Am Samstag, dem 3. November, hat Präsident Pervez Musharraf faktisch das Kriegsrecht über Pakistan verhängt: Er hat den Ausnahmezustand für ganz Pakistan ausgerufen, die Verfassung aufgehoben und das Höchstgericht ausgeschaltet. All dies kommt einem zweiten Putsch gleich, nachdem Musharraf bereits am 12. Oktober 1999 mittels eines Putsches an die Macht gekommen war. Es handelt sich dabei um eine absolute Verzweiflungstat, die den extrem instabilen Charakter des Regimes zeigen, das Tag für Tag an Unterstützung verliert.
In der Erklärung des Ausnahmezustandes machte Musharraf das Anwachsen der Gewalt islamischer Kämpfer und die Justiz, welche sich angeblich „im Widerspruch“ zur Regierung und der Gesetzgebung befindet, für diesen Schritt verantwortlich. Musharraf riskiert und droht das Land ins politische Chaos zu stürzen. Sein Verhalten läuft den aktuellen Interessen des US-Imperialismus zuwider, für den Pakistan aufgrund des Krieges im benachbarten Afghanistan derzeit enorme strategische Bedeutung hat. Washington setzt Musharraf schon seit längerem unter Druck, hart durchzugreifen gegen die Pro-Taliban-Kräfte, die von Pakistan aus die Grenze passieren, um im südlichen Afghanistan gegen die Truppen der „Koalition“ zu kämpfen. Dies gestaltet sich jedoch sehr schwierig und Musharrafs Armee musste in den Stammesgebieten schwere Niederlagen einstecken. Noch dazu unterstützt ein nicht unbeachtlicher Teil der Armee sowie auch des Geheimdiensts (ISI) die Taliban und die Al Quaida, wogegen Musharraf vollkommen machtlos ist. Die Armee ist die einzige Basis, auf die sich Musharraf stützen kann, und selbst diese Basis wankt.
Der US-Imperialismus ist daher zu dem Schluss gekommen, dass Musharraf für sie nicht mehr nützlich und daher entbehrlich ist. Stattdessen sollte Benazir Bhutto die Macht übernehmen. Benazir Bhutto hat in den letzen Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, sich als pro-westlich und „moderat“ zu präsentieren. Hinter Benazir Bhutto und der PPP stehen jedoch die Massen, die eine wirkliche Veränderung des Systems herbeisehnen. Die Massen unterstützen die ursprünglichen, sozialistischen Forderungen der PPP und fordern „roti, kapra aur makan“ (Brot, Kleidung und Wohnen). Diese Stimmung unter den Massen kam deutlich zum Ausdruck, als Benazir Bhutto nach Pakistan zurückkehrte und mindestens 2 Millionen Menschen, hauptsächlich ArbeiterInnen, BäuerInnen und arme Leute, auf der Straße waren, um sie zu begrüßen.
Washington drängt Musharraf einen Deal mit Benazir Bhutto zu schließen, um Aufstände zu verhindern und um die Erwartungen der Massen zu beschwichtigen. Doch dieser Plan ließ sich nicht so einfach verwirklichen, denn Musharraf dachte nicht im Geringsten daran, als Militärchef zurückzutreten und sich stattdessen als Politiker in Zivil den kommenden Wahlen zu stellen. Das zukünftige persönliche Schicksal Musharrafs mag zwar Washington vollkommen gleichgültig sein, nicht aber natürlich Musharraf selbst, der gern alt sterben würde. Musharraf hat schon mehrmals gesagt, seine Militäruniform sei „wie eine zweite Haut“ für ihn. Nun hofft er, dass diese zweite Haut ihn retten wird – was aber alles andere als gewiss ist.
Pakistan blickt auf eine stürmische Geschichte zurück seit der Unabhängigkeit (gleichzeitig mit Indien) 1947. Die pakistanische Bourgeoisie war von Anfang an vollkommen unfähig, dieses riesige Land zu entwickeln. Pakistan ist geprägt von Armut und feudaler Rückständigkeit, die Wirtschaft ist ein Desaster – kurz: das Land bewegt sich mehr rückwärts als vorwärts. Die Schwäche des pakistanischen Kapitalismus spiegelt sich wider in extremer politischer Instabilität: Schwache „demokratische“ Regime haben sich in regelmäßigen Abständen mit Militärdiktaturen abgewechselt. Der letzte Diktator, Zia ul Haq, wurde ermordet (wahrscheinlich vom CIA) und Musharraf fürchtet nun, dass ihm das gleiche Schicksal bevorsteht und klammert sich an die Macht. Doch die Macht gleitet ihm nach und nach zwischen den Fingern hindurch.
