Man kann die Macht der Arbeiterklasse vom ersten Moment an förmlich riechen, in dem man die Anlagen von Sanitarios Maracay betritt. Die Fabrik wurde erst vor einigen Tagen von den ArbeiterInnen übernommen, als Reaktion auf die Ankündigung des Unternehmers, er werde die Fabrik schließen. Eine Reportage von William Sanabria (Corriente Marxista Revolucionaria).
Es ist nicht das erste Mal, das der Betrieb von der Belegschaft besetzt wird. Bereits im März dieses Jahres war dies der Fall. Aber heute ist die Situation eine andere: Die Erfahrungen der vergangenen Monate haben die ArbeiterInnen geprägt. Sie gründeten ein Fabrikkomitee und haben während der vergangenen Wochen die GenossInnen der Revolutionär-marxistischen Strömung (CMR) und der „Revolutionären Front der ArbeiterInnen von besetzten Fabriken und Fabriken unter Arbeiterkontrolle“ (FRETECO) dazu eingeladen, politische Bildungskurse über ArbeiterInnenkontrolle abzuhalten. GenossInnen von der besetzten brasilianischen Fabrik Cipla und von der wieder in Gang gesetzten Fabrik Inveval sind ebenfalls gekommen, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Diese Erfahrungen verschmelzen nun mit jenen Erfahrungen, die die Belegschaft von Sanitarios Maracay selber im Kampf gegen ihren Unternehmer während der vergangenen Jahre hat sammeln müssen. Wie es der Generalsekretär der Gewerkschaft Humberto ausdrückte: „Die ArbeiterInnen von Sanitarios haben von den Erfahrungen von Inveval und Invepal gelernt. Sie sind bereit, den Weg der Enteignung zu beschreiten – aber die ArbeiterInnen werden die Kontrolle über die Firma behalten.“
In den vergangenen Tagen versuchte sich die Geschäftsführung auf eine Handvoll von leitendem Verwaltungspersonal zu stützen, um die Besetzung in die Knie zu zwingen. Die ArbeiterInnen versuchen im Gegenzug die Mehrheit des Verwaltungspersonals für ihre Sache zu gewinnen, wie Huberto ausführt: „Sie sind in einem Schockzustand, sie sind seit Jahren daran gewöhnt vom Unternehmer abhängig zu sein und sie brauchen etwas Zeit um zu sehen, dass die ArbeiterInnen in der Praxis eigenständig handeln können – um zu verstehen, dass man ein Unternehmen auch ohne Boss organisieren kann.“
Villegas, der Organisationssekretär der Gewerkschaft richtet sich an die Massenversammlung der ArbeiterInnen mit der Leidenschaft und der Überzeugung eines Revolutionärs, der viele Jahre des Kampfes auf dem Rücken hat. Er weiss, dass dies nun der entscheidende Moment ist: „Eine KollegInnen fragen sich, ob wir unser Handeln illegal sei. Ich frage: Hat der Boss das Abkommen eingehalten, das wir mit ihm nach der vergangenen Besetzung geschlossen haben?“ Alle ArbeiterInnen arbeiten wie aus einem Munde: „Nein!“ – „Hat er die Arbeitskleidung gekauft und die Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt, auf die wir uns geeinigt haben?“ – „Nein!“ schallte es wieder zurück. „Hat er den Kollektivvertrag umgesetzt oder auch nur eine Klausel erfüllt, die er unterschrieben und zugesichert hat?“ – „Nein!“ – „Ist es dann illegal, wenn wir unsere Rechte verteidigen, unsere Arbeitsplätze und die Zukunft unserer Familien verteidigen und unsere Arbeit selbst in die Hand nehmen?“ Und die ArbeiterInnen antworten erneut: „Nein!“
Diese Rede drückt sehr deutlich, was gerade in den Köpfen der ArbeiterInnen vorgeht und wie sie allen Beteiligten neue Hoffnung gibt. Die Zuhörerschaft überschlägt sich fast in ihrem Enthusiasmus, wenn sie ihr „Nein!“ zur Unterstützung der Besetzung ausruft. Villegas besteht darauf, das Verwaltungspersonal auf die Seite des Kampfes zu ziehen, hart zu bleiben und die Mobilisierung der ArbeiterInnen auf ihre Familien, die NachbarInnen und die andere Arbeiter- und sonstigen Kollektiven auszudehnen.
