Vor 80 Jahren, im Mai 1943, wurde die Kommunistische Internationale (Dritte Internationale) auf Befehl Stalins aufgelöst. Gegründet 1919, wurde sie zur größten und wichtigsten internationalen Organisation, die die Arbeiterbewegung in ihrer Geschichte hervorgebracht hat und die wie keine andere dem abschließenden Motto des Kommunistischen Manifest in der konkreten Praxis am nächsten kam: Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!
Die Entwicklung der Kommunistischen Internationale zu studieren, kann uns helfen, die Methoden zu erwerben, die es braucht, um die Herausforderungen der Welt von heute meistern zu können. Die brennenden Fragen unserer Zeit, wie der Krieg, die Wirtschaftskrise, die Klimakrise, die Migrationsbewegungen sind allesamt Prozesse, die nur in einem globalen Kontext angegangen werden können. Daraus ergibt sich notwendigerweise, dass die Arbeiterbewegung einen internationalistischen Standpunkt einnehmen muss.
Die Arbeiterbewegung, und speziell ihr marxistischer Flügel, hat sich von ihren frühen Anfängen an durch ihren Internationalismus ausgezeichnet. Dabei stützte sie sich auf das Verständnis, dass der Kapitalismus einen Weltmarkt mit internationalen Produktionsketten und Handelsbeziehungen schafft, wobei dieses System dazu tendiert, sich auf dem gesamten Globus auszuweiten und andere Produktionsmethoden zu verdrängen. Daraus folgt konsequenterweise, dass die Klasse der LohnarbeiterInnen, die im Zuge der kapitalistischen Entwicklung entsteht, selbst zu einer weltweiten Kraft wird und deren Interessen weltweit dieselben sind.
Doch die materielle Wirklichkeit und das politische Bewusstsein sind nicht automatisch deckungsgleich. In ökonomischen Fragen zum Beispiel haben die ArbeiterInnen ein gemeinsames Interesse, sich zusammenzuschließen, um den Unternehmern mittels des gewerkschaftlichen Kampfes höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aufzuzwingen. Das verstehen Millionen ArbeiterInnen, aber das bedeutet nicht, dass der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse eine ausgemachte Sache ist. Das Kapital versucht im Gegenzug ununterbrochen, die ArbeiterInnen gegeneinander auszuspielen, zu spalten und auf diesem Weg deren Organisation zu schwächen.
Auf dieselbe Art und Weise versucht die herrschende Klasse auf einer höheren Ebene die ArbeiterInnen entlang von nationalen, ethnischen oder religiösen Linien zu spalten und gewissen Sektoren der Arbeiterklasse echte oder oft auch nur vermeintliche Privilegien zu gewähren und so gegen andere Gruppen von ArbeiterInnen (MigrantInnen, ArbeiterInnen in anderen Ländern usw.) auszuspielen. Auf der Arbeiterklasse lastet ein großer materieller aber auch ideologischer Druck, der die Herstellung einer wirklichen Einheit erschwert.
Der Internationalismus gründet sich daher auf die realen Bedingungen der Arbeiterklasse, aber er wird nur durch den bewussten Kampf der fortgeschrittensten Schichten der Klasse zu einer materiellen Kraft. So ging der Marxismus stets an diese Frage heran.
Die Erste und die Zweite Internationale
Es ist kein Zufall, dass Marx und Engels sehr viel Energie darauf verwendeten, die Gründung der Ersten Internationale im Jahr 1864 voranzutreiben, und als diese am Ende war, beteiligte sich Friedrich Engels aktiv am Aufbau der Zweiten Internationale, einem Zusammenschluss sozialistischer Massenparteien, 1889.
Die Erste Internationale (Internationale Arbeiter-Assoziation, IAA) war ein erster Versuch, in der Praxis die Einheit des Proletariats länderübergreifend herzustellen. Ihre politische Zusammensetzung war alles andere als homogen. Sie umfasste radikaldemokratische Gruppen genauso wie gewerkschaftliche Organisationen, allen voran die englischen Trade-Unions, die bereits echte Massenorganisationen darstellten, die aber weitgehend reformistische Positionen vertraten. Marx und Engels sahen ihre Aufgabe in der IAA vor allem darin, in der Auseinandersetzung mit reformistischen und anarchistischen Ideen die Konzepte des wissenschaftlichen Sozialismus zu entwickeln.