Der jetzige Putsch findet 12 Tage vor Ablauf der Präsidentschaft Musharrafs und der Legislaturperiode des Parlaments statt und fällt außerdem in die Wochenendpause des Verfahrens betreffend die Anfechtung der Wahl Musharrafs für weitere fünf Jahre als Präsident wegen Unvereinbarkeit mit seinem militärischen Rang vor dem Höchstgericht. In jüngster Zeit gab es Anzeichen dafür, dass der Staat sich selbst zersetzt und Widersprüche traten an allen Ecken und Enden zutage; das beste Beispiel hierfür ist die Rebellion der Justiz, die nun aufgelöst wurde. Der letzte Akt der Justiz bestand darin, Musharrafs Maßnahmen für verfassungswidrig zu erklären. Für den Klassenkampf ist verfassungsrechtliches Hick-Hack aber nicht wirklich entscheidend, denn Musharraf setzte die Verfassung und die Gesetze einfach außer Kraft.
Genauer gesagt hat die Provisorische Verfassungsordnung die Verfassung in „Schwebe“ versetzt und soll vortäuschen, dass Pakistan „fast in Einklang mit der Verfassung“ regiert wird, während Musharraf tatsächlich so regiert, wie es ihm passt. Sieben der Artikel, die Grundrechte betreffen, sind in Schwebe und der Präsident wird ermächtigt, die Verfassung zu ergänzen, „wenn es zweckdienlich erscheint“ – zweckdienlich für Musharraf natürlich! Langsam hat Musharraf allerdings keinen Spielraum mehr, denn mit seinem letzten Manöver hat er nicht nur die Verfassung außer Acht gelassen, sondern auch seine ohnedies sehr umfangreichen Machtbefugnisse als Präsident. Stattdessen agiert er als Oberbefehlshaber der Armee. Anstatt einer Diktatur mit einer verfassungsgemäßen Präsidentschaft als Feigenblatt herrscht nun die offene Diktatur der Armee: die Herrschaft des Schwertes.
Wie Trotzki einst erklärt hat, reichen aber Armee und Polizei allein niemals aus, um zu regieren. Ein Regime ohne Basis in der Gesellschaft wird immer ein instabiles und krisenhaftes Regime sein, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lange hält. Dies gilt auch für die Diktatur Musharrafs, die in Wirklichkeit immer schon schwach war und deren größte Stärke in der Schwäche der Opposition besteht. Zeitungen berichten von der Verurteilung der Ereignisse durch Oppositionsparteien, Juristen und Menschenrechtsorganisationen sowie von der „Sorge“, die die Alliierten im Kampf gegen den Terror, wie z. B. die USA oder Großbritannien, zum Ausdruck bringen. Doch all dies ist nur heiße Luft: Die so genannte „demokratische“ Opposition hat sich als machtlos und zahnlos entpuppt und als nicht in der Lage, einen ernsthaften Kampf gegen die Diktatur zu führen. Und was die Kommentare der „demokratischen“ Staaten USA und Großbritannien betrifft, so sind diese erst recht nicht ernst zu nehmen. London und Washington kümmern sich nicht um die Diktatur Musharrafs solange nur ihre eigenen Interessen nicht gefährdet sind.
In der Erklärung des Ausnahmezustandes hieß es, dass eine Situation vorherrsche, in der „das Land nicht mehr länger in Einklang mit der Verfassung regiert werden könne“ und für die „die Verfassung keine Lösung bereitstelle“. Das ist tatsächlich der Fall! Die Widersprüche in der pakistanischen Gesellschaft wurzeln zu tief, um von Juristen oder von einer Verfassung ausgebügelt werden zu können. Indem Musharraf die Verfassung aufhebt, gesteht er genau das ein! Es ist ein Eingeständnis, dass der Klassenkampf einen Punkt erreicht hat, an dem er sich nicht mehr durch formale Regeln aufhalten lässt.
