Ein Kommentar zur jüngsten Zuspitzung der Euro-Krise.
Der Tag, an dem auch dem Autor dieser Zeilen der volle Ernst der Sache bewusst wurde, war der 6.11.2011. Als ich nach einem Flug aus London vom Flughafen Schwechat in die Wiener Stadt zurückkehrte und mit meinem Vater die Ereignisse der vergangenen Woche besprach, überfiel mich ein Gefühl: Du hast bisher nur die Hälfte verstanden. Und das obwohl ich unendlich viel Zeit beruflich und politisch mit dem drohenden Zusammenbrechen der Eurozone, des Bankensystems und der daraus folgenden gesellschaftlichen Erschütterungen verbracht hatte. Die simple Wahrheit, die mein Vater – nichtsahnend, für ihn war das kein fremder Gedanke – als Nebenbemerkung anbrachte, war die Tatsache, dass a) „den Griechen“ heutzutage das Geld fehle um sich dringend benötigte Medikamente zu kaufen und b) (hier war die Verbitterung meines Vaters dann schon stark zu spüren) es das erste Mal seit 50 Jahren sei, dass „westeuropäische“ (so drückte er sich halt aus, um den Teil Europas zu beschreiben, der früher nicht unter stalinistischer Herrschaft war) Kinder mit Hunger zur Schule gehen mussten. Tatsächlich ist mein Vater nicht gerade jemand, der gerne übertreibt und sich die Welt schlechter redet, als sie ist. Ich hingegen konnte es nicht glauben, und musste nachfragen: IN GRIECHENLAND HUNGERN KINDER? Seine simple Antwort war: Ja, das haben die deutschen Nachrichten auf ARD und ZDF gesendet.
Ich hatte die letzten Tage im europäischen Finanzzentrum verbracht und mich mit Fragen ganz anderer Art herumgeschlagen, die auch nicht ganz unwesentlich sind. Aber im Vergleich zu hungernden Kindern sind diese natürlich vernachlässigbar. Die tatsächliche Gravitität der Situation war an mir und meinesgleichen vorübergegangen. Wohl hatten wir in den letzten Monaten die Wahrscheinlichkeit eines Aufbrechens der Eurozone, die damit verbundenen Kosten und die verschiedenen Interessenslagen in Dur und Moll diskutiert und dabei auch einige nicht so schlechte Artikel produziert (siehe z.B. Es schlägt die Stunde der letzten Instanz), die die Dynamik der Situation viel besser vorauszeichneten, als dies unsere Gegenspieler in den Redaktionen der „Presse“, des „Standards“ und vieler anderer Medien, vielleicht mit Ausnahme des „Economist“, vermochten. Aber wir blieben relativ stumm, was die alltäglichen Erscheinungsformen der Krise in Griechenland betraf. Das ist mit ein Grund, warum die Linke auf verlorenem Posten stand, als die Frage der Solidarität mit Griechenland noch auf der Waagschale stand. Bürgerliche und Medien hetzten gegen die „faulen Griechen“, die Linke hatte dem nur allgemeine – wenn auch richtige! – Erwägungen über die ungleichmäßige Entwicklung des europäischen Kapitalismus entgegenzuhalten. Was ist denn schon ein richtiger Gedanke gegen das unendlich einfachere Gefühl des „Ausgenutztwerdens“? Aber: Was ist „Ausgenutztwerden“ gegen das Wissen, dass Kinder in Griechenland hungrig zur Schule gehen? Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde. Wortwörtlich. Griechischer Wein, komm schenk dir ein.
Also, wir werden jetzt ein paar Tatsachen einschenken: Merkel und Sarkozy sind die Agenten der Blutsauger, der Banken, Versicherungen und Konzerne. Sie – die in Libyen „Demokratie“ herbeigebombt haben – hindern die frei gewählte Regierung Griechenlands daran, eine Volksabstimmung über den vom Ausland diktierten Plan für die Politik des griechischen Staates abzuhalten. Klingelts bei der gelernten Österreicherin? Klingelts bei Max & Moritz? Kennen wir das nicht? Jedes Volksschulkind der 4. Klasse weiß, was eine historische Präzedenz dafür ist: Am 11. März 1938 rang Hitler der (gewiss nicht mit einer demokratischen Legitimation versehenen) austrofaschistischen Regierung Schuschnigg die Absage der Volksabstimmung zur Unabhängigkeit Österreichs ab. Hitler setzte die Ernennung Seyss-Inquarts zum Bundeskanzler durch, Merkel und Sarkozy setzen den ehem. Vize-Chef der EZB Lucas Papademos (der natürlich kein Faschist ist, jede Analogie hat ihre Grenzen) durch. Durchaus nicht unähnlich dabei auch die Beliebtheit der politischen Machthaber im Volk. Papandreou würde (ebenso wie es Schuschnigg ergangen wäre) auf offener Straße erschlagen werden, würden ihn die Arbeiter in die Finger bekommen. Stattdessen müssen sich Parlamentarier (die es in Griechenland im Gegensatz zum austrofaschistischen Österreich ab 1933 noch gibt) ihre Ohrfeigen abholen und einfache Leute auf öffentlichen Plätzen Selbstmord begehen, um gegen die katastrophale Situation zu protestieren. Dass die Selbsmordrate in Griechenland in den letzten Monaten exorbitant gestiegen ist, können die Medien in den wenigen Sekunden zwischen Berichten von EU-Gipfeln und Börsenachrichten übrigens nicht mehr verschweigen.
