Der sogenannte „GME Short Squeeze“ löst weltweit Begeisterung aus. Seit Beginn des gegenwärtigen Jahres hat eine unüberschaubare Masse von Amateur-TraderInnen, die sich auf Reddit und anderen sozialen Medien organisieren, einer Reihe großer Hedgefonds 12,5 Milliarden Dollar Verlust beschert und gleichzeitig den Aktienkurs der Videospiel-Einzelhandelskette GameStop um über 1600% steigen lassen. Warum wird der Aktienkurs eines relativ erfolglosen Durchschnittsunternehmens über Nacht zum Top-Thema – auf allen sozialen Medien ebenso wie in der bürgerlichen Presse? Von Sandro Tsipouras.
Üblicherweise herrscht unter Jugendlichen und arbeitenden Menschen fast völliges Desinteresse an den Mechanismen der Finanzmärkte. Diese werden als exklusive Spielwiese der Superreichen empfunden; normale Menschen haben damit nichts zu tun und kennen sich damit nicht aus. Wenn LohnarbeiterInnen beschließen, Geld in Aktien zu investieren, löst das unter ihren Freunden allenfalls Kopfschütteln über das unverantwortliche Risiko aus. Den Superreichen selbst ist sehr daran gelegen, diese Spielwiese für sich zu haben. Jetzt aber wird die Börsenprofis von Abermillionen völlig durchschnittlicher Menschen überrannt, die stolz verkünden, nichts zu verlieren zu haben. Und was noch kurioser ist: Immer mehr von ihnen wollen dabei nicht einmal von Profit motiviert sein. Worum geht es also?
Was ist ein Leerverkauf?
Eines der parasitären Finanzinstrumente, die von in Hedgefonds organisierten Superreichen genutzt werden, um sich auf Kosten der übrigen Gesellschaft zu bereichern, sind sogenannte Leerverkäufe („short selling“). Sie funktionieren folgendermaßen: Ein Aktienhändler – in diesem Fall ein Hedgefonds – wettet darauf, dass Aktien eines bestimmten Unternehmens im Kurs fallen werden. Er leiht sich Aktien des betreffenden Unternehmens von einem Broker aus, um sie unverzüglich weiter zu verkaufen, beispielsweise für $20 pro Aktie. Er erwartet, dass der Aktienkurs sinken wird und er infolgedessen imstande sein wird, die Aktie für weniger Geld zurück zu kaufen – etwa für $10. Kauft er die ausgeliehenen Aktien für weniger Geld zurück, kann er die Preisdifferenz – also $10 – als Profit einstecken.
Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass Leerverkäufe eine sich selbst verstärkende Spirale auslösen, die den Preis einer Aktie nach unten drückt. Je mehr eine Aktie leerverkauft wird, desto mehr sinkt ihr Preis, weil mit jedem Leerverkauf das Angebot im Verhältnis zur Nachfrage wächst. Je mehr der Aktienkurs sinkt, desto attraktiver werden wiederum weitere Leerverkäufe. Es funktioniert wie eine umgekehrte Spekulationsblase.
Ebenso muss man verstehen, dass die gezielte Zerstörung einer Aktie durch Leerverkäufe die betreffenden Unternehmen in den Ruin treiben kann. Die GameStop-Aktie war drei Jahre lang solchen Angriffen ausgesetzt. Zehntausende Arbeitsplätze der Games-Handelskette GameStop wurden von den Hedgefonds aufs Spiel gesetzt, um auf diese Weise für sich selbst Milliardengewinne zu kassieren.
Selten werden mehr als 50% der verfügbaren Aktien eines Unternehmens leerverkauft. Anfang des Jahres wurde in Online-Traderforen bekannt, dass von GameStop über 140% der auf dem Markt verfügbaren Aktien leerverkauft worden waren – das ist möglich, indem sie zwischen mehreren Hedgefonds hin und her verkauft wurden. Es werden mehr von diesen Aktien geschuldet, als es überhaupt gibt. Ein großer Teil dieser Aktien war vom Hedgefonds Melvin Capital leerverkauft – also ausgeliehen und weiterverkauft – worden.