Humberto führt diesen Gedanken weiter aus und besteht darauf, dass diese Mobilisierung gegen den Unternehmer gerichtet ist. Die ArbeiterInnen haben ein Fronttransparent für ihre Demonstration angefertigt, das sich für die „Zehn Millionen Stimmen für Chávez“ ausspricht. „Wir wollen unmissverständlich deutlich machen, dass wir auf der Seite des Präsidenten und der Revolution stehen“ sagen einige ArbeiterInnen. „Es sind gerade die UnternehmerInnen, wie der unsrige, die gegen die wir kämpfen, die die Revolution sabotieren und angreifen.
Humberto geht in einem Teil seiner Rede darauf ein, dass die ArbeiterInnen echte Arbeiterkontrolle fordern. „Die Kollegen von Inveval und Invepal haben einen Rohdiamanten entdeckt, sie haben die Enteignung ihrer Unternehmen erreicht und Präsident Chávez sagte, dass das höchste Entscheidungsgremium jedem wieder in Gang gesetzten Unternehmen die Arbeiterversammlung sein muss. Aber die Bürokraten haben das bis zu Unkenntlichkeit verdreht. Wir müssen diesen Rohdiamanten der cogestión nehmen und schleifen.“ Die ArbeiterInnen nehmen diese Gedanken mit zustimmenden und enthusiastischen Gesichtern auf.
Carlos Rodríguez von der FRETECO und der CMR, die sich beide an dem Kampf der Belegschaft von Anfang an beteiligt haben sagte in seiner Rede: „Die ArbeiterInnen können die Unternehmen führen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nur die Verstaatlichung der Firma unter Arbeiterkontrolle sicherstellen kann, dass die Kontrolle über das Unternehmen in den Händen der Arbeiter verbleibt und dass der Kapitalismus nicht durch die Hintertür wieder hereinschlüpfen kann.“ Diese Worte bekommen großen Beifall.
Der nächste Redner ist Wanderci Bueno von den besetzten Betrieben Brasiliens, der, wie Carlos, den Kampf von Beginn an unterstützt hat und von der Belegschaft schon als einer der ihren gilt. Er bittet um Erlaubnis einen Vorschlag zur Abstimmung durch die Arbeiterversammlung zu bringen. Man erteilt sie ihm einstimmig. Der Vorschlag lautet dahingehend, alle Strömungen der UNT dazu aufzurufen eine Einheitskonferenz im Bundesstaat Aragua abzuhalten. Sie sollen einen Aktionsplan diskutieren, wie man Solidaritätsaktionen organisieren und für die Losung der Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle von Sanitarios Maracay mobilisieren könnte. Der Vorschlag wird begeistert angenommen. Ebenfalls anwesend bei der Versammlung sind die Arbeiterinnen von Franelas Gotcha, die ebenfalls ihre Firma seit Monaten besetzt haben, wie auch Luisana Ramírez, die Sprecherin der entlassenen ArbeiterInnen von Invepal Maracay und eine der führenden GenossInnen der FRETECO. Luisana betont die Notwendigkeit, den Kampf um die Zehn Millionen Stimmen für Chávez zu gewinnen und den Kampf für die Enteignung der KapitalistInnen nach dem Wahlsieg zu intensivieren.
Die Versammlung endet auf beeindruckende Weise – mit der Wahl des Fabrikkomitees. Es ist ein konkretes Beispiel dafür, was Arbeiterdemokratie in der Praxis bedeutet. Die Aufgabe des Komitees ist es, die Produktion unter Arbeiterkontrolle aufrechtzuerhalten. Jedes Mitglied, das von der jeweiligen Abteilung der Fabrik vorgeschlagen wurde, wird einzeln gewählt.
Einige Plätze sind für die Verwaltungsangestellten bestimmt. JedEr KanditatIn steht auf, damit jedEr ihn/sie sehen kann, und dann wird per Handzeichen abgestimmt. Daraufhin wird darüber entschieden, ob das Gewerkschaftskomitees, welches den Kampf bis jetzt geleitet hat, ebenfalls Teil des Fabrikkomitees sein soll. Es handelt sich bei ihnen um lauter erfahrene, von der Kampfpraxis der vergangenen Jahre gestählte FührerInnen: Sie hatten die ArbeiterInnen im Kampf gegen den versuchten Putsch der Konterrevolution geführt; gegen den Versuch der Geschäftsführung eine gelbe Gewerkschaft zu etablieren usw. Sie werden einstimmig ins Fabrikkomitee gewählt. Als letzter Punkt steht der Vorschlag zur Abstimmung, dass die Belegschaftsversammlung fünf weitere ArbeiterInnen wählt. Ihre Namen werden genannt und die Versammlung stimmt über eine nach dem anderen ab.
