden von den Christlich-Sozialen „vergessen“, blieben aber in uns. Und als wir nach 1938 in den Konzentrationslagern saßen, nahmen sich etliche von uns fest vor, dass dieses „Vergessen“ der Gegner nicht mehr stattfinden darf.
Nach unserer Befreiung haben wir überall in den Bundesländern und bei jeder Gelegenheit darauf Bedacht genommen, dass angesichts der wirtschaftlichen Lage auch die Gegner der Verstaatlichung zustimmen müssen. Auf ihrer Seite war Leopold Figl (der spätere Bundeskanzler, Anm.) unser maßgeblichster Verhandlungspartner. Mit ihm konnten wir vereinbaren, dass – und das ist nun das Entscheidende – unabhängig vom Ausgang der Nationalratswahlen im November 1945 die Verstaatlichung durchgeführt werden würde. Nur dieser Zusicherung haben wir es zu verdanken, dass nach den Wahlen nichts wieder „vergessen“ oder abgeschwächt wurde.
Im Jänner 1946 brachten wir dann einen Gesetzesentwurf über die Verstaatlichung der Grundstoffindustrie ein. Auch die ÖVP brachte einen eigenen Entwurf über Sozialisierung bei. Der Grundgedanke war die Beteiligung der Belegschaft am Betrieb, ansonsten war der Entwurf äußerst unklar. Wir haben sofort erkannte, dass sich dahinter Reprivatisierungsabsichten ankündigten. Angesichts unserer Einwendungen änderten sie den Titel ihres Vorschlags auf „Werksgenossenschafts-Gesetz“. Ich habe dann unsere Zustimmung zu diesem Gesetz für den Fall angekündigt, dass die ÖVP ihrerseits mit der Verstaatlichung der größten Banken einverstanden ist. Darauf gingen sie ein, was sie ursprünglich ja gar nicht wollten. Das fiel ihnen vielleicht etwas leichter, weil die Besitzverhältnisse an diesen Banken ohnedies ungeklärt waren.
Ich hab damals den ÖVP-Mitgliedern des Unterausschusses ziemlich unverblümt erklärt, dass wir diesem Werksgenossenschafts-Gesetz zustimmen, weil wir der Meinung sind, dass es ohnedies nicht verwirklichbar ist. Und in der Tat ist nach der Gesetzwerdung lediglich ein einziges Mal von der Volkspartei der Versuch unternommen worden, eine Werksgenossenschaft, in Liezen in der Steiermark, zu errichten.
Damals war ich Staatssekretär im Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung. Als ich durch Minister Krauland von diesen Absichten erfuhr, war ich noch vor ihm im betreffenden Betrieb und nahm mit der Arbeiterschaft Kontakt auf. Ich hielt ihr die Gefährlichkeit des ÖVP-Vorschlags vor allem für den Fall wirtschaftlicher Rückschläge vor Augen und konnte erreichen, dass nur 28 Prozent der Belegschaft für den Vorschlag stimmten.
Nach langen, hart geführten Verhandlungen zwischen Vertretern des Bundes und der Länder und ihrer Elektrizitätsfachleute konnte eine Einigung über einen Gesetzesentwurf zur Verstaatlichung der österreichischen Elektrizitätswirtschaft fertiggestellt werden. Im Jahre 1947 haben wir dieses Gesetz, ebenfalls einstimmig, beschlossen. Es regelte Aufgaben der Verbundgesellschaft, der Sondergesellschaften und Landesgesellschaften und ihre Zusammenarbeit untereinander.
Welche Rolle spielte das sogenannte Ländersekretariat der SPÖ, das ja von Dir ins Leben gerufen und geleitet wurde?
Das hängt noch mit meiner Tätigkeit bei den Revolutionären Sozialisten nach 1934 zusammen, wo ich gleichfalls Länderreferent war. Als Eisenbahner konnte ich ungehindert die Verkehrsverbindungen in ganz Österreich nutzen und so revolutionäre Kontakte herstellen und unterhalten. Soweit die Genossen noch lebten, konnte ich diese Kontakte im Jahre 1945 – nach meiner Flucht aus dem Konzentrationslager Stadtroda – wieder aufnehmen und über die Demarkationslinien hinweg ein Verbindungsnetz schaffen. In Salzburg, wo ich die Organisation neu gründete, hatten wir sogar schon einen Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner eine Vertrauenspersonenkonferenz. In dieser Zeit waren die Frauen der Eisenbahner sehr verlässliche und tüchtige Hilfen, wie sie das auch schon nach den Ereignissen vom Februar 1934 waren. Sie gehörten zu den Pionieren des Wiederaufbaus.
Bestand die Verstaatlichungsabsicht nur bei den Spitzenfunktionären der SPÖ oder gab es auch kräftige Vorgänge in der Mitgliedschaft?
