Am 9.Oktober 1967 wurde Ernesto „Che“ Guevara von einer Einheit der, von den USA unterstützten, bolivianischen Armee ermordet. 55 Jahre nach seinem Tod ist Che Guevara noch immer einer der beliebtesten Revolutionäre und Vorbild für Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt. Um seiner zu gedenken und – was noch wichtiger ist – um die Relevanz seiner Ideen und Kämpfe für die heutigen Auseinandersetzungen zu verstehen, veröffentlichen wir diesen Artikel von Roberto Sarti, der erstmals zum 40. Todestag von Che Guevara im italienischsprachigen Theoriemagazin der IMT erschienen ist.
Che Guevara war und ist gemeinsam mit Fidel Castro auf der ganzen Welt die Symbolfigur der Kubanischen Revolution. Er steht wie kaum jemand anderer für den internationalen Kampf gegen Unterdrückung. Seine Opferbereitschaft, seine Unerschütterlichkeit und seine intellektuelle Aufrichtigkeit sind für jeden von uns eine Quelle der Inspiration.
Die Anfänge
Ernesto Guevara de la Serna wurde 1928 in Rosario (Argentinien) geboren. In der Hauptstadt Buenos Aires studierte er Medizin. 1951 unternahm er mit seinem Freund Alberto Granado eine Motorradreise durch Lateinamerika. In dieser Zeit begann seine politische Bewusstseinsbildung. Besonders wichtig dabei war sein Aufenthalt in Guatemala, wo er sich 1954 in der Widerstandsbewegung gegen den von den USA unterstützten Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz engagierte. Dieser hatte versucht Agrarreformen zu implementieren, die den Interessen des US-Unternehmens United Fruit Company entgegenstanden.
In Guatemala lernte Che auch seine zukünftige Frau Hilda Gadea kennen, und sie war es, die ihn mit den Ideen des Marxismus vertraut machte. Doch welche Spielart des Marxismus lernte Guevara in seinen Anfängen als Revolutionär kennen? Aufgrund der historischen Umstände nach dem Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg und der Machtübernahme der Kommunistischen Partei in China 1949 hatte der Stalinismus enormen Einfluss. Und diese Perspektive war es auch, die Guevara theoretisch prägte.
Die Ursprünge der Kubanischen Revolution
Trotz alledem waren Castro und Guevara nicht bereit, die Politik der Kommunistischen Parteien in Lateinamerika mitzutragen. Die kriminelle Haltung des Stalinismus, die eigenen nationalen Bourgeoisien zu unterstützen, zeugt von der Degeneration dieser Parteien. Dies galt ganz besonders für die Kommunistische Partei Kubas, die sogar bereit war, in der ersten Regierung von Fulgencio Batista zwei Minister zu stellen. Junge kubanische Revolutionäre gründeten daraufhin eine eigene Organisation namens „Movimiento 26 de Julio“, benannt nach dem Datum des gescheiterten Angriffs auf die Moncada-Kaserne im Jahr 1953. Das politische Programm der Bewegung zielte darauf ab, mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes einen Massenaufstand gegen die Diktatur auszulösen. Als dieser Plan fehlschlug, ging die Gruppe zu einer Strategie des Guerillakriegs über.
Das Ziel der Guerilleros war zu Beginn nicht die sozialistische Revolution, sondern die Durchsetzung einiger radikaler Reformen, um im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse die nationale Unabhängigkeit zu erlangen. In der berühmten Verteidigungsrede „Die Geschichte wird mich freisprechen!“ (La historia me absolverá!), die Castro 1953 nach dem gescheiterten Angriff auf die Moncada-Kaserne vor Gericht hielt, zeigt sich das ganz deutlich. Fidel beabsichtige eine 30prozentige Gewinnbeteiligung für die Beschäftigten in der Großindustrie, im Bergbau und im Handel einzuführen und soziale Gerechtigkeit auf der Basis von wirtschaftlichem und industriellem Fortschritt zu verwirklichen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Che Guevara bereits eine radikalere Perspektive einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft entwickelt. In seinen Tagebuchaufzeichnungen deutet er an, dass es nach dem Sieg der Revolution nötig sein könnte, mit seinen Mitstreitern zu brechen und für den Sozialismus weiter zu kämpfen.