Das Komitee ist gewählt, der Betrieb hat ein neues Management. Es ist ein Rat von gewählten Delegierten, jederzeit abwählbar durch die Belegschaftsversammlung. Was nun folgt, ist vielleicht der bewegendste Moment der Versammlung – ein deutliches Zeichen für alle ZynikerInnen und SkeptikerInnen, die kein Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse
haben, ein Unternehmen selbst zu organisieren und den revolutionären Prozess bis zur Verstaatlichung weiterzutreiben. Ein Arbeiter nimmt dem Fabrikkomitee den Schwur ab: „Schwört ihr, bei euren Töchtern und Söhnen, bei eurer Familie, alle Entscheidungen der ArbeiterInnen zu respektieren und alles zu geben, wenn nötig auch euer Leben, damit dieser Kampf siegreich sein wird?“ – „Wir schwören!“ rufen alle Mitglieder des Komitees mit erhobener Hand laut aus. Ihre erste Aufgabe wird es am folgenden Morgen sein, die Produktion wieder in Gang zu setzen und eine Demonstration durch die Straßen Maracays hin zum regionalen Staatsrat zu organisieren, um Unterstützung für ihren Kampf einzufordern.
Die Versammlung endet mit einer mit Spannung erwarteten Rede. Alan Woods hatte am Tag zuvor auf einer Demonstration vor Tausenden Bauern und Bäuerinnen gesprochen. Die Nationale Bauernfront Ezquiel Zamora hatte für die Demo zur Unterstützung der Kampagne „Zehn Millionen Stimmen für Chávez“ aufgerufen. Alan Woods hatte in seiner Rede gefordert, dass der Kampf gegen den Großgrundbesitz nicht durch ReformistInnen gehemmt werden dürfe. Auch vor den ArbeiterInnen von Sanitarios Maracay spricht er nun mit jener einfachen, klaren und gleichzeitig sehr tiefgehenden Sprache, die schon am Tag zuvor die bäuerlichen KämpferInnen begeistert hatte.
Er spricht über die selben Dinge, die er auf den verschiedensten Versammlungen und bei mehreren Interviews während seiner laufenden Tour immer wieder zur Sprache gebracht hat. Es ist erstaunlich zu sehen, wie sehr seine Ideen begeistert von der Zuhörerschaft aufgesogen werden. Wie es ein Arbeiter bei einem anderen Treffen ausgedrückt hatte: „Das ist es, was wir alle denken – und er sagt es mit den richtigen Worten.“
Und dennoch: In jenen vier Wänden dieser Industrieanlage sind die ArbeiterInnen gerade im Begriff, Geschichte zu schreiben. Es ist eine der ersten besetzten Fabrik, die sich entschließt, ein für alle Bereich des Unternehmens zuständiges Fabrikkomitee zu wählen und die Produktion selbst wieder in Gang zu setzen. Hier bekommen diese richtigen, klaren Worte eine tiefere Bedeutung. Sie werden lebendig. Sie sind nicht länger bloß gute Ideen, sondern Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, die man erleben kann, wenn man in die Gesichter der ArbeiterInnen blickt, die Alan Woods Rede mit äußerster Aufmerksamkeit folgen.
„Die Revolution hat einen kritischen Punkt erreicht. Präsident Chávez muss mit dem größten Vorsprung wiedergewählt werden, die Konterrevolution muss geschlagen werden. Aber ein Mensch allein kann keine Revolution machen. Ich betrachte Präsident Chávez als einen persönlichen Freund, als einen ehrlichen Mann. Aber ein wahrer Freund ist jemand, der dir sagt, was er wirklich denkt und dir nicht immer nur auf die Schultern klopft. Wenn die Revolution nicht zur Enteignung des Bankensystems, des Grund und Bodens und des Großunternehmertums fortschreitet, wenn sie nicht den alten Staatsapparat zerstört und ihn durch einen neuen revolutionären Staat ersetzt, einen Arbeiterstaat, der auf der Wahl und dem Recht auf Abwahl aller öffentlich Bediensteten durch Massenversammlungen von ArbeiterInnen und den restlichen ausgebeuteten Schichten der Gesellschaft fusst, dann wird sich das Kräfteverhältnis gegen sie wenden. Die ganze Geschichte zeigt, dass es unmöglich ist, eine Revolution durchzuführen ohne das Privateigentum anzutasten – ohne all das anzugreifen, was die herrschende Klasse hervorgebracht hat: die Institutionen, die Gesetze, den Staatsapparat. Ich respektiere sehr wohl das Privateigentum von 98% der Bevölkerung – das Privateigentum der ArbeiterInnen, der Bauernschaft, selbst der