Heute Sonntag stimmen die venezolanischen Wahlberechtigten über eine Reform der Bolivarischen Verfassung ab. Wie jeder Wahlgang in der jüngsten Geschichte ist auch dieser Urnengang eine heftige Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution. Informationen und Berichte über das Referendum auf dem Blog von Hands off Venezuela.
Erstmals jedoch zeigt sich das bolivarische Lager nicht einheitlich: Die Auseinandersetzung zwischen Revolution und Reformismus wird erstmals offen innerhalb der bolivarischen Bewegung ausgetragen. Damit bestätigt sich eine Perspektive, die wir gemeinsam mit unseren venezolanischen GenossInnen der CMR seit über zwei Jahren verteidigen: Sieg und Niederlage der Revolution entscheiden sich innerhalb der bolivarischen Bewegung, in der Auseinandersetzung zwischen Bürokratie und Reformismus einerseits und der Massenbewegung andererseits.
Nach der Auseinandersetzung um den Entzug der Sendelizenz des konterrevolutionären Senders RCTV im April dieses Jahres wird die Auseinandersetzung um die Reform der venezolanischen Verfassung zum nächsten Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution. Die zur Abstimmung stehenden Abänderungen der Verfassung zielen darauf ab, den sozialistischen Charakter der Revolution zu bestärken, Instrumente zu schaffen, die die „poder popular“, d.h. die Volksmacht, begründen sollen.
Vorweg: Das Schicksal der bolivarischen Revolution entscheidet sich nicht auf dem Papier, nicht im Parlament, nicht in Reden von Hugo Chávez, sondern einzig durch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis. Dieses hängt wiederum von der Mobilisierungskraft der Massen am Arbeitsplatz, in den Strassen und Kasernen ab. Und hier bietet die neue Verfassung einige Ansatzpunkte, die den Unternehmerverbänden, dem Imperialismus und auch ReformistInnen völlig gegen ihr Klasseninterssen gehen.
Die internationale Kritik dreht sich v.a. um einen Punkt: Die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsententen. Bisher war ein Maximum von zwei Amtsperioden in der Verfassung vorgesehen. In diesem Punkt der Verfassungsänderung wird ein Schritt in die Diktatur und Tyrannei gesehen. Diese Kritik ist natürlich aufgesetzt und hohl: Queen Elisabeth, der König von Spanien Juan Carlos von Bourbon oder König Gustav von Schweden (der gerade mit allen militärischen Ehren vom österreichischen Bundespräsidenten empfangen wurde) mussten sich Zeit ihres Lebens überhaupt keiner Volkswahl stellen, um Staatsoberhaupt zu werden. Gordon Brown und Alfred Gusenbauer können bis an ihr Lebensende Bundeskanzler sein, sofern sich das mit den gegebenen Parlamentsmehrheiten ausgeht. Chávez muss sich in Zukunft wieder der Volkswahl stellen – na und?
Die Hoffnung der ReformistInnen, ImperialistInnen und UnternehmerInnen ist klar: Spätestens 2012, sobald Chávez‘ Amtszeit ausläuft, soll der Spuk der bolivarischen Revolution vorüber sein. Diese Hoffnung ist nicht ohne Grundlage, denn wie wir schon oft argumentierten, ist die Frage Chávez ja oder nein letztlich die Frage nach Revolution oder Konterrevolution. Es gibt momentan keine Massenorganisation, keine andere Institution und/oder Person, die die Rolle des gegenwärtigen Präsidenten einnehmen könnte. Diese zu schaffen ist eine Schicksalsfrage der venezolanischen Revolution – allein: Es gibt es diesen Ersatz noch nicht. Die Aussicht darauf, dass dieser Spuk nun über 2012 hinausgehen könnte macht viele nervös.
Doch es gibt viele Punkte im neuen Verfassungsentwurf, die viel unmittelbarer und konkreter die Existenz des Kapitalismus in Frage stellen. Durch die neue Verfassung sollen Enteignungen von Privateigentum an Produktionsmitteln erleichtert werden. Im Falle vom privaten Großgrundbesitz wird sein Ende gesetzlich festgeschrieben.