In den ersten Monaten des Jahres 1959, unmittelbar nach der Machtergreifung, hatte aber selbst Guevara Illusionen in Bezug auf die Möglichkeiten einer demokratischen Entwicklung innerhalb der Grenzen des Kapitalismus. In einem Interview erklärte er:
„Wir sind demokratisch, unsere Bewegung ist demokratisch, unser Bewusstsein ist liberal und wir wollen Kooperationen mit anderen Ländern in Amerika etablieren. Es ist ein typisches Täuschungsmanöver von Diktatoren, alle, die ihnen Widerstand leisten, als Kommunisten zu bezeichnen. Innerhalb von eineinhalb Jahren wird die Politik nach der Ideologie der ‚Bewegung 26. Juli‘ strukturiert sein. Es wird Wahlen geben und unsere neu gegründete Partei wird gegen andere demokratische Parteien antreten.“ (H. Thomas, Cuba: A history, S. 831).
Allerdings erwies sich die Errichtung einer liberalen, bürgerlichen Demokratie innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise in Kuba als unmöglich. Ein Zusammenstoß mit den entgegengesetzten Interessen des US-Imperialismus war unvermeidlich, dominierte dieser doch jeden Aspekt der kubanischen Politik und Wirtschaft. Die Tatsache, dass US-Unternehmen 90% der Industrie auf Kuba besaßen und die Produktion und den Vertrieb von Zuckerrohr kontrollierten, zeigt dies ganz klar.
Sobald die Regierung der „Bewegung 26. Juli“ im Amt war, antworteten die USA mit Sabotage. Es erwies sich von Anfang an als unmöglich, im Rahmen des Kapitalismus wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu garantieren. Zu dieser Zeit stellten die Sowjetunion, China und Osteuropa für die neue kubanische Regierung wichtige Referenzpunkte dar. Als die USA den Import von kubanischem Zucker boykottierten, bot sich Moskau als neuer Abnehmer an.
Unter dem Druck der revolutionären Bewegung wurde auf Kuba der Kapitalismus überwunden. Das Vorbild für die neue sozialistische Gesellschaft war allerdings nicht eine Republik der Sowjets (russisch für Arbeiterräte), wie sie zur Zeit Lenins existierte, sondern die Sowjetunion unter Stalin und Chruschtschow. Unter den Bedingungen der Isolation und auf der Grundlage einer rückständigen Ökonomie hatte sich in der UdSSR eine Bürokratie herausgebildet, die sich der Politik und Wirtschaft bemächtigte und die Einflussnahme und Selbstbestimmung der Arbeiterklasse erstickte. Die Institutionen der Arbeiterdemokratie, die Sowjets (Räte), wurden zu rein ausführenden Organen der Entscheidungen des Staatsapparates.
In Kuba hatten die Massen in den ersten Jahren nach der Revolution ein riesiges Bedürfnis, sich aktiv an den politischen Prozessen zu beteiligen. Sichtbar wurde dies am Eintritt von Millionen in die Massenorganisationen (insbesondere die „Komitees zur Verteidigung der Revolution“) und im Kampf zur Abwehr der imperialistischen Aggression in der Schweinebucht, an dem Hunderttausende einfache Arbeiter und Bauern teilgenommen haben. Jedoch gab es keine demokratischen Strukturen, durch die eine Einflussnahme auf politische und gesellschaftliche Entscheidungen und die Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse möglich gewesen wäre. Arbeiter hatten weder die Möglichkeit, aus ihren eigenen Reihen Vertreter zu wählen, noch war die Abwählbarkeit von Funktionären, die ihren Pflichten nicht nachkamen, gewährleistet.
