Zu Beginn des Jahres 2021 wirft Alan Woods einen Blick auf den Zustand der Welt. Während sich ein paar Milliardäre bereichern, sind die meisten zwischen der Pandemie und der Armut gefangen. Die Arbeiterklasse beginnt, ihre Muskeln zu spannen, um sich auf die kommenden Kämpfe vorzubereiten.
„Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.“ (Bert Brecht)
„Die Hoffnung entspringt ewig der menschlichen Brust.” Die berühmten Worte des großen englischen Dichters Alexander Pope aus dem 18. Jahrhundert enthalten eine tiefe Wahrheit über die menschliche Psyche. Letzten Endes ist es die Hoffnung, die uns am Leben hält. Sie ist es, die uns durch die Prüfungen und Mühen des Lebens trägt.
Selbst in den dunkelsten Momenten, wenn wir uns von Schwierigkeiten auf allen Seiten überwältigt fühlen, ist es dieser hartnäckige Glaube, dass die Dinge schließlich besser werden, der uns die nötige moralische Stärke verleiht, um weiterzuleben und zu kämpfen, auch wenn alle Chancen gegen uns zu stehen scheinen.
Was aber würde passieren, wenn alle Hoffnung erlöschen würde? Eine Welt ohne Hoffnung wäre in der Tat ein dunkler Ort. In einer solchen Welt wäre es unmöglich zu leben. Und wenn man den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nimmt, nimmt man ihnen alles, was von ihrer Menschlichkeit und Würde übrig ist.
Die Beseitigung der Hoffnung lässt nur eine mögliche Reaktion übrig, und diese Reaktion ist Verzweiflung. Menschen können auf Verzweiflung auf unterschiedliche Weise reagieren. Im Grunde stehen ihnen nur zwei Wege offen. Die eine ist der Weg der Passivität, der Apathie und letztlich die Schlussfolgerung, dass das Leben nicht lebenswert ist. Aber es gibt noch einen anderen Weg. Der Mensch ist ein sehr hartnäckiges Wesen und wird nicht bereitwillig den Schluss ziehen, dass es keinen Ausweg gibt. Der zweite Weg ist der Weg zur Revolution.
Ein frohes neues Jahr?
Um Mitternacht, dem Übergang vom 31. Dezember zum 1. Jänner, ist es üblich, seinen Freunden und seiner Familie ein gutes neues Jahr zu wünschen. Das wird in diesem Jahr nicht anders gewesen sein. Der alte Pope hatte ganz recht: Die Hoffnung entspringt ewig der menschlichen Brust.
Also erhoben wir wie immer unsere Gläser und wünschten allen ein glückliches, gesundes und erfolgreiches Jahr, in der Hoffnung, dass 2021 besser werden muss als 2020. Schlechter kann es schließlich kaum werden!
Und doch, und doch… wie viele von uns haben in ihrem tiefen Inneren tatsächlich an diese optimistische Vorhersage geglaubt? Die Wahrheit ist, dass es kaum empirische Belege gibt, die eine solche rechtfertigen.
Die Pandemie wütet immer noch außer Kontrolle und setzt Millionen von Menschen unnötigem Leid und Tod aus. Die Gesamtzahl der Coronavirus-Fälle auf der Welt betrug Ende 2020 82.421.447. Und die Gesamtzahl der erfassten Todesfälle lag bei 1.799.076.
Es besteht kein Zweifel daran, dass diese offiziellen Zahlen die tatsächliche Situation um ein Vielfaches untertreiben. Kann man bei klarem Verstand den offiziellen Statistiken über Menschen, die an dieser schrecklichen Krankheit beispielsweise in Indien gestorben sind, glauben?
Es genügt, auf die eklatanten Fälschungen von Statistiken hinzuweisen, die betrieben werden um die Zahl der COVID-19-Todesfälle in Großbritannien und anderen sogenannten fortgeschrittenen Ländern zu minimieren, um dies deutlich zu machen.
Und da Viren keine Rücksicht auf nationale Grenzen nehmen, bleiben auch die reichsten Staaten nicht verschont. Einige der schlechtesten Werte aller Länder sind in den Vereinigten Staaten zu finden, wo Florida derzeit das Epizentrum der Epidemie ist.
Ein Krankenhaus in Los Angeles wurde mit COVID-19-Fällen so überschwemmt, dass es gezwungen war, die Kranken in einem Geschenkeladen zu versorgen. So sieht die Realität im reichsten Land der Welt aus.