Mittelklassen. Wir wollen niemandem sein/ihr Auto oder sein/ihr kleines Geschäft wegnehmen. Aber mit dem Eigentum der Oligarchie ist es etwas Anderes. Es ist notwendig es zu enteignen. Ansonsten wird es unmöglich sein, die Wirtschaft zu planen und die Probleme der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot usw. anzugehen. Man kann keine halbe Revolution machen. Und bis jetzt ist die Revolution noch auf halbem Wege stehen geblieben. Drei Viertel des Landes ist noch immer in privaten Händen; 166 Bauern und Bäuerinnen, die dagegen gekämpft hatten, sind getötet worden. Die Schuldigen wurden nicht vor Gericht gestellt. Wenn die Arbeiterschaft Reden über die Revolution hören und in ihren Unternehmen jeden Tag sehen, dass die gleichen ChefInnen und UnternehmerInnen am Ruder sitzen – UnternehmerInnen wie der eurige, die die Firma schließen wollen – wenn sie die gleichen LandbesitzerInnen sehen, die gleichen BürokratInnen… dann werden sie das Vertrauen in die Revolution verlieren. Und dies ist die Hauptgefahr für jede Revolution. Präsident Chávez hat es kürzlich gesagt: Der/die HaupfeindIn ist der/die FeindIn im eigenen Lager. Es ist einerseits die alte Bürokratie der Vierten Republik, aber auch die neue Bürokratie, die sich zwar bolivarisch nennt und sich in rot kleidet, tatsächlich aber konterrevolutionär ist. Entweder sie gewinnen oder wir. Es gibt keine Alternative.“
Die gleichen Ideen waren schon von so vielen anderen ZuhörerInnen in den vorangegangenen Tagen vernommen worden; doch nirgends waren sie mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt worden. Anstatt aus dem Munde einer anderen Person zu kommen, schienen sie dem Bewusstsein jedes und jeder einzelnen der Anwesenden zu entspringen. „Die treibende Kraft der Revolution kann nur die Arbeiterklasse sein. Wer rettete die Situation nach dem Putsch im April 2002?“, fragt Alan Woods die ZuhörerInnen. „Das Volk!“ schallt es zurück. „Wer rettete die Situation während der Unternehmeraussperrung?“ – „Das Volk! Die Arbeiterschaft!“. „Und während der Zeit des Referendums?“ – „Wir!“
Es waren die selben Antworten, die Alan Woods auch bei anderen Versammlungen bekommen hatte. Aber die besondere Entschlossenheit dieser Versammlung hatte ihren Grund in der Tatsache, dass diese ArbeiterInnen wissen, dass sie erneut auf den Plan der Geschichte treten – nicht nur um ihre Arbeitsplätze zu verteidigen, sondern die Revolution als Ganzes.
Die ArbeiterInnen verstehen nur zu gut, was Alan sagen will. Sie beenden das Treffen mit stehenden Ovationen. In kleineren Kreisen gehen aber die Diskussionen weiter: Mehrere FührerInnen des Kampfes erzählen Alan die Einzelheiten ihrer Situation, Termine werden vereinbart, um zur Gewerkschaft bezüglich der Demonstration zu gehen, Transparente müssen angefertigt werden, die erste Sitzung des Fabrikkomitees wird anberaumt usw.
Wie bei Venepal vor zwei Jahren handelt es sich beim Kampf von Sanitarios Maracay nicht bloß um einen Kampf zur Verteidigung von 800 Arbeitsplätzen. Es ist ein Kampf, an dem sich andere ArbeiterInnen ein Beispiel nehmen können, ein Anstoß für die gesamte Arbeiterklasse, den Weg Richtung Enteignungen auf einer höheren Ebene zu beschreiten. Es ist der Kampf, um die Revolution vor der Sabotage der UnternehmerInnen und der Bürokratie zu retten.
Wie Alan am Ende seiner Rede sagte: „Die Banken, das Land und die großen Unternehmen müssen Eigentum des Staats werden – aber der Staat muss in der Hand der Arbeiterklasse sein.“ Dieser Gedanke erfüllt jene BürokratInnen und kleinbürgerlichen Intellektuellen, die die Stimmung der Revolution zu beruhigen versuchen, mit Ratlosigkeit und Angst. Für die Ohren der ArbeiterInnen, der Bauern und Bäuerinnen und der Hunderttausenden von bolivarischen AktivistInnen klingen diese Vorschläge jedoch nachvollziehbar und selbstverständlich – selbst wenn sie heute diese Ideen zum ersten Mal vernommen haben. Denn es ist jenes Programm, das der momentanen Situation am meisten entspricht. Nur so kann der Sieg der Revolution sichergestellt werden.
24. November 2006