In Ermangelung anderer Vorbilder implementierten die kubanischen Revolutionäre Strukturen nach dem Vorbild ihrer sowjetischen Verbündeten. Anfangs war Che Guevara von der Richtigkeit dieses Kurses überzeugt, was sich in mehrerlei Hinsicht zeigen lässt. Als Beispiel kann die Reglamento de la empresa consolidada (dt. Verordnung für Unternehmen) herangezogen werden, die von Che Guevara in seiner Funktion als Industrieminister ausgearbeitet wurde. Dort liest man, der vom Ministerium nominierte Manager sei berechtigt „die gesamte Planung, Organisation, Umsetzung und Kontrolle von allen Aufgaben im Unternehmen zu verwalten und alle Produktionsmittel vollumfänglich zu kontrollieren“. (H. Thomas, Cuba: A history, S. 509)
Die Sowjetunion konnte zu jener Zeit trotz aller Probleme, die schlussendlich auch zum Zusammenbruch des Systems führten, große Erfolge auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur vorweisen. Möglich war dies dank der Überwindung der Marktwirtschaft und der Einführung einer Planwirtschaft, und zwar trotz der negativen Rolle, die die Bürokratie spielte. Folgendes Zitat veranschaulicht Ches erste Impressionen von seinem Besuch der UdSSR:
„Sogar ich war überrascht, als ich in die Sowjetunion kam, denn eines der Dinge, die einem auffallen, ist die enorme Freiheit, die es dort gibt. Freiheit des Denkens und die enorme Freiheit, dass jeder sich gemäß seinen Fähigkeiten und seines Temperaments entwickelt.“ (E. Guevara, Scritti, discorsi e diari di guerriglia, Einaudi, 1969, S. 946)
Diese Worte wurden 1961 niedergeschrieben, fünf Jahre nach der militärischen Niederschlagung der ungarischen Arbeiterrevolution durch Moskau.
Im Bezug auf die Strategie zur Entwicklung des Sozialismus sehen wir, wie verwirrt die Ideen des argentinischen Revolutionärs waren. Mit Hinweis auf die Sowjetunion sagte er:
„Hört genau zu: Jede Revolution, ob wir das gut finden oder nicht, muss durch eine unvermeidliche Phase des Stalinismus gehen, weil sie sich gegen die kapitalistische Umzingelung wehren muss.“ (KS Karol, La guerriglia al potere, Mondadori 1970, S. 53)
Stalinismus wird hier als eine Kinderkrankheit des Sozialismus gesehen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei aber um einen Prozess der Konterrevolution, deren treibende Kraft die Bürokratie war, eine politische Kaste, deren wichtigster Vertreter Stalin war und die auch nach seinem Tod fortbestand.
Der Stalinismus setzte auf die physische Vernichtung der alten bolschewistischen Garde, die die Oktoberrevolution angeführt hatte. Der „rote Faden“ der revolutionären Tradition wurde in vielen Ländern gekappt: Aus diesem Grund waren anti-stalinistische Positionen, einschließlich jener von Leo Trotzki, innerhalb der kommunistischen Bewegung in Ländern wie Kuba kaum und wenn dann nur in einer sehr verzerrten Form bekannt. Che wurde das alles vermutlich gegen Ende seines Lebens bewusst.
Kuba brauchte in den Anfangsjahren notwendigerweise die Kooperation mit der Sowjetunion, und das Resultat war die Übertragung des sowjetischen Modells auf die Insel. Es wurde fälschlicherweise angenommen, dass Kuba innerhalb des bürokratischen Modells für alle Zeiten die Rolle als Lieferant von Rohstoffen und Nahrungsmitteln (Nickel und Zucker) einnehmen könne, ohne sich viel um eine harmonische Weiterentwicklung der eigenen Wirtschaft kümmern zu müssen. Der Prozess der Bürokratisierung der Kubanischen Revolution ging jedoch nicht ohne Probleme vonstatten. In der ersten Phase gab es viele Konflikte zwischen den kubanischen Revolutionären und den sowjetischen Bürokraten (und deren Anhänger auf Kuba, die in der PSP, der kommunistischen Partei, organisiert waren). Die Streitpunkte traten in den verschiedensten Bereichen auf, von der Wirtschaft über die Außenpolitik bis hin zu Fragen marxistischer Theorie, Kunst und Kultur.
Die Debatte über die Wirtschaft
Che kamen erste Zweifel, als er sich die Probleme bei der Verwaltung der Industrie ansah, für die er als Minister zuständig war. In der Debatte um das System der Budgetfinanzierung (sistema de financiamento presupuestario), in der Che die Implementierung kapitalistischer Maßnahmen vorgeworfen wurde, erklärte er: „Es gibt viele Ähnlichkeiten zum Berechnungssystem der Monopole, aber niemand kann die Effizienz dessen abstreiten“. Weiters kritisierte er das in der UdSSR angewandte System, das Ungleichheit begünstige, indem individuelle Anreize (insbes. für Manager) gesetzt werden.