Im Gegensatz zur IAA war die Zweite Internationale ein Zusammenschluss von sozialdemokratischen Parteien, die in einer wachsenden Zahl von Ländern eine Massenverankerung hatten, was mit einer kraftvollen Entwicklung der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung einherging.
Die Zweite Internationale berief sich offiziell auf die Ideen des Marxismus. Die Aufschwungsphase des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts nährte jedoch die Illusionen in die Möglichkeiten einer sozialen Reformpolitik und eines friedlichen, graduellen Übergangs hin zum Sozialismus in einer nicht näher definierten Zukunft.
Die Zweite Internationale hatte historisch betrachtet nichtsdestotrotz eine fortschrittliche Rolle, weil sie die Organisierung breiter Massen an ArbeiterInnen voranbrachte und wichtige Kämpfe um Forderungen wie den 8-Stunden-Tag führte, die zum Banner der internationalen Arbeiterklasse wurden.
Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale erfolgte mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Mit wenigen Ausnahmen beugten sich die Führungen und die Parlamentsklubs der sozialdemokratischen Parteien im entscheidenden Moment dem Druck der eigenen Bourgeoisie und betrieben eine Politik des Klassenkompromisses. In einem Land nach dem anderen stimmte die Sozialdemokratie für die Kriegskredite und unterstützte die „nationale Einheit“.
Nur wenige verweigerten sich dieser Kapitulation gegenüber dem Chauvinismus und der Kriegsbegeisterung: die russischen Bolschewiki, die Gruppe von Trotzki, die serbischen Sozialisten, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland, James Connolly, Anton Pannekoek und einige andere.
Sie bildeten mitten im Krieg mit den Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916), wo eine kohärent revolutionäre Minderheit die zukünftigen Perspektiven ausarbeitete, das Fundament, auf dem im März 1919 die Dritte Internationale gegründet wurde.
Die russische Revolution
Es mochte anmaßend erscheinen, dass diese sehr kleinen, isolierten Gruppen von einer neuen Internationale sprachen, während die alten Parteien zusammengebrochen waren, die Arbeiter und Bauern in eine Uniform gesteckt wurden und sich gegenseitig auf den Schlachtfeldern massakrierten. Doch ihre Perspektive war korrekt: Im Februar 1917 brach die Kette des imperialistischen Krieges an „seinem schwächsten Glied“ (Lenin), und das war das zaristische Russland. Acht Monate später, im Oktober, eroberte die bolschewistische Partei an der Spitze einer breiten Massenbewegung von Millionen in Sowjets (Räten) organisierten ArbeiterInnen, Bauern und Soldaten die Macht.
Lenin und die Bolschewiki verstanden die Revolution in Russland immer nur als Teil einer internationalen Revolution, die sich auf die wirtschaftlich fortgeschritteneren Länder in Westeuropa und Amerika ausweiten müsse, wo aufgrund einer starken industriellen Basis und der Stärke der Arbeiterklasse die Voraussetzungen für den Aufbau einer sozialistischen Ökonomie bestanden.
Aus Überzeugung, dass dies der einzige Weg zum Sozialismus sein könne, riefen sie zur Gründung der Dritten Internationale auf, die somit als Abspaltung der internationalistischen und revolutionären Strömungen der alten reformistischen Parteien entstand. Dazu stießen einige anarchosyndikalistische Strömungen, die sich unter dem Eindruck der Oktoberrevolution dem Marxismus annäherten.