Eine Klassenfrage
Trotzki sagte einmal in Anlehnung an die Worte des großen Philosophen Spinoza, unsere Aufgabe sei es: „nicht zu weinen, nicht zu lachen, sondern zu verstehen.“
Uns wird ständig gesagt, dass wir uns vereinen müssen, um einem gemeinsamen Feind gegenüberzutreten – einem erbarmungslosen, unerbittlichen und unsichtbaren Feind namens COVID-19. „Wir sitzen alle im selben Boot“ – das ist der falsche und heuchlerische Slogan, mit dem die Reichen und Mächtigen unsere Aufmerksamkeit von der offensichtlichen Tatsache ablenken wollen, dass die gegenwärtige Pandemie auch eine Klassenfrage ist.
Bild: Jorge Martin.
Es ist schlicht und ergreifend unwahr, dass „wir alle im selben Boot sitzen“ – im Gegenteil. Die Pandemie hat dazu gedient, die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich aufzudecken: die wahre Bruchlinie, die die Gesellschaft in diejenigen teilt, die dazu verdammt sind, krank zu werden und einen schrecklichen Tod zu sterben, und diejenigen, auf die das nicht zutrifft.
Und auf die Pandemie folgte der tiefste wirtschaftliche Einbruch der Neuzeit. Die Weltwirtschaftskrise hat die USA hart getroffen. 40 Millionen Amerikaner meldeten sich während der Pandemie arbeitslos. Wie immer sind es die Armen, die am meisten leiden.
Im Jahr 2019 berichtete die Fed (die US-Zentralbank), dass vier von zehn Amerikanern nicht genug Bargeld auf ihren Bankkonten hätten, um eine unerwartete Ausgabe in Höhe von 400 Dollar zu decken. Und in den ersten Monaten des Jahres 2020 hat sich diese Situation dramatisch verschlechtert.
Alarmiert durch die dadurch entstehende Gefahr, war die herrschende Klasse gezwungen, Notmaßnahmen zu ergreifen. Der Staat, der nach der Theorie der freien Marktwirtschaft wenig oder gar keine Rolle im Wirtschaftsleben spielen sollte, wurde nun zum einzigen Stützpfeiler des kapitalistischen Systems.
Im März bewilligten die US-amerikanischen Gesetzgeber mehr als 2,4 Mrd. Dollar (1,96 Mrd. Euro) an wirtschaftlichen Erleichterungen für Unternehmen und Haushalte, um die wirtschaftliche Notlage von Millionen von Familien zu lindern. Tatsächlich wurde der größte Teil dieses Geldes für üppige Almosen an die Reichen ausgegeben. Aber das Geld, das den Arbeitslosen gegeben wurde, diente zweifelsohne dazu, die Auswirkungen der Krise auf den ärmsten und verletzlichsten Teil der Gesellschaft zu mildern.
Aber die Unterstützung schwindet seit dem Sommer, und mehrere wichtige Programme – darunter Leistungen für arbeitslose Künstler und Menschen, die länger als sechs Monate arbeitslos sind – sollten Ende Dezember auslaufen. Da die Regierung die Unterstützung zurückgezogen hat, sind immer mehr Menschen von Lebensmittelengpässen bedroht oder geraten mit der Miete und anderen Rechnungen in Rückstand.
Hunger in den USA
Viele Menschen befinden sich jetzt in einer verzweifelten Situation. Nachdem sie plötzlich ihre Arbeit verloren haben, stehen sie kurz davor, auch ihre Wohnung zu verlieren. Sie haben kein Einkommen und nicht genug Geld, um Essen auf den Tisch zu bringen. Im reichsten Land der Welt hungern Millionen von Familien.
Die Ernährungsunsicherheit hat sich seit dem letzten Jahr verdoppelt und den höchsten Stand seit 1998 erreicht, als die Daten über die Ernährungssicherheit von US-Haushalten erstmals erhoben wurden. Einer von acht Amerikanern gab im November an, manchmal oder oft nicht genug zu essen zu haben, so eine aktuelle Umfrage der Erhebung.
Die San Francisco-Marin Lebensmitteltafel, die in einigen der reichsten US-Bezirke – San Francisco und Marin – tätig ist, versorgte etwa 60.000 Haushalte und damit doppelt so viele wie vor COVID. Am 14. Dezember berichtete BBC News:
„Obwohl der Hunger in Amerika nicht neu ist, hat die Pandemie große Auswirkungen gehabt. Ernährungsunsicherheit ist zu einem weit verbreiteten nationalen Problem geworden, das nicht einmal einige der wohlhabenderen Regionen verschont.