Che lieferte sich mit den Stalinisten eine hitzige Diskussion über die Ausrichtung der Planwirtschaft. Der zentrale Disput drehte sich um seine Position zugunsten der Erstellung eines Finanzierungsplans, in dem die zentrale wirtschaftliche Autorität den verschiedenen Industrien Ressourcen zuteilt. Sein oberstes Ziel sah er in der Förderung der industriellen Entwicklung, was eine Stärkung der Arbeiterklasse zur Folge gehabt hätte.
Die Stalinisten argumentierten für eine stärkere Autonomie der einzelnen Unternehmen und setzten auf das Kriterium der Rentabilität, um für jedes Unternehmen Anreize zu schaffen. Die Beziehung zwischen den Firmen sollte durch Marktkriterien geregelt sein.
Che Guevaras Position in dieser Frage war von unserem Standpunkt aus die richtige, auch wenn er einen gewissen Hang zum Voluntarismus an den Tag legte.
In der damit verbundenen Diskussion über Anreizsysteme kritisierte Che Guevara, dass rein mit materiellen und wirtschaftlichen Anreizen gearbeitet wurde, während er der Fokus auf moralische Anreize legen wollte.
Einer der wichtigsten Mechanismen in seinem Modell zur Organisation der Gesellschaft war jener der Nachahmung von Vorbildern (wie bei der „Stachanow-Bewegung“), worin er eine „Waffe zur Steigerung der Produktion und ein Instrument zur Hebung des Massenbewusstseins“ (aus dem Buch Carlos Tablada Perez´ Economia, etica e politica nel pensiero di Ernesto Che Guevara, S. 209) sah.
Trotz allem fehlte in der gesamten Debatte über die Wirtschaft ein zentraler Aspekt: Der einzige „moralische“ Anreiz für die Produktion in einer Planwirtschaft kann in Form der Arbeiterdemokratie bestehen, wodurch Arbeiter nicht nur auf dem Papier die „Besitzer der Produktionsmittel“ sind, sondern die reale Macht in der Gesellschaft ausüben und davon als Individuen wie auch als Klasse profitieren. Letztlich stoßen wir immer wieder auf den Punkt, den schon Trotzki betonte: „Die Planwirtschaft braucht Demokratie, wie der menschliche Körper Sauerstoff.“
Guevara hingegen legte mehr Gewicht auf die Herausbildung eines „neuen Menschen“, wie man in seiner Schrift „Sozialismus und Mensch in Kuba“ nachlesen kann. Einen neuen Menschen frei von Entfremdung und Egoismus zu schaffen, ist aus einer kommunistischen Perspektive sicherlich eine Priorität, wenn es um die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft geht. Aber dieser Prozess braucht eine feste materielle Grundlage und setzt voraus, dass die Arbeiterklasse die zentrale Rolle in dem neuen System einnimmt.
Was das Verhältnis zwischen Masse und Führung in der sozialistischen kubanischen Gesellschaft anlangt, vertrat Che eine interessante Perspektive:
„Die Initiative geht in der Regel von Fidel und vom Oberkommando der Revolution aus, und sie wird dem Volk erklärt, das sie sich zu eigen macht. Andere Male werden lokale Erfahrungen von der Partei und der Regierung angeregt, um dann gemäß demselben Verfahren verallgemeinert zu werden.“ (E. Guevara, Der Sozialismus und der Mensch in Kuba)
Weiters schreibt er:
„In den großen öffentlichen Versammlungen beobachtet man eine Erscheinung, die der Resonanz zweier Stimmgabeln analog ist; Fidel und das Volk beginnen zu schwingen in einem Dialog wachsender Intensität bis zu seinem Schlusshöhepunkt, durch unseren Kampf- und Siegesruf feierlich dargestellt.“
Diese Schilderung beschreibt recht akkurat die vorherrschende Stimmung, insbesondere in den frühen Jahren der Revolution, und die enge und intensive Beziehung zwischen der Führung, die eine enorme moralische und politische Autorität besaß, und den Massen, die die Führung enthusiastisch unterstützte. Allerdings reichte das nicht aus. Es gab in diesem System keine Kanäle, über die die Massen demokratisch an der Verwaltung von Staat und Wirtschaft partizipieren hätten können. Die Grundpfeiler eines Arbeiterstaates, wie ihn Lenin in Staat und Revolution beschreibt (jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller politischen Vertreter; Facharbeiterlohn für Funktionäre; keine stehende Armee, sondern Arbeitermilizen; Rotationsprinzip in der Verwaltung, damit sich keine Bürokratie herausbilden kann etc.), existierten auf Kuba nicht.