Das bedeutet, dass Melvin Capital und andere Hedgefunds ihren Brokern mehr Aktien dieses Unternehmens schulden, als es überhaupt gibt. Wenn diese Schulden fällig werden, müssen sie die Aktien folglich zu jedem beliebigen Preis zurückkaufen – dazu sind sie vertraglich verpflichtet. Wenn sich niemand findet, der ihnen die Aktien verkauft, kann der Preis de facto bis ins Unendliche steigen. Ein solches Ereignis bezeichnet man als „Short squeeze“, also als „Ausquetschen“ der Leerverkäufer. Diese stehen dann mit dem Rücken zur Wand – und das ist der Grund für den weltweiten Hype.
Nichts zu verlieren als ihre Ketten
Auf dem WallStreetBets-Subreddit – als Subreddits bezeichnet man Diskussionsforen auf dem sozialen Medium Reddit – fanden sich bei Bekanntwerden dieser Tatsache Millionen von HobbytraderInnen zusammen und vereinbarten, GameStop-Aktien aufzukaufen, um gemeinsam einen solchen Short-Squeeze auszulösen. So stieg der Preis der Aktie bereits von $17 auf etwa $500. Ein Ende des Squeezes ist nicht in Sicht. Die Mehrheit der Amateur-Analysten will sogar sicher sein, dass er noch nicht einmal richtig begonnen hat.
Natürlich sind diese Hobbytrader in erster Linie von dem enormen Profit motiviert, den man damit machen kann. Nicht wenige prahlen bereits mit Gewinnen in Millionenhöhe. Doch immer häufiger kann man sehen, wie das Profitmotiv von dem Wunsch überlagert wird, es den „Geldsäcken“ und „Anzugträgern“ zu zeigen. Tausende von Menschen, deren Leben durch die Finanzkrise ab 2008 zerstört wurde, die damals noch ihre Eltern leiden sehen mussten oder die sich daran erinnern, wie die Banker Champagner tranken, während die Demonstranten von der Occupy Wall Street-Bewegung an den Hochhäusern ihrer Firmensitze und Börsen vorbeizogen, sind von Rachedurst erfüllt. „Zeigen wir es diesen grausamen Parasiten!“
Mit jedem weiteren Tag machen die Hedgefonds Milliardenverluste, da sie die ausgeliehenen Aktien zurückerstatten müssen. Die lassen sich aber nicht auftreiben, solange Millionen von Hobbytradern einander Mut zusprechen und schwören, nicht zu verkaufen, selbst wenn sie dabei Geld verlieren.
Diese Situation wurde also einerseits möglich, indem Trading-Apps jedem, der es möchte, ermöglicht haben, gebührenfrei Aktien zu traden und indem andererseits Millionen von Menschen in der Coronakrise arbeits- und perspektivlos geworden sind und nichts Besseres mit ihrem Geld anzufangen wissen, als unter dem Motto „YOLO“ („you only live once“) alles auf eine Karte zu setzen. Es ist ein Symptom des Verfalls der kapitalistischen Ordnung.
Schon seit dem ersten Lockdown im März 2020 wird an den Börsen wie verrückt spekuliert. Der FTSE 100-Index, der die 100 größten Unternehmen an der Londoner Börse verfolgt, stieg dabei von 5100 Punkten im April 2020 auf 6800 Punkte zu Neujahr. Das zeigt an dass die gehandelten Unternehmens-Aktien immer teurer wurden, obwohl die Produktion und der Handel in diesem Zeitraum weltweit eingebrochen sind.
Letztlich sind diese steigenden Aktienpreise darauf zurückzuführen, dass die herrschende Klasse zur Krisenbekämpfung endlose Mengen fiktiven Kapitals erzeugt. Dieses fiktive Kapital wird dann in Aktienspekulation, statt in die reale Produktion oder Dienstleistungen, gesteckt und treibt die Kurse in die Höhe. Die Erzeugung von fiktivem Kapital passiert vor allem durch „Quantitative Easing“. Das bedeutet, dass die Zentralbanken (in der EURO-Zone etwa die EZB) wöchentlich Schuldscheine etc. in Milliardenhöhe aufkaufen und damit die Preise ständig steigen lassen. Es werden Billionen und Abermillionen Geldes „gedruckt“, das Spekulationsblasen auf dem Aktienmarkt erzeugt, da die Kapitalisten hier viel mehr und viel schneller Geld damit machen können, als wenn sie etwa Fabriken für COVID-Impfstoff aufbauen würden.