Der Erklärung des Ausnahmezustandes folgte unverzüglich die Ausschaltung des Höchstgerichts und Umbesetzungen in den Höchstgerichten der Provinzen, sodass selbst jeglicher Anschein von Unabhängigkeit der Justiz zerstört wurde. Folgende verfassungsmäßige Grundrechte wurden von der Provisorischen Verfassungsordnung „in Schwebe“ versetzt: persönliche Sicherheit (Artikel 9), Schutzmaßnahmen im Fall von Festnahme und Haft (Artikel 10), Bewegungsfreiheit (Artikel 15), Versammlungsfreiheit (Artikel 16), Koalitionsfreiheit (Artikel 17), Meinungsfreiheit (Artikel 19) und Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz (Artikel 25). Weiters wurde festgehalten, dass das Höchstgericht, die obersten Gerichte und andere Gerichte nicht befugt sind, Beschlüsse zu fassen gegen den Präsident oder den Premierminister oder gegen jene Beamte, die in der Verwaltung oder Justiz der Amtsgewalt des Präsidenten oder Premierministers unterstehen. Als jedoch der Moment der Wahrheit kam, zeigte sich, dass Musharraf sich seiner Sache doch nicht ganz so sicher ist: Er rührte sowohl die Regierung und die einzelnen Provinzregierungen als auch beide Kammern des Parlaments sowie die Provinzversammlungen nicht an.
Als Rechtfertigung für sein Vorgehen gab Musharraf das „sichtbare Ansteigen der Aktivitäten der Extremisten und Vorfälle von Terroranschlägen“ an. Die Erklärung des Ausnahmezustandes beinhaltet auch eine lange Liste an Anklagepunkten gegen das Höchstgericht, dem vorgeworfen wird, „im Widerspruch mit der Regierung und der Gesetzgebung im Kampf gegen den Terrorismus zu stehen und dadurch die Regierung und die Entschlossenheit der Nation zu schwächen und die Wirksamkeit der Maßnahmen, um diese Bedrohung zu kontrollieren, zu verwässern.“ Weiters gab Musharraf an, dass sich „einige Mitglieder des Höchstgerichtes in die Regierungspolitik einmischen und insbesondere das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen“ würden, generell gäbe es eine permanente Einmischung in die Regierungsgeschäfte. Außerdem sei durch die Einmischung der Justiz die Befehlsgewalt der Regierung geschwächt worden, die Polizei komplett demoralisiert und in ihrer Schlagkraft im Kampf gegen den Terrorismus geschwächt und auch der Geheimdienst an der Bekämpfung des Terrorismus gehindert worden, da Extremisten, Terroristen und Selbstmordattentäter, die festgenommen und verhört wurden, aufgrund von Gerichtsbeschlüssen wieder freigelassen worden seien. Diese Personen seien danach wiederum in terroristische Aktivitäten involviert gewesen, die zahlreiche Menschenleben und den Verlust von Eigentum gefordert hätten. Auf diese Weise wären die islamischen Kämpfer überall im Land ermutigt worden, während die Gesetzeshüter in ihrer Arbeit behindert worden wären.
Eine Passage der Erklärung ist besonders bemerkenswert, nämlich jene, in der es offen heißt, dass ganze Sektoren des Staates „vollkommen demoralisiert“ seien. Dies bringt die innere Schwäche des Staates in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck – mitsamt der Armee, der Polizei und den Sicherheitskräften. Der Grund für die Schwäche liegt darin, dass der pakistanische Staat von oben bis unten gespalten ist und das schon seit einiger Zeit. Musharraf versucht zwar, diese Spaltung zu vertuschen, doch lang wird ihm dies nicht mehr gelingen.
Lenin hat vor langer Zeit erklärt, dass jede Revolution an der Spitze beginnt, mit der Spaltung des alten Regimes. Diese erste Bedingung existiert bereits in Pakistan.
Die zweite Bedingung ist, dass die Mittelklasse aufgewühlt ist und ständig zwischen Revolution und Konterrevolution schwankt. Die pakistanische Mittelklasse ist vollkommen abgeschnitten von der herrschenden Clique, was teilweise durch die Bewegung der Rechtsanwälte zum Ausdruck kommt (wobei diese Bewegung allerdings widersprüchliche Elemente in sich vereint).