Die ersten vier Kongresse der Internationale zwischen 1919 und 1922 stellen wirkliche Meilensteine der revolutionären Arbeiterbewegung dar. Auf diesen Kongressen wurden die grundlegenden Probleme des Klassenkampfs diskutiert und behandelt: die Gewerkschaftsfrage, die koloniale Frage, der Kampf der unterdrückten Nationalitäten, der Parlamentarismus, die Grundlagen der Arbeitermacht, die Frage der Frauenbefreiung, der Charakter und die Aufgaben der Kommunistischen Parteien, der Kampf gegen den Reformismus, die Taktik der Einheitsfront… Die Dokumente dieser Kongresse zu studieren zeigt, was MarxistInnen unter der engen Verbindung zwischen Theorie und Praxis verstehen. Die Dringlichkeit der praktischen Aufgaben führte nicht nur nicht dazu, dass Theoriearbeit im Namen der „Aktion“ hintangestellt wurde, sondern im Gegenteil, sie wurde dadurch auf eine neue, höhere Ebene gehoben.
Die Debatten waren frei und demokratisch, in diesen Jahren fehlte jede Spur von „monolithischer Einheit“ und Konformismus, die in späteren Jahren vom Stalinismus durchgesetzt wurden.
Die Kommunistische Internationale war im Gegensatz zur Zweiten Internationale eine wahrhaft weltweite Organisation, die zum ersten Mal auch Vertreter des größten Teils der Menschheit umfasste, die in den kolonialen und halbkolonialen Ländern lebte und von der sozialistischen Bewegung bis dahin weitgehend vernachlässigt wurde. Von China über Indien, von Lateinamerika bis in den Nahen Osten, die Strahlkraft der Oktoberrevolution spiegelte sich in den wachsenden Befreiungsbewegungen und in den beginnenden Klassenkämpfen der ArbeiterInnen und der Bauern dieser Länder wider.
Der Stalinismus
Der Stalinismus, der sich in der Sowjetunion durchsetzte, geriet sehr bald schon, und zwar zwangsläufig, in einen unversöhnlichen Konflikt mit den Gründungsprinzipien der Internationale. Mit der Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ vollzog der Stalinismus einen ersten offenen Bruch mit dem Marxismus. Damals gab man vor, es wäre für Russland möglich, auch unter den Bedingungen internationaler Isolation und ohne die Unterstützung von Revolutionen in den fortgeschritteneren Ländern eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.
Schon 1926 warnte Trotzki, der wichtigste und kohärenteste Widersacher des Stalinismus, dass die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ der patriotischen und nationalistischen Degeneration aller Kommunistischen Parteien und somit dem Untergang der Internationale den Weg ebnen würde.
Es ist hier nicht der Platz, um die die Ereignisse zwischen 1924 und 1943, die zuerst zur Degeneration und dann zur Auflösung der Internationale führten, genauer zu analysieren. Dazu empfehlen wir den von Ted Grant 1943 geschriebenen Text „Aufstieg und Fall der Kommunistischen Internationale“.
Die Chinesische Revolution von 1925-27, der britische Generalstreik 1926, der Kampf gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, die Volksfront und der Bürgerkrieg in Spanien ab 1936 waren die grundlegenden Etappen dieses Prozesses, die allesamt in Niederlagen für die Arbeiterklasse endeten und gleichzeitig das systematische Scheitern der unter Stalin und seinen Anhängern verfolgten Politik der Internationale bedeuteten.
Wenn die ersten vier Kongresse eine Bestätigung der Theorie und der konkreten Politik des revolutionären Marxismus lieferten, so war die Periode ab Mitte der 1920er Jahre hingegen geprägt von dem ideologischen Kampf Trotzkis und der Linken Opposition in Russland und dann auf internationaler Ebene von dem Kampf für die Verteidigung dieses theoretischen Erbes gegen die Verfälschungen des Marxismus unter Stalin. Die Debatten und Polemiken aus dieser Zeit des Niedergangs der Internationale sind genauso, wenn nicht noch wichtiger für all jene, die zu einem wirklichen Verständnis des Marxismus als Werkzeug im Kampf zur Veränderung der Gesellschaft gelangen wollen.