Die Spitzenfunktionäre waren alle einer Meinung. Es setzten sich vor allem die Gewerkschafter und die Beschäftigten in den Betrieben sehr massiv dafür ein. Wir konnten aber nicht alle geforderten Betriebe verstaatlichen. So wollten wir mit Absicht einen Teil der Gebrauchsartikelindustrie, wie Textil und ähnliches, nicht verstaatlichen. Auch in der Nahrungsmittelindustrie, wo wir zum Teil verstaatlichen wollten, gelang uns das nicht. Andererseits wollte uns der ÖVP-Vertreter Margaretha zwei nurmehr kurzlebige Kohlenzechen zur Verstaatlichung „andrehen“, um eine höhere Entschädigungsleistung für die privaten Eigentümer zu erwirken. Der später Finanzminister Margaretha war der Wortführer der Verstaatlichungsgegner. Alles was Gemeinwirtschaft war, war für die ÖVP eine Brandfackel.
Hatte die Forderung nach Verstaatlichung damals in der arbeitenden Bevölkerung eine sehr breite Verankerung?
Zweifellos. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit und die Erfahrungen unter dem Faschismus waren starke Triebkräfte für die Verstaatlichungsforderungen in der Arbeiterschaft.
Wieweit ist die Arbeiterschaft in den verstaatlichten Betrieben bei Wiederaufbau selbsttätig vorgegangen, ohne auf Weisungen von oben zu warten?
Unsere Vorstellungen wurden weit übertroffen. Ich erinnere mich beispielsweise an die früheren Stickstoffwerke, die spätere Chemie Linz, und an das Aluminiumwerk in Ranshofen, wo von der Belegschaft große Plakate angebracht wurden, auf denen zu lesen war: „Wir sind ein Betrieb der Gemeinschaft. Wir stehen im Dienste des ganzen Volkes.“ Und damit wurde die sorgfältige Materialverwendung zugunsten eines raschen Wiederaufbaus appelliert. Die Arbeiterschaft in den Betrieben kannte die Probleme sehr genau und trat vielfach mit eigenständigen und praktikablen Lösungsvorschlägen hervor. Es gab auch gar nicht wenige unbezahlte Überstunden, Sonderschichten und andere freiwillige Einsätze zugunsten des Wiederaufbaus eines vom Faschismus befreiten Österreich.
Haben die Belegschaften auf die Direktorenbestellung Einfluss zu nehmen versucht?
Da waren die alliierten Besatzungsmächte das Hindernis. So wurde in der Alpine jemand Generaldirektor, der schon in der Heimwehrbewegung tätig war, nur weil er von der britischen Besatzungsmacht gegen den Protest der Belegschaft geschützt wurde.
Wie haben sich die Belegschaften verhalten, wo nicht verstaatlicht werden konnte?
Dort haben ihre Betriebsräte bei der Bestellung sogenannter öffentlicher Verwalter maßgeblichen Einfluss gehabt. Wir sind immer im Einvernehmen mit ihnen vorgegangen. Ansonsten gab es große Schwierigkeiten durch die ungeklärten oder ausländischen Besitzverhältnisse, die eine Verstaatlichung nicht immer zuließen. Die damalige Finanzberaterin der amerikanischen Besatzungsmacht in Wien sagte damals, dass es das souveräne Recht Österreichs sei, zu verstaatlichen. Nur die Entschädigungsfrage müsse geklärt werden. Dieser Standpunkt hat uns sehr geholfen. Ansonsten waren wir der Meinung, dass uns die Sowjetunion bei der Verstaatlichung unterstützen würde, weil das ja in ihrer Ideologie lag. Es war aber umgekehrt. Wir haben uns zwar in unseren Forderungen etwas beschränkt, sind aber damals von der demokratischen amerikanischen Regierung unterstützt worden. Angesichts unserer Stärke hätte eine alliierte Intervention gegen unsere Verstaatlichungspläne keinen Erfolg gehabt. Man darf ja auch nicht den alten Hass der Arbeiterschaft gegen die früheren Besitzer der Betriebe vergessen, die die Heimwehr und dann später die Nazis unterstützt haben. Die Arbeiterschaft wollte nicht mehr für die Geldgeber ihrer ehemaligen politischen Gegner arbeiten. Sie haben den Staat, in dem nun auch die Arbeiterschaft mitbestimmt, als sicherer empfunden als die großen Spekulanten des Privatkapitals. Es war nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politisch-bewusstseinsmäßiger Reflex auf die Erfahrungen unter dem Faschismus.
Was hat man sich damals unter der Demokratisierung in den verstaatlichten Betrieben vorgestellt?
Von Anfang an war man für die Mitbestimmung der Belegschaft…
…auch bei der Direktorenbestellung?
…, ja, eigentlich auch. Aber auch in allen finanziellen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen. Die Belegschaft wollte einer Unternehmensführung gegenüber nicht mehr blind gehorchen. Die Gewerkschaften waren auch in jedem Betrieb so stark, dass sie entsprechend ihren Zielvorstellungen arbeiten konnten.
Gekürzte Fassung aus Mitbestimmung 2/1981.