Wir müssen es wiederholen: Die Feiglinge in den Gewerkschaftszentralen tragen einen Teil der Schuld. Führer der griechischen Gewerkschaften, Sekretäre des TUC, DGB, ÖGB, wie könnt ihr nur? Wie könnt ihr nur zusehen, wie Griechenlands Kinder hungern? Ihr führt Organisation von Millionen von Menschen, denen der Alpdruck der Ereignisse ins Gesicht geschrieben steht. Millionen Menschen, die mitfühlende Wesen sind. Und ihr rührt keinen Finger, um die wildgewordenen Bomber an der Spitze der Europäischen Union in die Schranken zu weisen? Stattdessen sprecht ihr wie Papageien die Lügen von Merkel von Sarkozy nach, von „Hausaufgaben“ (sic!), die Griechenland zu erledigen hätte, damit alles wieder in Ordnung käme. Diese gebildeten Leute sind offenbar der Meinung: „Plenus venter non studet libenter“ (Ein voller Bauch studiert nicht gern). Jetzt verstehen wir: Der Hunger für die Kinder ist Teil des Programms zur Anhebung des Bildungsniveaus!
Das Alte Rom feiert nicht nur im Bereich der Bildungspolitik fröhliche Urständ, sondern auch in der Machtausübung: Videant consules ne quid res publica detrimenti capiat (Die Konsule mögen dafür sorgen, dass der Staat keinen Schaden nimmt). Damit sind neuerdings nicht mehr die Konsule des Alten Roms gemeint (die wenigstens von den Patrizierfamilien gewählt wurden), sondern die Bürokraten des IWF, der EZB und der EU-Kommission gemeint (die von niemandem gewählt werden). Diese Leute fahren bei vollen (steuerfreien) Bezügen nach Griechenland, schneiden die öffentliche Verwaltung zusammen, kürzen die Löhne um 30%, heben das Pensionsalter um 5 Jahre an und erhöhen die Einkommenssteuern auf beinahe das Doppelte, während sie der Kapitalflucht der Superreichen aus dem Land seelenruhig zusehen. Die Zeitung “Times“ titelte in ihrem Londoner Lokalteil mit der Feststellung, dass die Immobilienkäufe „der Griechen“ in der Londoner City und den Wohnnobelvierteln zu einem Preisauftrieb geführt hätten. Die konservative Regierung weigert sich übrigens noch immer, öffentlichen Wohnbau zu finanzieren. Blut ist dicker als Wasser.
Während meines London-Aufenthalts war eines spürbar: Die Nervosität in der City und in Paddington (dem Einfallstor vom Flughafen Heathrow) wächst von einem hohen Niveau aus. Die Tatsache, dass die Führungsspitzen der EU ein Aufbrechen der Eurozone zu einer politischen Waffe gemacht haben, ging über die Erwartungen der medialen Öffentlichkeit (und auch so mancher MarxistInnen) hinaus. Tatsächlich sind die diktatorischen Allüren von Merkel und Sarkozy (samt der andächtigen Zustimmung durch den Rest Europas, also inklusive Faymann und Fekter), ihre Verzweiflungsattacke gegen Papandreou beim G-20 Gipfel mehr Schwäche als Stärke. Sie herrschen bloß noch durch die Verbreitung von Angst, nicht mehr durch (wenigstens passive) Zustimmung.
Die City of London weiß: Merkel und Sarkozy stehen vor einem riesengroßen Problem. Italien steht am Rande des Kollaps der Staatsfinanzen. Hatten sie vor 2 Wochen noch groß getönt, dass der Rettungsschirm so weit ausgedehnt werde, dass Italien und Spanien darunter Platz finden würden, hat sie Berlusconi und der Markt eines besseren belehrt.
Was noch dazu kommt: Der jüngst beschlossene Hebel des EFSF muss erst einmal finanziert werden. War anfangs noch davon die Rede, dass China die Finanzierung der europäischen Staatsfinanzen übernimmt, was zum berühmten zurückhaltenden Lächeln der chinesischen Kapitalisten geführt hat (zwar hängen diese einer anderen Religion als die päpstliche „Banco di Santo Spirito” (Bank des Heiligen Geistes) an, was aber weder die einen noch die anderen davon abhält, kluge wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen). Nachdem aus Asien nichts mehr zu erwarten war, wurden die „Schwellenländer“ um einen Obolus via IWF gebeten. Aus dieser Ecke kam leises Grummeln und die USA zeigten sich auch nicht besonders erbaut. Sendepause, ein Krieg wie gegen Libyen war auf Weltebene dann doch etwas zu groß für die beschränkten Möglichkeiten der EU.
Was blieb? Man muss fast Mitgefühl mit Merkel haben… Von überall wurde geflüstert: „Das Gold, das Gold,…“ – „Welches Gold?“, fragte sich Merkel. Irgendwann wurde der Druck dann zu groß und Frankreich, das mit niedergehenden Banken zu kämpfen hat, stellte die Forderung offen: Das Gold der Deutschen Bundesbank! Wenn das Gold der Deutschen Bundesbank der (sinnlosen, weil nicht durchführbaren) Rettung des kapitalistischen Europas geopfert wird, ist die Europäische Union tatsächlich vereint. Vereint im Niedergang. Wenn das Gold nicht geopfert wird (d.h. sich die Hardliner aus der CSU und FDP durchsetzen), wird die Peripherie Europas den schnellen Weg in den Abgrund gehen. Auf jeden Fall werden noch mehr Kinder hungern.
Eine Durchkreuzung dieser Perspektiven kann nur auf der Linie einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft, d.h. zuvorderst einer Annullierung der Staatsschulden und der Kredite der Häuslbauer und kleinen Unternehmen, liegen. Dafür braucht es eine Enteignung der Eigentümer der Großbanken und der großen Industriekonzerne. Im Interesse der Kinder.