Weiter unten im gleichen Text beschäftigte sich Che mit dem Problem der Partizipation der Massen an Entscheidungsprozessen und erklärte dabei: „Es ist noch nötig, die bewußte – individuelle und kollektive – Beteiligung an allen Lenkungs- und Produktionsmechanismen zu vertiefen.“ Er ist auf der Suche nach „neuen revolutionären Institutionen“:
„Wir sind noch nicht dazu gekommen, die Institutionen der Revolution zu schaffen. Wir suchen nach etwas Neuem, das eine vollkommene Identifizierung zwischen der Regierung und der Gemeinschaft erlaubt.“
Er findet jedoch keine Mittel dieses Ziel umzusetzen. Das zeigt auch, wie tief der bürokratische Bruch mit den wahren Ideen des Bolschewismus und der Oktoberrevolution reichte, wenn nicht einmal aufrechte Revolutionäre wie Che Guevara es schafften, eine Alternative zum Stalinismus zu formulieren.
An diesem Punkt ist die extreme Haltung, die Che Guevara gegenüber den Gewerkschaften entwickelte, symptomatisch:
„Über eine Sache bin ich mir sicher, nämlich dass die Gewerkschaften eine Bremse darstellen, die es zu zerstören gilt, aber nicht im Sinne eines Absterbens: Sie müssen zerschlagen werden, so wie der Staat zerschlagen werden muss, in einem Zug.“ (Diese und all die anderen Zitate aus den unveröffentlichten Arbeiten von Che sind Artikeln von Antonio Moscato entnommen, die in der Tageszeitung „Liberazione“ zwischen September und Oktober 2005 veröffentlicht wurden.)
Die angebliche Nutzlosigkeit der Gewerkschaften in einer Planwirtschaft lässt außer Acht, dass sogar die allerbeste Arbeiterdemokratie nie perfekt sein kann, weil sie die Klassenwidersprüche widerspiegelt, die noch nicht gänzlich verschwunden sind. Es kann passieren, dass sich die Arbeiter organisieren müssen, um sich auch innerhalb eines Arbeiterstaates vor Machtmissbrauch zu schützen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Gewerkschaften in der Übergangsperiode. Das war die Position, die Lenin in der Gewerkschaftsdebatte in der frühen Sowjetunion im Jahr 1920 verteidigte. In dieser Debatte vertraten Lenin und Trotzki unterschiedliche Positionen, wobei Trotzki seine Position später korrigierte und zugab, falsch gelegen zu haben.
Internationalismus oder Chauvinismus?
Der Hauptkonflikt zwischen Che (und anfangs auch Fidel) einerseits und der Sowjetunion andererseits drehte sich um die Frage des Internationalismus. In den 1960ern verfolgte Kuba die Perspektive, die sozialistische Revolution auf ganz Lateinamerika auszuweiten. Beispiele für diese Orientierung sind die „Botschaft an die Trikontinentale Konferenz in Havanna“ und die „Zweite Erklärung von Havanna“, die beide von Che Guevara verfasst wurden. Die Notwendigkeit, die Revolution auf andere Länder auszuweiten, war eine der wichtigsten Erkenntnisse Ches. Diese Position war aber mit der von Chruschtschow vertretenen Idee von einer „friedlichen Koexistenz“ nur schwer unter einen Hut zu bekommen. Che Guevara war zu dem Schluss gekommen, dass Sozialismus in einem Land unmöglich ist.
Guevaras unveröffentlichte Schriften zeigen seine gefestigte Position:
„Internationalismus wird durch Chauvinismus (gegenüber einem kleinen oder schwachen Land) ersetzt oder durch die Unterordnung gegenüber der UdSSR, während die Diskrepanzen zwischen anderen Volksdemokratien aufrecht erhalten bleiben (Comecon).“ (Anmerkung: Comecon war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, eine internationale Organisation der stalinistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion.)
