2024: Ein Zugunglück aufgrund infrastruktureller Schleißigkeit tötet 57 Menschen in Griechenland und führt zur größten Demonstration der Geschichte des Landes. In Novi Sad, Serbien, bricht das Vordach des Bahnhofs zusammen – eine revolutionäre Bewegung wird entfacht. Ein Jahr später: Inspiriert von einer revolutionären Bewegung in Indonesien entzündet sich die Wut der Massen in Nepal – gegen Korruption, Armut, „Nepo-Babys“ und sie bringen die Regierung zu Fall. Ähnliche Ereignisse wiederholen sich in Madagaskar, Peru, Marokko und anderen Ländern.
Von Yola Kipcak
Zerfallende Infrastruktur, Korruption und Ungleichheit sind keine Nebensächlichkeiten, denn sie sind notwendiger Bestandteil der Systemkrise.
Einige Stimmen wurden im Zuge dieser Massenbewegungen laut und behaupteten, dass diese nicht wirklich revolutionär seien, dass „einfache“ Forderungen und Sorgen wie Korruption und Ungleichheit von niedrigem politischem Bewusstsein zeugten. Das ist eine kolossale Fehleinschätzung. Es ist leicht, im Kapitalismus eine Gleichgültigkeit zu entwickeln. Klar, Freunderlwirtschaft, Ungleichheit, Lügen – das alles gehört zum Alltag, eh klar!
Zynismus und Routine machen einen jedoch blind gegenüber den tiefen Verwerfungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen. Revolutionäre können es sich nicht leisten, abzustumpfen gegenüber dem richtigen und gesunden Instinkt von Millionen von Menschen, die genug haben. Denn in dieser Ablehnung des Status quo steckt gewaltiges, revolutionäres Potenzial. Rosa Luxemburg wusste das genau:
„Der grundlegende Unterschied zwischen uns und dem früheren sentimentalen utopischen Sozialismus beruht gerade darauf, daß wir nicht auf die Gerechtigkeit der herrschenden Klassen, sondern einzig und allein auf die revolutionäre Macht der Arbeitermassen bauen und auf den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, der jener Macht den Boden schafft. So ist die Ungerechtigkeit an sich gewiß kein Argument, um reaktionäre Einrichtungen zu stürzen. Wenn sich jedoch das Empfinden der Ungerechtigkeit weiter Kreise der Gesellschaft bemächtigt – sagt Friedrich Engels, der Mitschöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus –, so ist das immer ein sicheres Zeichen, daß in den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft weitgehende Verschiebungen Platz gegriffen haben, daß bestehende Zustände bereits mit dem Fortschritt der Entwicklung in Widerspruch geraten sind.“ (Frauenwahlrecht & Klassenkampf)
Jede Gesellschaft ist nur lebensfähig, wenn sie die Produktivkräfte entwickelt und damit breiten Schichten der Gesellschaft ein Gefühl von Stabilität und Zukunftsperspektive gibt. Der Kapitalismus kann das nicht mehr. Der heutige Grad an Verwesung des Systems ist historisch einmalig.
90% der Weltbevölkerung leben in Ländern mit hoher Ungleichheit (laut Weltbank-Definition). Das reichste 1% besitzt heute mehr Reichtum als 95% der Menschheit, während fast 60% aller Menschen sich Sorgen über möglichen Jobverlust oder Arbeitslosigkeit machen. Hochrelevant ist, dass auch Arbeiter, die ein stabiles Mittelschichtsleben erwartet haben, nun in wirtschaftliche Nöte geraten.
Die gleißende Wut über die Epstein-Files in den USA zeugt von dieser sozialen Erosion. Diese hochgeheime Liste an Verbündeten Epsteins steht symbolisch für die „feine Gesellschaft“: Erquickliche und exklusive Kindemissbrauchs-Soirees, Vergewaltigungsorgien in der Karibik mit Kriegsverbrechern, Prinzen, Superstars, Regierungspersonal und Betrügern. Das sind die Mächtigen dieser Welt, die sich herausnehmen, Millionen von Menschen auszuplündern und anzulügen.
Das ist die Grundlage, auf der sich die Wut über Ungleichheit durch das Bewusstsein von Millionen Menschen frisst und zu einer revolutionären Kraft wird.
Die Herrschenden sitzen auf einem Vulkan und wissen es.
„Wir leben in beunruhigenden Zeiten.“ – So lautet der erste Satz des UNO-Weltsozialberichtes 2025. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat wenig oder kein Vertrauen in die eigene Regierung. Dementsprechend verzweifelt blicken die Herrschenden auf die Zukunft ihres Systems. Der „Global Risk Report“ 2025, in dessen Rahmen Interviews mit 900 Kapitalismus-Vertretern aus verschiedenen Bereichen geführt werden, titelt weinerlich: „Eine Welt wachsender Spaltungen“. „Der weltweite Ausblick bis 2027 ist von wachsendem Zynismus der Befragten geprägt“ – die Tendenz: „2035: The point of no return.“
Nicht die moralische Empörung wird jedoch das System zu Fall bringen. Dafür braucht es Theorie, Erfahrung und einen Plan – kurzum eine revolutionäre Partei. Und so, wie Luxemburg erklärte, „wollen wir die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer stürzt.“
(Funke Nr. 239)