Während die Börse, an der sich der Erfolg und die Gesundheit der Unternehmen ausdrücken soll, abhebt, machen diese Unternehmen in Wirklichkeit der Reihe nach dicht und Millionen von Menschen verlieren ihre Arbeit. Die Bewegungen der Aktienkurse haben mit der realen Produktion von Gütern und Dienstleistungen so gut wie nichts zu tun.
Dieser Zirkus entlarvt die Wall Street als Spielhölle und zeigt auf, wie Investitionen im krisengeschüttelten kapitalistischen System keinen anderen Zweck mehr haben, als kurzfristige Spekulationsgewinne zu bescheren. Natürlich wird auch die GameStop Spekulationsblase nicht anders enden als die vielen anderen, die vor ihr kamen. An einem gewissen Punkt werden die Verkäufe beginnen, der künstlich aufgepumpte Preis wird wieder in sich zusammenstürzen und nicht wenige Hobbytrader werden vieles verlieren.
Bislang aber haben vor allem die Hedgefonds bluten müssen und Verluste in Milliardenhöhe gemacht, die täglich anwachsen. Von Seiten der HobbytraderInnen, die die GME-Aktien kaufen und halten, hört man hingegen immer häufiger Aussagen wie: „Egal, ob ich alles verliere – Hauptsache, die Schweine bluten!“ oder „Ich habe sowieso nie mehr als tausend Dollar auf dem Konto. Wenn ich die Hundert verliere, die ich hineingesteckt habe, ist das für mich ein normaler Tag.“ Die Risiken sind enorm ungleich verteilt. Hier mischen plötzlich Massen von Menschen mit, die buchstäblich nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, und immer wütender werden.
Neue Erkenntnisse und alte Illusionen
Viele arbeitende und arme Menschen, die von dieser „Bewegung“ mitgerissen werden, sind von Illusionen erfüllt. „Wir schreiben Geschichte!“, verkünden sie. „Wir holen uns zurück, was diese Gangster uns geklaut haben! Wenn wir uns zusammentun, haben die Reichen keine Chance gegen uns!“
Das ist zunächst einmal absolut richtig. Wenn sich arbeitende Menschen zusammentun, sind die Reichen und Mächtigen plötzlich machtlos. Die herrschende Klasse ist auf die mehr oder weniger freiwillige Unterwerfung der Arbeiterklasse angewiesen bzw. darauf, dass uns systematisch verheimlicht wird, dass wir gemeinsam stärker sind als sie.
Seit über einer Woche wird daher vor allem in den US-amerikanischen Massenmedien eine Hetzkampagne veranstaltet. Man versucht, die Hedgefonds als Opfer und die Hobbytrader als verantwortungslose, gierige Spekulanten darzustellen, die ohne Rücksicht auf Verluste agieren. Es wird von weinenden, verzweifelten, hilflosen Bankern berichtet. Doch diese Kampagne ist völlig erfolglos. Es stellt sich heraus, dass absolut niemand Mitleid mit Bankern und Hedgefonds-Managern hat. Vielmehr werden die Menschen gerade durch die Möglichkeit angestachelt, hier einmal die Reichen zur Verzweiflung bringen zu können.
Die Bereitschaft immer größerer Menschenmassen, das wenige, was sie haben, für den Kauf von GME-Aktien zu riskieren, wird durch die offensichtliche Verlogenheit und das schamlose Handeln der Hedgefonds bei ihrem Versuch, sich zu retten, noch verstärkt. Mit ihrer Medienkampagne geben sie sich nicht zufrieden. Alle möglichen Tricks zur Marktmanipulation werden eingesetzt, um die Preise der GameStop-Aktie wieder zu senken. Einer dieser Tricks besteht zum Beispiel darin, dass sich verschiedene Hedgefonds GME-Aktien gegenseitig zu absichtlich stark gesenkten Preisen verkaufen, um so den Marktpreis wieder nach unten zu treiben.