Seit Anfang November versorgt die Loudoun Hunger Relief unweit des Trump National Golf Clubs in Virginia, in einer Gegend, die früher eine der niedrigsten Hungerraten des Landes verzeichnete, wöchentlich zwischen 750 und 1.100 Haushalte mit Lebensmitteln – ein Anstieg von 225 % gegenüber dem Wochendurchschnitt vor der Pandemie.
‚Wir sahen Leute, die noch nie zuvor Zugang diese Art von Hilfsmitteln gebraucht hatten‘, sagt Geschäftsführerin Jennifer Montgomery.
‚Es war offensichtlich, dass sie kurz vor ernsthaften Schwierigkeiten standen.'“
„Ich habe keinen Stolz mehr”
Nehmen wir Omar Lightner, einen 42-jährigen LKW-Fahrer in Florida. Er hat im Februar aufgrund der Pandemie seinen Job verloren. Seitdem lebt er mit seiner Frau und seinen Kindern von seinen Ersparnissen in einem Motel in Jacksonville. Ihr Geld geht schnell zur Neige.
„Meine Ersparnisse betrugen 22.000 $ (17.259 €), als wir in das Motel gingen,“ sagte Lightner. „Dann hatten wir nur noch etwa 17.300 $. Der Rest ging für Lebensmittelmarken drauf. Das hat uns sehr geholfen. Aber wir haben zwei Kinder mit schwerem Autismus; da sind Medikamente und Therapien zu bezahlen.“
Während Lightner weiter nach Arbeit sucht, ist seine größte und unmittelbarste Sorge, wie er ein Zuhause für seine Familie finden kann. Sie sind vier Wochen mit der Miete im Rückstand und stehen nun vor der Zwangsräumung.
Als Teil der Räumungspolitik des Motels können Gegenstände, die als nicht lebensnotwendig erachtet werden, aus ihrem Zimmer entfernt werden. Diese Woche war es der Fernseher, den das Paar dringend braucht, um Jamal zu beruhigen, der aufgrund seines Autismus nicht sprechen kann.
„Wir sind eine fünfköpfige Familie, es gibt im Moment keine Unterkünfte, die uns aufnehmen könnten,“ sagte Lightner.
„Ich habe keinen Stolz mehr. Wir sind jetzt so gut wie obdachlos. Und ich war ein Mann, der immer viel Stolz hatte. Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet. Wir hatten immer ein schönes Haus und schöne Autos.
Ich weiß, wie ich aufgewachsen bin – ich musste arbeiten, um diese Dinge zu bekommen. Und das alles wurde mir ohne mein Verschulden weggenommen.“
Das ist das wahre, brutale Gesicht des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Es gibt kein anderes. Am ersten Januar 2021 hatten die Worte „Frohes neues Jahr“ für mindestens 12 Millionen US-Bürger einen bitteren und hohlen Klang.
Ein frohes neues Jahr für die Reichen
Aber hey! Lasssen wir uns nicht unterkriegen. Nicht alle Nachrichten waren schlecht. Inmitten dieses endlosen Meeres aus menschlichem Elend, Leid, Hunger und Tod ging es einigen wenigen Menschen sogar ausgesprochen gut.
In einer Zeit, in der mehr als 40 Millionen Amerikaner sich arbeitslos meldeten, sahen Milliardäre ihr Vermögen um mehr als eine halbe Billion Dollar steigen. Für diese Menschen war 2020 in der Tat ein sehr glückliches Jahr. Und es gibt absolut keinen Grund, daran zu zweifeln, dass 2021 sie noch glücklicher machen wird.
Nehmen wir nur den Fall von Amazon-Chef Jeff Bezos. Er ist der erste Mensch mit einem deklarierten Gesamtvermögen von über 200 Milliarden Dollar. Seit Anfang März, als es in den USA die ersten Todesfälle durch das Coronavirus gab, ist das Vermögen von Mr. Bezos um 74 Milliarden Dollar angeschwollen – ein Grund zum Jubeln!
Mr. Bezos verdient jetzt mehr Geld pro Sekunde als der typische US-Arbeiter in einer Woche. Der durchschnittliche amerikanische Mann mit einem Bachelor-Abschluss wird in seinem Leben etwa 2,2 Millionen Dollar verdienen, Bezos verdient in 15 Minuten etwa 2,2 Millionen Dollar.