In seinen letzten Lebensjahren entwickelt Che ein immer stärkeres Misstrauen gegenüber der Rolle der „realsozialistischen“, d.h. der stalinistischen, Staaten. Seine unveröffentlichten Schriften geben Einblick in seine Denkweise in diesen Jahren. In diese Phase fällt auch seine Rede vor dem Zweiten Wirtschaftsseminar für afroasiatische Solidarität in Algier im Februar 1965:
„Wie kann es auch ‚gleich vorteilhaft‘ sein, zu Weltmarktpreisen Rohstoffe zu verkaufen, welche die unterentwickelten Länder unendliche Anstrengungen und Mühen kosten, und zu Weltmarktpreisen Maschinen anzukaufen, welche in automatisierten Großfabriken hergestellt werden, so wie es gegenwärtig geschieht? Wenn wir dieser Art Beziehung zwischen den beiden Gruppen von Nationen zustimmen, müssen wir uns darüber klar sein, daß die sozialistischen Länder sich in gewisser Weise zu Komplizen der imperialistischen Ausbeutung machen. Man mag einwenden, daß der Austausch mit den unterentwickelten Ländern nur einen unbedeutenden Prozentsatz im Außenhandel dieser Länder darstellt. Das ist völlig richtig, ändert aber nichts am unmoralischen Charakter eines solchen Austauschs.
Die sozialistischen Länder haben die moralische Verpflichtung, ihre stillschweigende Komplizenschaft mit den Ausbeuterländern des Westens zu liquidieren.“
Damit einher geht eine harsche Kritik an der Bürokratie, die als „Bremse revolutionärer Aktion“ beschrieben wird, aber auch als „ätzende Säure, die die Wirtschaft, Bildung, Kultur und öffentliche Dienstleistungen so entstellt“, dass „sie uns mehr schadet als der Imperialismus selbst“.
Che Guevara und der Trotzkismus
Die Suche nach einem anderen Weg zur Verwirklichung des Sozialismus war mit Sicherheit eines von Ches Hauptanliegen in seinem letzten Lebensabschnitt. Sein tragischer Tod setzte dieser Suche ein Ende, insofern ist es schwierig rückblickend eine Vermutung darüber anzustellen, was hätte sein können. Wir können aber mit Sicherheit sagen, dass Che Guevara mit dem Stalinismus gebrochen hatte.
Für ihn war der „proletarische Internationalismus eine revolutionäre Pflicht, aber auch eine Notwendigkeit“. Der Bruch mit dem Nationalismus der offiziellen kommunistischen Parteien und mit der strikt auf Kuba beschränkten Vision vieler Revolutionäre auf der Insel war unvermeidlich. Bis zum Ende seines Lebens setzte er sich für die Ausbreitung der Revolution auf ganz Lateinamerika ein. Er hatte keinerlei Vertrauen in die angeblich progressive Natur diverser nationaler Bourgeoisien, die von Moskau und Peking unterstützt wurden:
„Andererseits haben die nationalen Bourgeoisien ihre ganze Widerstandskraft gegen den Imperialismus verloren. Wenn sie überhaupt je eine hatten, bilden sie nur das letzte Rad am Wagen des Imperialismus. Reformen sind nicht mehr möglich: entweder sozialistische Revolution oder Karikatur einer Revolution.“ (Botschaft an die Trikontinentale Konferenz in Havanna)
Wie wir gesehen haben, kam Che in dieser und anderen Fragen in Konflikt mit der Sowjetbürokratie. Aber zu behaupten, er wäre Trotzkist geworden, wie einige „alternative“ Historiker das tun, entspricht nicht der Realität. Wer dies behauptet, wird der Person Ernesto Guevaras nicht gerecht, dessen Prinzipien Ehrlichkeit und intellektuelle Aufrichtigkeit waren. Che Guevara war ein Revolutionär, der über seine politischen Erfahrungen und die Perspektiven für die Revolution tiefgründig reflektierte. Gegen Ende seines Lebens las er auch Schriften von Trotzki, wie seine Notizbücher belegen. Der Fokus seiner Lektüre lag auf Büchern wie Die Permanente Revolution und die Geschichte der russischen Revolution, aus welchen er ganze Seiten abschrieb.