Die fortschrittlichste Änderung ist die gesetzliche Festschreibung des 6-Stunden-Tages – von 36 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Die Umsetzung dieser Maßnahme würde eine massives Anwachsen des Industrieproletariats und der Lohnabhängigen insgesamt bedeuten. Allein in der Erdölindustrie könnten durch diese Maßnahme zusätzlich 67.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Noch wichtiger jedoch: Arbeitszeitverkürzung ist die Grundlage dafür, dass die Massen aktiv im politischen Leben partizipieren können.
Und dafür soll es eine Reihe von verfassungsmäßig vorgesehenen neuen Betätigungsfeldern geben: in allen Betrieben sollen ArbeiterInnenräte und ArbeiterInnenmilizen entstehen. Bezirksräte sollen die lokalen Verwaltungsaufgaben übernehmen. Weiters soll u.a. das Wahlrechtsalter auf 15 oder 16 gesenkt werden, sowie fünf Millionen prekär Beschäftigte und 300.000 Hausfrauen erstmals in den Genuss von Sozialversicherungsleistungen kommen.
Neben des eingangs erwähnten Vorbehalts, dass Papier geduldig ist, ist auch inhaltlich eine Warnung angebracht: Die Methode, das Alte mit dem Neuen zu verbinden ist gleich geblieben – sowohl in der Wirtschaft, als auch den Streitkräften und der Verwaltung bleibt das alte System bestehen, neue Formen der Massenorganisation werden dem hinzugefügt (Volks- und ArbeiterInnenmilizen, ArbeiterInnen- und Bezirksräte, …)
Es erinnert an den Versuch Öl mit Wasser zu mischen. Wir haben schon oft gesehen, dass Chávez der direkten Konfrontation ausgewichen ist: Es ist der Versuch eines graduellen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. MarxistInnen halten dem entgegen, dass dieser Versuch, und die Vorstellung eines geradlinigen Übergangs nicht möglich ist, und in der Geschichte schon oft blutig bezahlt wurde: Chile und Nikaragua müssen hier als Beispiele genügen. Wir können mit Sicherheit sagen, dass der venezolanischen Revolution noch Kumulationspunkte bevorstehen – entweder der Revolution oder der Konterrevolution.
Ja oder nein? Für uns MarxistInnen besteht kein Zweifel: Wir sagen „Ja!“ zu dieser Reform. Die hier vorzunehmenden Gesetzesänderungen stärken die ArbeiterInnenklasse und die revolutionäre Massenbewegung. Die Umsetzung dieser Gesetze wird zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Kapital, Bürokratie und Konterrevolution einerseits und den revolutionären Massen andererseits führen. Die Spaltung des Bolivarianismus entlang von Klassenlinien wird sich zweifellos beschleunigen.
Genau dies jedoch wollen die ReformistInnen und KonterrevolutionärInnen in der bolivarischen Bewegung verhindern. Angesichts der drohenden Gefahren treten sie erstmals offen – und nicht bloß hinterrücks in Form von Sabotage, „gelehrten“ Einwürfen, etc. – gegen die Initiative des Präsidenten auf.
Diese Differenzierungsprozesse innerhalb der Bewegung ziehen sich nun schon über Monate hin, genauer gesagt seit den Präsidentenwahlen vom letzten Dezember. Seit damals sind die bolivarischen Parteien PODEMOS und PTT aus dem revolutionären Verbund ausgestiegen, als sie sich der Initiative der Gründung einer Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) verschlossen. Die Kommunistische Partei hat sich an dieser Frage gespalten.
Die Frage, ob die neue zu bildende Partei auch Soldaten organisieren dürfe, führte zu einer ersten öffentlichen Auseinandersetzung in der Führungsspitze der Militärs: der damalige Verteidigungsminister General Baduel, der Held vom Putsch des Jahres 2002, stellte sich gegen eine Politisierung der Armee, für einen Sozialismus, in dem Privateigentum garantiert wird etc. Demgegenüber argumentierte General Müller-Rojas dafür, dass sich Soldaten in der neuen Partei organisieren dürfen. Er machte auch öffentlich, dass es Listen von Tausenden beitrittswilligen Soldaten gibt, die sich der Idee einer „unpolitischen Armee“ verweigern.