Mit seinen 190 Milliarden Dollar ist er so reich, dass ein durchschnittlicher Amerikaner, der 1 Dollar ausgibt, vergleichbar ist mit dem Amazon Vorstandsvorsitzenden, wenn er 2 Millionen Dollar ausgibt. Sein Vermögen ist mehr als doppelt so groß wie das der gesamten britischen Monarchie und wie das BIP ganzer Länder.
Auch war er nicht allein mit seinem Glück. Der Casino-Magnat Sheldon Adelson konnte sein Vermögen um 5 Milliarden Dollar steigern, während Elon Musk einen Zuwachs von 17,2 Milliarden Dollar verzeichnete. Wenn man die Zahlen zusammenzählt, haben Milliardäre in den Vereinigten Staaten ihr Gesamtnettovermögen während der COVID-19-Pandemie bisher um 637 Milliarden Dollar gesteigert.
Wie wir dargelegt haben, kam ein großer Teil ihres neuen Reichtums direkt aus den großzügigen Zuwendungen der öffentlichen Haushalte. Von den riesigen Geldsummen, die von der Regierung zur Bewältigung der Krise ausgegeben wurden, ging der Löwenanteil direkt in die Taschen des reichsten ein Prozents.
Reichenfreundliche Steuergesetze und Schlupflöcher halten dann diese Milliardäre an der Spitze. Und das sind nur die legalen Wege, die die Vermögenden nutzen, um Steuern zu vermeiden. Im Jahr 2017 schätzten Forscher, dass etwa 10 Prozent des weltweiten BIP in Offshore-Steueroasen versteckt sind. Eine Studie aus dem Jahr 2012 ergab, dass ganze 32 Billionen Dollar von den reichsten Menschen der Welt in ausländischen Steuerparadiesen gehalten werden.
Die Kluft zwischen den Reichen und den Habenichtsen hat sich zu einem unüberbrückbaren Abgrund ausgeweitet, der die soziale und politische Polarisierung vertieft und eine explosive gesellschaftliche Mischung erzeugt. Diese Tatsache wurde in den letzten Tagen durch die Ereignisse in Washington eindrucksvoll unterstrichen.
Donald J. Trumps letztes Gefecht
Einen rationalen Einblick in die Arbeitsweise von Donald Trumps verworrenem Gehirn zu erhalten, ist eine Aufgabe, die weitaus größerer Intellekte würdig ist, als sie der Autor dieser Zeilen besitzt. Es ist jedoch nicht völlig unmöglich, eine fundierte Vermutung über seine Motive im vorliegenden Fall anzustellen.
Der Kongress befand sich seit dem Sommer in einer festgefahrenen Situation über ein Corona-Konjunkturprogramm, das etwa 12 Millionen Menschen helfen sollte, denen am 31. Dezember die Streichung von Hilfsleistungen drohte.
Die Republikaner und Demokraten einigten sich schließlich auf einen Kompromissentwurf, der neben anderen Erleichterungen die Arbeitslosenhilfe bis Ende März verlängern sollte. Doch zum Erstaunen aller weigerte sich der Präsident, zu unterschreiben. Trump protestierte nun, dass der Betrag, der den Empfängern gegeben werden sollte, zu gering sei, was offenkundig wahr ist, und dass er auf der Seite der armen Amerikaner gegen einen knauserigen Kongress stehe – was offenkundig falsch ist.
Tatsache ist, dass der miserable Betrag, der beschlossen wurde, das Ergebnis der Mauertaktik der Republikaner war – also Donald Trumps eigener Partei. Wäre er dagegen, hätte er seine Meinung längst kundtun können und sich damit viel Zeit und Ärger erspart. Aber er hat nichts dergleichen getan.
Tatsächlich unterstützte er den ursprünglichen Vorschlag und schwieg bis zum allerletzten Moment, als das Gesetz auf seinem Schreibtisch landete, nur wenige Wochen bevor ihm ein Räumungsbefehl für das Oval Office zugestellt werden sollte. Die beiden Dinge geschahen eindeutig nicht unabhängig voneinander.
Zwei Dinge sind hier sehr deutlich. Erstens: Donald J. Trump hängt sehr an seiner Position als Präsident der größten Macht der Welt und hat es überhaupt nicht eilig, seine Koffer zu packen. Im Gegenteil, er will sich bis zum letzten Moment an die Macht klammern, mit der gleichen Verzweiflung, mit der sich ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert.