Nun schaltet sich die Börsenaufsicht auf Seiten der Superreichen Hedgefonds ein, etwa um die KleinanlegerInnen auszuforschen. Diese staatliche Behörde beteiligt sich auch entschlossen am Versuch, die Hedgefonds als Opfer darzustellen und ihren Reichtum zu schützen. Die Superreichen können sicher sein, dass die US-amerikanische Regierung auf ihrer Seite steht. Die Bourgeoisie, die Kapitalbesitzer, sind die herrschende Klasse in dieser Gesellschaft und sie haben die Macht, um zu verhindern, dass man die Börse einsetzt um das Spiel einmal umzudrehen und einmal ihren Reichtum wegzunehmen.
Die Illusion der Chancengleichheit im Kapitalismus, die Hoffnungen in die Möglichkeit, „etwas aus sich zu machen“ und dergleichen Ideologien, die vor allem in den USA schon seit Jahrhunderten tief in die Arbeiterklasse eingesickert sind, werden hier demoliert. Unter Millionen von Menschen setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Bourgeoisie buchstäblich über dem Gesetz steht. Doch die vielen am Existenzminimum lebenden GME-Trader, die glauben, dass sie ihre Existenzängste jetzt hinter sich lassen können, werden ein böses Erwachen erleben.
Das wurde in der letzten Woche bereits sichtbar, indem der Aktienmarkt immer wieder einfach eingefroren wurde. Am Freitag war der Handel mit GME-Aktien länger eingefroren, als er überhaupt offen war.
Die Krankheit des Systems
An einem gewissen Punkt wird diese Situation zum Einsturz gebracht werden. Die Schwankungen der Aktienkurse drücken die Krankheit des Systems aus. Während die Zinsen sich auf einem historisch niedrigen, teilweise gar negativen Niveau befinden, ertrinkt die Volkswirtschaft in Geld. Auch die Explosion des Bitcoin-Kurses, der seit April von $6800 auf $40.000 Mitte Jänner gestiegen ist, drückt das aus.
Anstatt das Geld in die Produktion zu investieren (in die Entwicklung der Technologie, was wiederum die Arbeitsproduktivität steigern würde), verspielen die Kapitalisten das Geld im Börsencasino, wo sie sich schnellere und größere Gewinne erwarten können. Das ist ein vernichtendes Urteil über den Zustand des krisengeschüttelten, altersschwachen Kapitalismus.
Dieses ganze Geld könnte verwendet werden, um die realen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, die arbeitslos, obdachlos und unzureichend medizinisch versorgt sind. Wieviele Impfdosen hätte man mit den 3,5 Milliarden US-Dollar herstellen können, um die Melvin Capital im Lauf der vergangenen Wochen erleichtert wurde? Wie viele Intensivpflegeplätze, wie viele schönen Schulen?
Gegen diese massive „Fehlallokation“, um es in der Sprache der Bürgerlichen auszudrücken, also gegen diese systematische Missachtung der Lebensinteressen der Mehrheit gegenüber den Profitinteressen der Reichen, können wir uns nicht wehren, indem wir HobbytraderInnen werden und versuchen, den Aktienmarkt zu plündern.
Eine kleine Minderheit der HobbytraderInnen bezeichnet, was vor sich geht, als Klassenkampf. Das drückt einen großen Fortschritt im Bewusstsein der Menschen aus. Doch wir müssen entgegnen: Mit den Methoden der Bourgeoisie wird unsere Klasse im Klassenkampf nicht siegen können. Trading-Apps sind kein Ersatz für Gewerkschaften und Arbeiterparteien.
Die Wall Street ist vielmehr der lebende Beweis dafür, dass das kapitalistische System keineswegs so umgebaut werden kann, dass es den Menschen dient, sondern vielmehr so schnell wie möglich abgeschafft werden muss.
Dazu braucht es einen politischen Kampf gegen die Regierungen der Reichen, die Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiterkontrolle. So kann die Produktion und Verteilung aller Güter und Dienstleistungen nach einem globalen Plan erfolgen, wobei die Bedürfnisse der Menschen, nicht der Profit für einige wenigen Superreiche im Mittelpunkt steht. Und dazu braucht es wiederum den Kampf für ein revolutionäres Programm in der Arbeiterbewegung.
Wenn du willst, dass die Reichen wirklich verlieren, dann mach mit bei uns.