Haftbefehl und die Mental Health Krise


Ende Oktober hat die Dokumentation über den Rapper Haftbefehl große Wellen geschlagen, insbesondere in der Jugend. Um die Doku zusammenzufassen, reicht es in Wahrheit, Haftbefehl selbst sprechen zu lassen: „Die Straße mein Lehrer, die Schule für ’n Arsch. Dass Papa ging, war sehr hart, ich verfluche diesen Tag. Meine Jugend zerbrach wie ein Glas, ich war damals vierzehn Jahre alt. Die Straße nahm mich in den Arm und ließ nie wieder los. Warum bin ich nur geboren? Sag mal, yallah.“ (1999 Pt. III)
von Moritz Hübler
Die Doku vermittelt eindrücklich, wie Haftbefehl eine Suchtkrankheit entwickelt und sich mehrfach versucht umzubringen, nachdem sein Vater sich suizidiert hatte, der schwer spielsüchtig war und „dem damals keiner half“ (Mann im Spiegel). Daraus könnte man viel Psychologisches über transgenerationale Traumata, Migrationsgeschichte usw. ableiten, aber was die Doku als individuelles Schicksal darstellt, ist verallgemeinerbar: Die Mental Health Crisis ist ein Symptom des sterbenden Kapitalismus. Sei es in Deutschland mit Hartz 4 Anfang der 2000er Jahre oder in Griechenland in den 2010er Jahren, wo mit den Einsparungen der Troika die Selbstmordrate schlagartig um 40% stieg.
Psychische Krankheiten nehmen weltweit zu und gleichzeitig wird der Gesundheits- und Sozialbereich von den Bürgerlichen angegriffen und zusammengespart. Schon 2023 gab es in Wien eine spontane Initiative von Schülern nach dem Suizidversuch einer Mitschülerin, welche davor zweimal von psychiatrischen Einrichtungen abgelehnt wurde. Wer in dem Bereich arbeitet, weiß, dass solche Fälle nicht wegen unengagierter Kolleginnen, fehlendem Wissen oder Aufklärung entstehen, sondern wegen Personal- und Bettenmangel, also der strengen Rationierung von Ressourcen. Die Stadt Wien spart beispielsweise gerade massiv bei der Suchthilfe ein, dort soll die Arbeitsmarktintegration praktisch vollständig gestrichen werden: die bewährte und oft einzige Strategie für Betroffene aus der Sucht auszusteigen. Eine Kundgebung am 13. November versammelte mehrere hundert Kolleginnen und Kollegen, eine Petition gegen die Einsparung erreichte innerhalb einer Woche 20.000 Unterschriften. Wir sehen hier den Auftakt zu großen Einsparungen im Gesundheits- und Sozialbereich, die wir nur mit Massenaktionen und Streiks abwehren können.
Es ist also offensichtlich, dass das Thema Mental Health unter Jugendlichen ein großes Echo findet. Dass die Jugend im late-stage capitalism (oder wie Lenin sagen würde: Imperialismus) massenweise depressiv wird, zeugt in Wahrheit davon, dass ihre Wahrnehmungsverarbeitung einwandfrei funktioniert: Wer soll in dieser Welt von Klimakrise, Aufrüstung und Genozid denn nicht verzweifeln? Aber allein fühlt man sich machtlos und der Frust kehrt sich nach innen, auf einen selbst. Unsere Aufgabe als Kommunisten ist es, diesen berechtigten Frust nach außen zu richten, dort, wo er hingehört: auf die Banken und Bonzen, auf das kapitalistische System, das uns immer weniger zu bieten hat. Diese Perspektive fehlt in der Doku, genauso wie Haftbefehls pro Palästina Position, für die er immer angegriffen wurde.
Schüler in Offenbach haben nun vorgeschlagen, Haftbefehl in den Lehrplan aufzunehmen, was das Kultusministerium sofort ablehnte. Wir finden, es braucht Räume an Schulen, um über Kapitalismus, Palästina und Mental Health zu diskutieren. Die Regierung der Reichen wird sie uns nicht geben, wir müssen sie uns nehmen und uns organisieren, damit wir gemeinsam kämpfen können, gegen dieses System, das uns krank macht.
(Funke Nr. 239)