Leider ist der Vorrat an Strohhalmen des Präsidenten in den Wochen seit der Wahl stark geschrumpft. In einem verzweifelten Nachhutgefecht, das an Custers letztes Gefecht erinnert, blies Donald Trump ein letztes Mal trotzig ins Horn, um seine Truppen zur Flagge zu rufen.
Bild: Mukul Ranjan.
Zu seinem immensen Leidwesen folgte nur eine Handvoll republikanischer Senatoren dem Aufruf. Selbst seine treuesten Unterstützer in der Hierarchie der Republikanischen Partei zogen nach Abwägung der Kräfte die logische Schlussfolgerung, dass Zurückhaltung der bessere Teil der Tapferkeit ist.
Um das Ganze noch schlimmer zu machen, veröffentlichten einige hinterhältige Whistleblower (ihre Zahl wird von Tag zu Tag größer) eine Tonbandaufnahme des Präsidenten, der versuchte, den Secretary of State von Georgia, Brad Raffensperger, zu zwingen, 11.780 Stimmen zu „finden“, um den Sieg von Joe Biden dort zu kippen. Das war wahrscheinlich ein Faktor, der die republikanischen Senatoren umgestimmt hat. Sie verließen ihn wie Ratten ein sinkendes Schiff verlassen.
Solche Akte feiger Illoyalität sind zutiefst beleidigend für einen Mann, der schon lange nicht mehr an Gehorsamsverweigerung jeglicher Art gewöhnt ist. Die Vorstellung, dass ein Verrat dieses Ausmaßes ungestraft bleiben würde, war völlig undenkbar. Und so bereitete unser Donald, während andere Leute damit beschäftigt waren, ihre Weihnachtsgeschenke einzupacken, eine letzte Weihnachtsüberraschung für seine ehemaligen Freunde und Verbündeten vor – eine, die sie so schnell nicht vergessen sollten. Selbst wenn das bedeuten würde, dass Millionen von armen Amerikanern hungern müssten, würde er als der Präsident in die Geschichte eingehen, der den Armen mehr Geld geben wollte. Das war natürlich eine Lüge; dieser Präsident hat die Kunst des Lügens auf ungesehene Höhen getrieben.
Aber die Hauptsache ist nicht, was wahr ist, sondern was die Menschen glauben, wahr zu sein. Und was die Menschen glauben, wird sich bei der nächsten Präsidentschaftswahl als sehr nützlich erweisen, sollte Donald J. Trump, im Gegensatz zu General Custer, erneut antreten.
Man kann sich die Schadenfreude vorstellen, mit der der Präsident plötzlich seine Hand von dem anstößigen Dokument zurückhielt und damit eine Handgranate in die geschockten Reihen der Republikaner im Kongress schleuderte.
„Hier bitte, meine lieben Freunde! Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!“
Donald J. Trump hatte die Genugtuung zu wissen, dass, selbst wenn er gezwungen sein sollte, das Weiße Haus zu verlassen, er dies mit einem Knall und nicht mit einem Wimmern getan haben wird. Der Schachzug verursachte Bestürzung im Kongress. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte.
Die Kraftprobe
Die bürgerliche Demokratie ist eine sehr zarte Pflanze, die nur in bestimmten, gut genährten Böden gedeihen kann. Sie ist historisch gesehen ein Privileg, das nur die fortschrittlichsten und wohlhabendsten kapitalistischen Nationen innehaben, wo die herrschende Klasse über genügend überschüssigen Reichtum verfügt, um der Arbeiterklasse Zugeständnisse zu machen und dadurch die scharfen Kanten des Klassenkampfes abzustumpfen und einen offenen Konflikt zwischen Arm und Reich zu verhindern.
Für eine sehr lange Zeit – über 100 Jahre im Fall von Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien – gelang es der herrschenden Klasse, ein gewisses Maß an politischem und sozialem Gleichgewicht herzustellen, indem sie nicht durch den Einsatz direkter Gewalt regierte, sondern durch eine Art Gentleman’s Agreement, einen Kompromiss zwischen den antagonistischen Klassen.
Im Falle Großbritanniens wurde dies durch ein System von zwei Parteien – der Konservativen Partei und der Labour Party – erreicht, die sich in regelmäßigen Abständen in der Regierung abwechselten, ohne jemals die Herrschaft des Kapitals herauszufordern. Ein ähnliches Arrangement gab es in den Vereinigten Staaten mit der Teilung der Macht zwischen Republikanern und Demokraten.