Doch Ches Rezeption dieser Texte blieb unvollständig. Sein Fokus auf die Guerilla-Taktik im Kongo und später in Bolivien bestätigen das. Unterstrichen wird das durch Texte aus seinen unveröffentlichten Schriften. Als er sich die Frage stellte, ob das Proletariat noch immer die treibende Kraft in revolutionären Prozessen sei, kam er zu folgendem Schluss:
„Die Beispiele China, Vietnam und Kuba beweisen die Unzulänglichkeit dieser These. In den ersten beiden Fällen war die Beteiligung des Proletariats nicht existent bzw. marginal. In Kuba wurde der Kampf nicht durch die Partei der Arbeiterklasse angeführt, sondern von einem klassenübergreifenden Bündnis, das sich nach der Machtübernahme radikalisierte.“
Tatsache ist jedoch, dass der Generalstreik, der Kuba eine Woche lang lahmlegte, ein entscheidender Faktor im Kampf um die Machtübernahme war. Die Arbeiterklasse hatte mit voller Kraft die Bühne der Revolution betreten, allerdings mit keinerlei Formen der Selbstorganisation, die mit den Sowjets in Russland im Jahr 1917 vergleichbar gewesen wären. Das hat den Aufstieg der Bürokratie an der Spitze des Staatsapparats extrem beschleunigt. In China und Vietnam führte der Guerillakrieg zu einem Sieg über den Imperialismus und zum Zusammenbruch des Kapitalismus, aber die Regimes, die daraus hervorgingen, waren von Anfang an degenerierte Arbeiterstaaten nach dem Vorbild der UdSSR.
Eine der Lehren der Russischen Revolution von 1917 war, dass sogar in einem rückständigen Land das Proletariat, und sei es zahlenmäßig noch so klein (in Russland ungefähr 10 % der Bevöklerung), eine entscheidende Rolle spielen kann.
Der Marxismus unterschätzt aber die Wichtigkeit der Bauernbewegung keineswegs. Ohne die aktive Unterstützung durch die Masse an verarmten Bauern wäre die Oktoberevolution unmöglich gewesen. Aber obwohl die Arbeiterklasse eine Minderheit in der russischen Gesellschaft darstellte, führte sie die revolutionäre Bewegung an. In jedem Land mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist es die Industrie, wo der Klassenkampf entschieden wird. Die führende Rolle im Kampf um den Sozialismus ist der Arbeiterklasse nicht durch göttliches Gesetz zuteil geworden, sondern durch ihre Stellung im Produktionsprozess.
Es ist verständlich, dass Che Guevara, der in den 1950er und 1960ern politisch sozialisiert wurde, das westliche Proletariat nicht als entscheidenden Faktor ansah, wenn man die langanhaltende Flaute in der Arbeiterbewegung dieser Länder bedenkt, die sich aus dem Nachkriegsboom ergeben hat. Aber es war ein Fehler, diese Periode der Flaute zu einer generellen Theorie zu verallgemeinern. Leider kamen der Mai 68 in Frankreich und der „Heiße Herbst“ 1969 in Italien zu spät, als dass Che Guevara anhand dieser Erfahrungen seine Analyse hätte korrigieren können.
Mit dem Versuch, „zwei, drei, viele Vietnams“ zu schaffen, verallgemeinerte Che vielmehr die Methoden der Kubanischen Revolution. Seiner Meinung nach musste der Kampf außerhalb der Städte entwickelt werden, und eine Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse hielt er für überflüssig. Als diese Theorien in anderen lateinamerikanischen Ländern in der Praxis umgesetzt wurden, führte dies dazu, dass revolutionäre Organisationen ihre Kader aus den Fabriken abzogen und den Schwerpunkt ihrer politischen Aktivität von den Städten aufs Land verlegten. Dabei hatte sich zu diesem Zeitpunkt die Theorie aufgrund der Erfahrungen von Che Guevara in Bolivien bereits als falsch herausgestellt. Dennoch versuchte die revolutionäre Linke selbst in hochindustrialisierten Ländern wie Uruguay oder Argentinien diese Strategie umzusetzen.