Die PSUV selbst verfügt über 5 Millionen Mitglieder und ca. 16.000 Basisgruppen. Der offizielle Gründungskongress steht noch bevor. Wie wir vorhergesagt hatten, wurde der Gründungsprozess zu einer Auseinandersetzung zwischen der revolutionären Basis und der Bürokratie. Es gab einen richtiggehenden Run beider politischen Zugänge auf diese Partei, mit dem Ziel, die die lokale Führung zu übernehmen.
Der Konflikt im und rund um die Streitkräfte ist indes noch nicht ausgestanden, sondern erreichte Anfang November einen neuen Höhepunkt. General Baduel, nunmehr Zivilist, droht in einer Pressekonferenz, zu der nur oppositionelle Medien eingeladen werden mit der Gefahr eines neuen Putsches, falls diese Verfassungsreform umgesetzt wird – eine unverhohlene Drohung.
Gleichzeitig verschärft die „nicht-bolivarianische“ Konterrevolution ihre Gangart. Einerseits wurden Studierende, meist privater Universitäten zu „bunten Bataillonen“ formiert, ganz nach der Rezeptanleitung die bereits in Serbien, der Ukraine und Georgien erfolgreich angewandt wurde. Es ist die „Belle Jeunesse“ die hier auf die Straße geht, um ihre Privilegien zu verteidigen – hysterisierte reiche Söhnchen und Töchter des Landes, die Angst haben, ihre dass Diplome entwertet werden, wenn die Prolos die Unis und Bildungsmissiones überschwemmen. Diese „pazifistische“ Opposition zieht gern auch mal ein rotes T-shirt an, um sich als oppositionelle „BolivarInnen“ darzustellen.
Diese Studierendendemos sind alles andere als friedlich verlaufen. Sie zielen darauf ab, Tote und Chaos zu provozieren., Bisher ist ihnen das aufgrund der zurückhaltenden Haltung der Polizei nicht gelungen. Unsere GenossInnen von der CMR schlagen in diesem Zusammenhang vor, Selbstverteidigungskomitees an den Universitäten zu organisieren, um dieser mobil gemachten Minderheit der venezolanischen Jugend nicht die Initiative zu überlassen. Die konterrevolutionäre Zeitung „Tal Cual“ (die in Österreich einen gewissen Bekanntheitsgrad hat, da der hiesige „Standard“ freundliche Beziehungen zu diesem Boulevardblatt unterhält) titelte daraufhin unverhohlen: „Blei für die Stundenten“.
Die revolutionäre Massenbewegung antwortete unmissverständlich auf diese Provokationen. Die Zerstörungen, Demos, Schuss- und Bombenattentate dieses medial omnipräsenten Mobs wurden durch Massendemos von revolutionären Studierenden in den Schatten gestellt. Nicht zufällig wurde über diese Demonstrationen in den Medien nicht bzw. nur völlig verzerrt berichtet.
Putschgefahr ungebannt
Doch die Konterrevolution hat noch mehr in Petto: Der Staatsapparat bleibt weiter intakt. Insbesondere in den Streitkräften organisieren sich die putschistischen Kräfte. Diesen Kräften kommt zugute, dass des Privateigentums an Produktionsmitteln weiterbesteht. Dadurch haben sie trotz ihre politischen Schwäche weiter großen gesellschaftlichen Einfluss.
Die Sozialpolitik der Regierung Chávez hat in den letzten Jahren zu bedeutenden Einkommensgewinnen der Armen und Ärmsten geführt. Die unteren 58 Prozent der Einkommenspyramide konnten zwischen 2004 und 2006 einen inflationsbereinigten Einkommensgewinn von 150 Prozent verzeichnen, wobei Effekte wie die massiv ausgebaute kostenlose Gesundheitsvorsorge, Stipendien etc. noch nicht berücksichtigt sind. Gleichzeitig sind aber erstmals massive Probleme bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln aufgetaucht: In drei Vierteln der Geschäfte gibt es kein Milchpulver, in der Hälfte der keinen Zucker, in 40 Prozent kein Speiseöl, in einem Viertel keine Bohnen. Der Grund dafür liegt im Produktions- und Distributionssabotage der Lebensmittelindustrie, die sich so gegen politische „Unsicherheit“, Preiskontrollen etc. „wehrt“.