In Wirklichkeit war dieser Kompromiss eine Maske, die dazu diente, die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zu verbergen und eine ernsthafte Infragestellung des Status quo zu verhindern. Mit den Worten des großen amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal: „Es gibt eine einzige Partei in diesem Land und sie hat zwei rechte Flügel: Einer davon nennt sich die Demokraten, der andere die Republikaner. Und alle werden sie von den großen Konzernen bezahlt.“ Aber die Krise des Kapitalismus hat alles verändert. Die scharfe und wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hat zu einem Zusammenbruch des alten Konsensus geführt.
Unter der scheinbaren Ruhe an der Oberfläche brodelt überall Unzufriedenheit, die sich in periodischen Ausbrüchen von Volkswut gegen die alte Ordnung, ihre Institutionen, ihre politischen Parteien, ihre Führer, ihre Moral und ihre Werte äußert. Diese Unzufriedenheit hat freilich keinen klaren politischen Ausdruck. Sie ist verworren, inkohärent und kann bisweilen sogar einen reaktionären Ausdruck annehmen.
Die fehlende Klarheit ist kaum überraschend. Sie ist das Ergebnis der Schwäche des subjektiven Faktors – der Tatsache, dass die Kräfte des echten Marxismus für eine ganze historische Periode zurückgeworfen wurden und das Feld allerlei verwirrten Reformisten und Linksreformisten überlassen haben, die, da sie selbst keine klaren Ideen haben, organisch unfähig sind, Lösungen für die brennenden Probleme der Massen zu bieten.
In ihrer Verzweiflung, einen Ausweg aus der Krise zu finden, suchen die Massen einen Ausdruck und ein Ventil für ihre Wut über die Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen diskreditierten sozialen und politischen Ordnung. Diese Unzufriedenheit kann von skrupellosen rechten Demagogen vom Schlage eines Donald Trump ausgenutzt werden.
Aber in solch verworrenen und heterogenen Bewegungen ist es wichtig, dass wir lernen zwischen den reaktionären Aspekten und jenen, die einen widersprüchlichen Protest gegen den Status quo widerspiegeln, zu unterscheiden. Wir dürfen uns dabei nicht von zweitrangigen Faktoren und emotionalen Eindrücken aus der Bahn werfen lassen.
Oberflächliche „Impressionisten wie“ Paul Mason in Großbritannien und viele andere auf der sogenannten Linken sehen international nur die reaktionären Elemente im Trumpismus, die sie dummerweise mit dem Faschismus gleichsetzen, ohne das geringste Verständnis dafür zu zeigen, was Faschismus wirklich ist. Solche Verwirrung kann uns nicht helfen, die wirkliche Bedeutung wichtiger Phänomene zu verstehen.
Dieser Unsinn führt sie direkt in den Sumpf der klassenkollaborationistischen Politik. Indem sie die falsche Idee vom „kleineren Übel“ vorantreiben, laden sie die Arbeiterklasse und ihre Organisationen ein, sich mit dem Klassenfeind zu vereinigen, den bürgerlichen Liberalen, die angeblich für „Demokratie“ stehen.
Schlimmer noch, indem sie ständig auf die angebliche Gefahr des Faschismus hinweisen, entwaffnen sie potentiell die Arbeiterklasse, wenn sie in Zukunft mit echten faschistischen Formationen konfrontiert wird. Wie wir sehen werden, verstehen die seriösen Strategen des Kapitals weitaus besser, was geschieht, als die ignoranten Pseudolinken und Ex-Marxisten wie Paul Mason.
Aber um auf die Ereignisse in Washington zurückzukommen: Im Grunde weisen sie darauf hin, dass die Polarisierung in der Gesellschaft jenen kritischen Punkt erreicht hat, an dem die Institutionen der bürgerlichen Demokratie auf eine Zerreißprobe gestellt werden. Deshalb sind die herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter überall entsetzt über das Verhalten von Donald J. Trump.
Als politischer Stratege ist Trump nicht ernst zu nehmen. Er ist ein ignoranter Empiriker, dessen einziges Lebensziel die Selbstdarstellung und der Erhalt von Macht und Prestige ist. Das ist eigentlich ein sehr einfaches Rezept für einen Mann, der keinerlei erkennbare Prinzipien hat. Und obwohl er nicht besonders intelligent ist, wurde er von seinem Schöpfer mit einer unverzichtbaren Dosis niedriger Bauernschläue ausgestattet.