Die sogenannte Fokustheorie kann mit folgenden Worten von Che Guevara zusammengefasst werden:
„Es ist nicht immer notwendig auf die notwendigen Bedingungen für die Revolution zu warten, ein aufständischer Fokus (Kern einer Gruppe entschlossener Revolutionäre, Anm. der Übersetzer) kann diese schaffen.“ (E. Guevara, ibidem, S. 284)
Die Geschichte der Arbeiterbewegung beweist uns das Gegenteil: Revolutionäre intervenieren in Revolutionen, sie rufen diese aber nicht aus. Und die Erfahrungen im Kongo und in Bolivien bestätigen diese Hypothese. Trotz seiner Bemühungen wurde die letzte Periode des Che im Kongo zum „Jahr, in dem wir nirgends waren“, wie es einer seiner Genossen formulierte. Dazu trug auch der korrupte Charakter der Führung der kongolesischen Guerilla bei.
Kongolesische Studentengruppen, die in China und Bulgarien ausgebildet worden waren, zeigten Ches Aussagen zufolge „kein Interesse daran, ihr Leben im Kampf zu riskieren“. Nach der Ankunft ersuchten sie um eine 15-tägige Freistellung und protestierten, weil „es keinen Ort gab, wo sie ihr Gepäck abstellen konnten und keinerlei Waffen für sie vorbereitet waren. Eine ziemlich komische Situation, wären nicht das die Typen gewesen, auf welchen die revolutionären Hoffnungen lagen.“ (The year we were nowhere, by P.I Taibo II, F. Escobar, F. Guerra, 1994, S. 233f.).
In Bolivien boykottierte die Führung der Kommunistischen Partei den Guerillakampf ganz offensichtlich. Sogar Fidel Castro verurteilte in einem seiner Vorworte zu Ches Bolivianischem Tagebuch die Führer der PCB (Partido Comunista de Bolivia) als Verräter. Allerdings kann dieser Faktor allein das Scheitern der kubanischen Expedition in Bolivien nicht erklären.
Che Guevaras Plan war es, eine Guerilla-Bewegung in der Gegend um Ñancahuazu aufzubauen. Dies war eine schwach besiedelte Region, wo es sehr schwierig war, einen Guerillakrieg zu organisieren, und wo man kaum Unterstützer in den Dörfern und Städten hatte. Hier sehen wir die Beschränktheit der Fokustheorie. Sogar wenn wir anerkennen, dass Che Guevara die Absicht verfolgte, eine „politisch-militärische Schule für bolivianische Guerillas“ zu gründen, ändert das wenig. Eine bewusste, opferbereite Avantgarde auszubilden, ist eine der ersten Aufgaben eines Revolutionärs. Aber genauso wichtig ist es, dass die Avantgarde nicht isoliert von den Massen agiert, sondern als Teil der Massen, die der entscheidende Faktor für die revolutionäre Veränderung sind.
In Bolivien gab es eine starke Arbeiterbewegung, deren Speerspitze die Bergarbeiter in den Zinnminen waren. 1970, einige Jahre nach dem Tod Che Guevaras, fegte eine revolutionäre Welle die Diktatur in Bolivien hinweg und 1971 folgte die kurze Erfahrung der „Kommune von La Paz“. Auf welche Kräfte hätte sich der revolutionäre Kampf also stützen sollen?
Che Guevara bezahlte für seine Fehler mit seinem Leben. Sein politisches und theoretisches Vermächtnis zu diskutieren, ist auch heute noch von großem politischem Wert. Che Guevara war ein ehrlicher Revolutionär und das Studium seiner Erfahrungen und Theorien ist von großer Relevanz für die gegenwärtige Situation; nicht zuletzt was die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Revolution in Kuba und ganz Lateinamerika anlangt.
Wir sehen folgende Einsichten Ches als aktueller denn je an: Die Notwendigkeit, die sozialistische Revolution auf den ganzen lateinamerikanischen Kontinent auszubreiten, und das Verständnis von Internationalismus als zentrale Idee einer revolutionären Bewegung und nicht nur als abstrakten Wert.
Wir glauben, es war kein Zufall, dass sich Che und die Kubanische Revolution in dieser Frage in einem scharfen Konflikt mit den kommunistischen Parteien unter dem Einfluss Moskaus standen. Im Internationalismus liegt die einzige Rettung der Kubanischen Revolution. Der internationale Kampf ist heute wichtiger denn je. Wenn wir die Massenbewegungen von Venezuela bis Bolivien, von Ecuador bis Argentinien sehen, verstehen wir es als unsere Pflicht den marxistischen Kräften in diesen Ländern politische und materielle Unterstützung zukommen zu lassen.