Ein anderer wichtiger politischer Akteur ist die Katholische Kirche, die über einen Hirtenbrief zu Versammlungen in Kirchen etc. aufgerufen hat. Sie bezeichnete den Inhalt der neuen Verfassung wörtlich als „wider die Natur des Menschen“. Nach einem dieser „Gebete für den Frieden“ kam es zum ersten Todesopfer. Der aufgebrachte Katholikenmob eines reichen Stadtviertels in Caracas misshandelte und erschoss an einer von ihnen nach dem „Friedensgebet“ errichteten Straßensperre einen Arbeiter von „Petrocasa“, der auf dem Weg zur Arbeit war und die Straßensperre durchqueren wollte. (Petrocasa ist ein staatlicher Betrieb, der mit technischer Unterstützung der zu dem damaligen Zeitpunkt von ArbeiterInnen besetzen brasilianischen Fabrik Cipla errichtet wurde. Er produziert Fertigteilhäuser für den sozialen Wohnbau.)
Die Liste der Kritiker der Verfassungsreform ist lang. König Juan Carlos forderte Präsident Chávez öffentlich auf „das Maul zu halten“. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO attestiert, dass das Recht auf Privateigentum in Venezuela verletzt würde und Unternehmer „verfolgt“ würden. (Tatsächlich sind alle UnternehmerInnen, die eine Hungerkrise herbeiführen wollen und konterrevolutionäre Aktivitäten unterstützten, bislang straffrei geblieben – leider, möchte man hinzufügen. Gleichzeitig mit ihrer Verurteilung Venezuelas lobte die ILO übrigens die Zustände im bürgerkriegsgeplagten Kolumbien – was zeigt, in wessen Sold sie steht.)
Wie weiter
Wenden wir uns der entscheidenden Frage für das Schicksal der Revolution zu – dem Zerwürfnis innerhalb des Bolivarianismus. Der Riss durch den Bolivarianismus: Soll die Lage durch Zugeständnisse an die Konterrevolution entspannt werden, oder aber sollen die Massen dazu angespornt werden den Worten Taten folgen zu lassen, mit Privateigentum und bürgerlichem Staat endlich Schluss zu machen?
Die CMR, gemeinsam mit der großen Mehrheit der revolutionären Basis, tritt für eine revolutionäre Lösung ein. Sie hat dafür in der Praxis die Einheitsfront „Oligarchen erzittern“ geschaffen – gemeinsam mit der nationalen Bauernorganisation FCNEZ, der Liga der besetzen Betriebe FRETECO (die übrigens in den letzten Monaten erstmals auch ArbeiterInnen der Schwerindustrie Guyanas organisiert hat) und über einem Dutzend weitere revolutionäre Kollektive.
Doch nicht alle denken so. Vom Minister abwärts wird versucht zu kalmieren, die Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung etwa durch „Kapazitätsengpässe durch Marktausreitung“ zu erklären.
Die Widersprüche streben auf eine Entscheidung zu. Entweder übernimmt die Volksbewegung die Macht, oder es kommt zu einer blutigen Konterrevolution. Die „pazifistische“ Opposition wird dann schnell ihr wahres Gesicht zeigen. Die linksreformistische Kräfte, die sich bisher als fortschrittlich darstellen wollten, kriegen nun kalte Füße. Nachdem Ex-General Baduel mit einem Putsch gedroht hatte, stieß er beim selbsternannten Theoretiker des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf – Verständnis! Schließlich hat auch Dieterich immer vor einer Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gewarnt.
Das Land ist heute in zwei große Lager gespalten. Rund um die Frage der Verfassungsreform kam es zu einer weiteren Polarisierung. Hinter einem „Nein“ steht die Reaktion. Würde die neue Verfassung abgelehnt, würde die Konterrevolution dies als Zeichen der Ermattung der revolutionären Bewegung sehen. Ein neuerlicher Putschversuch wäre vorprogrammiert. Hinter dem „Ja“ stehen Millionen und Abermillionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, Indigene und Menschen aus dem informellen Sektor. Ein Sieg würde das Selbstbewusstsein der Massenbewegung weiter stärken – und die Eroberung der Macht in den Betrieben und der Armee, die Zerschlagung des alten Machtapparats usw. werden dadurch immer wahrscheinlicher. Kein Zweifel, auf welche Seite RevolutionärInnen in dieser Frage stehen. Wer „Nein“ zur Verfassungsreform sagt, stellt sich auf die Seite der blutigen Konterrevolution.