Der letzte Schritt, als die Internationale längst nur noch ein Schattendasein führte, war ihre Auflösung im Namen der Allianz der UdSSR mit dem anglo-amerikanischen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg. Sie erfolgte nicht zufällig im Vorfeld der ersten Konferenz zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill (im November 1943). Stalin begründete diese Entscheidung mit der Notwendigkeit, man müsse der Legende, wonach die Kommunistischen Parteien von Moskau Befehle zur Durchführung der Revolution in ihren Ländern bekämen, den Boden entziehen. Die revolutionäre Perspektive müsse nun gegenüber der „Arbeit der Patrioten aller Länder zur Zusammenführung aller fortschrittlichen Kräfte unabhängig von Parteizugehörigkeit oder religiösem Glauben zu einem einzigen Lager der nationalen Befreiung im Kampf gegen den Faschismus“ zurückgestellt werden. Die Revolution wurde zugunsten der „nationalen Befreiung“ und einer Zusammenarbeit mit der „progressiven“ Bourgeoisie begraben.
Nach der Auflösung der Dritten Internationale gab es natürlich noch Dutzende von Revolutionen, wobei jene in China und in Kuba die bedeutendsten waren. Die Idee einer internationalen Organisation der Arbeiterklasse materialisierte sich aber nachher nie wieder. Die Sozialistische Internationale war längst nur noch ein Anhängsel der Bourgeoisie der imperialistischen Länder des westlichen Blocks. Und die Kommunistischen Parteien und andere Parteien, die im Zuge der kolonialen Revolution entstanden, ordneten sich vollständig der Hegemonie Moskaus unter, was missbräuchlich als „proletarischer Internationalismus“ bezeichnet wurde.
Doch die unheilvolle Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ richtete weiter gewaltigen Schaden an. Getrieben von ihren sehr begrenzten nationalistischen Interessen, gerieten die verschiedenen Bürokratien der „real-sozialistischen“ Länder mehrfach aneinander: Jugoslawien gegen die UdSSR 1948, China gegen die UdSSR Ende der 1950er Jahre, China gegen Vietnam in den 1970ern usw. Und in Westeuropa begannen sich die Kommunistischen Parteien langsam von Moskau abzunabeln, aber nur um im Schoß des nationalbornierten Reformismus zu enden.
Für eine neue Internationale!
Heute durchlebt das kapitalistische System eine zerstörerische Krise nach der nächsten. Die herrschenden Klassen der verschiedenen Länder stehen immer mehr im Konflikt zueinander und kämpfen auf verschiedenen Ebenen um die globale Vormachtstellung: Protektionismus, Sanktionen, Handelblöcke, diplomatische sowie militärische Scharmützel kennzeichnen diese neue Phase der Entwicklung. Der Kapitalismus befindet sich im Niedergang und kann die Gesellschaft nicht nur nicht weiterentwickeln, sondern wirft sie zurück auf eine Stufe zunehmender Barbarei.
Die Arbeiterklasse hat keinerlei Interesse, sich an diesem Konkurrenzkampf freiwillig zu beteiligen, denn sie kann in diesem Kampf um Märkte und Einflusszonen nur verlieren. Es bleibt ihr früher oder später nichts anderes über, als mit den Mitteln des Klassenkampfes ihre Interessen zu verteidigen und sich ab einem gewissen Punkt der einzig möglichen Antwort auf diese Krise des Kapitalismus zu stellen: dem offenen und bewussten Kampf um die Macht zum Sturz dieses Systems, das sich überlebt hat.
Der Aufbau einer neuen Arbeiterinternationale gehört zu den grundlegendsten Aufgaben dieser neuen Epoche, die von gewaltigen Klassenkämpfen geprägt sein wird. Wir können nicht vorhersehen, im Zuge welcher Prozesse diese neue Internationale Form annehmen wird. Wir wissen aber, dass es hier und jetzt die nötige Vorbereitungsarbeit dafür zu leisten gilt, d.h. jene AktivistInnen, die die Notwendigkeit einer Internationale verstehen, zu organisieren und sie in Theorie und Praxis darauf vorzubereiten.
Das ist die Aufgabe, die wir als International Marxist Tendency (IMT) schon heute auf der ganzen Welt verfolgen.
Von Claudio Bellotti von Sinistra Classe Rivoluzione, der italienischen Sektion der IMT.
(Funke Nr. 213/24.4.2023)