Trump konnte sich nie mit dem Gedanken anfreunden, sein Amt bei etwas so Vulgärem wie einer Wahl zu verlieren. Er hatte sich bereits im Voraus darauf eingestellt, dass die Ergebnisse manipuliert wurden (welche andere mögliche Erklärung könnte es für das Scheitern geben?). Seine anschließenden Aktionen waren daher völlig vorhersehbar.
Da er sich von seinen republikanischen Parteifreunden verraten fühlte (von denen viele ihn hassen, aber alle ihn fürchten), wandte er sich an seinen einzigen verlässlichen Stützpunkt: seine Massenbasis, die dem Mann trotz allem unerschütterlich treu bleibt, den sie als ihre Stimme und einzige Hoffnung in einem hoffnungslos korrupten und zynischen Washington sehen.
Es war daher kaum verwunderlich, dass er versuchte, diese Massenbasis zu mobilisieren, in einem vielleicht letzten verzweifelten Wurf eines Glücksspielers. Das war zweifellos ein riskantes Unterfangen, aber unser Donald scheint, wie alle Glücksspieler, für riskante Züge zu leben, besonders wenn der Einsatz so hoch ist.
Daraus fließen jedoch gewisse Dinge. Der Mann, der durch sein Handeln alle Verwerfungen in der amerikanischen Gesellschaft vertieft und so etwas wie einen Bürgerkriegszustand zwischen Demokraten und Republikanern geschaffen hat, hat nun seiner eigenen Partei den Krieg erklärt und droht, die republikanische Partei quer durch zu spalten.
Seine manischen Reden zielten eindeutig darauf ab, den bereits wütenden Mob vor dem Weißen Haus anzustacheln, den Kongress anzugreifen und so (so hoffte er) die Bestätigung von Joe Bidens Wahlsieg zu verhindern. Aber es war auffällig, dass sein Hauptziel nicht die Demokraten waren, sondern die Republikaner im Kongress, und insbesondere Vizepräsident Mike Pence, den er aufforderte, die Sitzung zu verhindern.
Zu diesem Zeitpunkt hatten Pence und die anderen wichtigsten Führer der Republikaner jedoch beschlossen, dass es nun reichte. Sie brachen mit Trump und Trump hat mit ihnen gebrochen. Diese Aktionen haben der Republikanischen Partei tiefe Wunden zugefügt, die nicht leicht zu heilen sein werden. Eine offene Spaltung der Republikaner ist keineswegs ausgeschlossen.
Ob Trump vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten noch weitere Tricks in petto hat, ist schwer absehbar. Seine erste Reaktion deutet darauf hin, dass er durch das Sperrfeuer der Angriffe von allen Seiten aus dem Gleichgewicht gebracht wurde und versucht, einen übereilten Rückzug anzutreten. Das wird seine Basis in Verwirrung stürzen, ohne seine Feinde im Kongress zufrieden zu stellen, die seine sofortige Absetzung aus dem Amt fordern.
Eine Sache ist klar: Die herrschende Klasse war alles andere als amüsiert über seinen jüngsten Streich, auf den die Polizei (aus Gründen, die unklar sind) unvorbereitet zu sein schien. Wir können ziemlich sicher sein, dass am Tag der Amtseinführung die Kräfte von Recht und Ordnung mobilisiert werden, um sicherzustellen, dass es keine Wiederholung des gestrigen Chaos geben wird, und dass jeder, der versucht, die Feierlichkeit zu vereiteln, mit einem gebrochenen Schädel belohnt werden wird.
Donald Trump, der endlich begreift, dass das Spiel vorbei ist, verspricht, dass er leise gehen wird. Er tut dies im vollen Bewusstsein, dass die Alternative darin besteht, von seiner republikanischen Truppe aus dem Gebäude zum nächsten verfügbaren Polizeifahrzeug eskortiert zu werden. Immer vorausgesetzt, dass er nicht vorher durch ein neues Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wird – dieses Mal unter dem schwerwiegenderen Vorwurf des „Aufstands“ gegen die Republik.
Natürlich wird das nicht das Ende der ganzen Geschichte sein. Im Gegenteil, das eigentliche Drama hat gerade erst begonnen. Nachdem er zwei Senatssitze in Georgia gewonnen hat, wird Joe Biden nun eine ziemlich sichere Kontrolle über den Kongress haben. Er wird keine Ausrede haben, die Politik, die seine Anhänger erwarten, nicht umzusetzen.