Eine weitere Bedingung ist die Bereitschaft der ArbeiterInnenklasse zu kämpfen und große Opfer zu bringen im Kampf für eine bessere Gesellschaft. In den vergangenen Jahren konnten wir einen enormen Anstieg des Klassenkampfniveaus in Pakistan beobachten und militante Streiks, wie jener bei der Telekom oder bei Pakistan Steel, fanden statt. Diese Streiks wurden zwar kaum erwähnt in den Medien außerhalb Pakistans, sie sind aber von enormer symptomatischer Wichtigkeit, denn sie zeigen das Erwachen des pakistanischen Proletariats!
Die letzte und wichtigste Bedingung ist das Vorhandensein einer revolutionären Partei und Führung. Existiert eine solche in Pakistan? Ja! Die pakistanischen MarxistInnen von „The Struggle“ haben an Stärke und Einfluss in den letzen Jahren dazu gewonnen und konnten eine Position nach der anderen erobern. Den GenossInnen von „The Struggle“ ist es gelungen, die überwiegende Mehrheit der militanten Jugend und der ArbeiterInnenklasse um sich zu organisieren; sie sind in jeder Region und in jeder wichtigen Stadt und unter allen Volksgruppen vertreten. Sie haben eine herausragende Rolle bei den Arbeitskämpfen der jüngsten Vergangenheit gespielt und konnten, gemeinsam mit der PTUDC (Pakistan Trade Union Defence Campaign, wichtigste klassenkämpferische Gewerkschaftsorganisation in Pakistan) wichtige Erfolge erzielen, wie z.B. den erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung von Pakistan Steel. In Kashmir konnte die Mehrheit der StudentInnen für die Ideen des Marxismus gewonnen werden und in Karachi und Pukhtunhua (North Western Frontier) konnten viele Anhänger der ehemaligen Kommunistischen Partei gewonnen werden.
Wie bereits in unserem Artikel vom 22. Oktober 2007 berichtet, nahmen die GenossInnen aktiv teil an der Massendemonstration zur Unterstützung der PPP und von Benazir Bhutto. Wir waren die einzigen innerhalb der Linken, die die Rolle der PPP in Pakistan verstanden haben und waren daher auch als einzige in der Lage, vorherzusagen, wie die Massen auf die Rückkehr Benazir Bhuttos reagieren würden. Die pakistanischen GenossInnen intervenierten in diesen Demonstrationen, vertrieben revolutionäre Literatur und verbrannten US-amerikanische Flaggen. Sie wurden begeistert von den ArbeiterInnen und BäuerInnen aufgenommen, die genau das wollen, für das wir kämpfen.
Das Schicksal Pakistans wird nicht entschieden werden von Verfassungen oder juristischen Tricks und auch nicht von scheinheiligen Freiheits- und Demokratieerklärungen von Leuten, die sich nicht wirklich um diese Dinge scheren. Es wird auch nicht entschieden werden von Intrigen und Manövern bürgerlicher Politiker oder des Imperialismus. Einzig die ArbeiterInnen und BäuerInnen sind wirklich interessiert an echter Demokratie. Die ArbeiterInnen werden für Demokratie kämpfen und sie werden mit ihren eigenen Methoden, mit ihren eigenen Forderungen und unter ihrem eigenen Banner für die Demokratie kämpfen. Nur auf die Art und Weise wird die Bewegung ihre Ziele erreichen können. Nur die revolutionäre Massenbewegung der pakistanischen ArbeiterInnen und BäuerInnen kann die Diktatur zu Fall bringen und eine echte Demokratie aufbauen, indem sie der Diktatur der pakistanischen Großgrundbesitzer und Kapitalisten ein Ende setzt!
Musharrafs Putsch ist ein weiterer Akt im Drama Pakistan – und es wird nicht der letzte Akt sein! Wir haben jedoch vollstes Vertrauen, dass die pakistanische ArbeiterInnenklasse auf jene Weise auf die aktuelle Offensive der herrschenden Klasse reagieren wird, wie sie es schon oft zuvor getan hat: indem sie den Klassenkampf an allen Fronten verstärkt!
Wir wenden uns an die AktivistInnen der internationalen ArbeiterInnenbewegung: Unterstützen wir aktiv unsere pakistanischen GenossInnen!
– Verfasst Protestresolutionen in euren Gewerkschafts- und Parteisektionen!
– Schickt Solidaritätsbotschaften an die PTUDC!
– Sammelt Spenden für die PTUDC!
ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt Euch!
Alan Woods, In Defence of Marxism