Aber die sich vertiefende Wirtschaftskrise, verschärft durch die kolossale Verschuldung, bedeutet, dass die Biden-Regierung sehr schnell die Hoffnungen jener Millionen enttäuschen wird, die sie als „das kleinere Übel“ gewählt haben. Es wird sich nun eine neue und stürmische Periode des Klassenkampfes auftun, die die amerikanische Gesellschaft von oben bis unten verändern und den Weg für revolutionäre Entwicklungen öffnen wird.
Die Strategen des Kapitals ziehen Schlüsse
Die Folgen davon werden den weitsichtigeren Vertretern der herrschenden Klasse, die ein weitaus klareres Verständnis von Perspektiven haben als die dummen und von unmittelbaren Eindrücken geleiteten „Linken“, die nicht weiter als bis zum Ende ihrer Nase sehen können, immer deutlicher.
Die Financial Times veröffentlichte am 29. Dezember einen Artikel mit dem Titel: „Ein besserer Kapitalismus ist möglich“ [A better form of capitalism is possible]. Er wurde von der Redaktion unterzeichnet und trägt daher den Stempel der redaktionellen Zustimmung einer der maßgeblichen Zeitschriften der Bourgeoisie. Aus diesem Grund lohnt es sich, den Artikel ausführlich zu zitieren.
In ihm können wir Folgendes lesen:
„Die Stille der Weihnachtszeit ist eine Gelegenheit, um sich daran zu erinnern, wie die Weihnachtsgeschichte die Familie Jesu beschreibt: durch absurde Verwaltungsvorschriften auf die Straße geschickt, ohne Unterkunft gelassen und eine Geburt unter unwürdigen Bedingungen.
Wir könnten anmerken, wie gut ihre Prekarität auch auf die Unterschicht in den reichsten Gesellschaften, die die Menschheit je gekannt hat, zutrifft. Die Pandemie hat ein grelles Licht auf die verletzlichen Teile der Arbeitsmärkte der reichen Länder geworfen.
Die meisten von uns hängen – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes – von Menschen ab, die Regale bestücken, Lebensmittel ausliefern, Krankenhäuser reinigen, alte und gebrechliche Menschen versorgen. Doch viele dieser unbesungenen Helden sind unterbezahlt, überarbeitet und leiden unter unvorhersehbaren Arbeitsmöglichkeiten und Unsicherheit, während sie arbeiten.
Die für sie geprägte Wortschöpfung ‚Prekariat‘ ist treffend. In den letzten vier Jahrzehnten hat es die Arbeit nicht geschafft, einer wachsenden Zahl von Menschen ein stabiles und angemessenes Einkommen zu sichern. Dies zeigt sich in stagnierenden Löhnen, schwankenden Einkommen, nicht vorhandenen finanziellen Puffern für Notfälle, geringer Arbeitsplatzsicherheit und brutalisierten Arbeitsbedingungen – bis hin zu solch grotesken Episoden wie die von jener Frau, die aus Angst, eine Schicht zu verpassen, auf der Toilette ein Kind zur Welt brachte.
Viele leiden unter einem steigenden Risiko der Obdachlosigkeit und Epidemien von drogen- und alkoholbedingten Krankheiten. Sozialleistungssysteme können helfen – aber sie können auch bereits gefährdete Menschen in verschlungenen administrativen Zwickmühlen gefangen halten.
Dieses Problem besteht seit langem, hat sich aber im Jahr 2020 stark verschärft. Die meisten Arbeitsplätze im Prekariat erfordern körperliche Anwesenheit für manuelle Servicearbeiten, wodurch die Arbeitnehmer sowohl der Ansteckung mit dem Coronavirus als auch dem Einkommensverlust durch Lockdowns stärker ausgesetzt sind.“
Das zentrale Problem ist hier mit bewundernswerter Klarheit formuliert. Aber was ist die Lösung? Der Autor informiert uns darüber:
„Es ist ein moralischer Imperativ, den Bedürftigsten zu helfen. Aber Menschen aus wirtschaftlicher Unsicherheit herauszuholen, liegt auch stark im Eigeninteresse der Bessergestellten.“
In der Tat lobenswerte Empfindungen! Diese Zeilen erinnern an Charles Dickens berühmte Geschichte „A Christmas Carol“ (Eine Weihnachtsgeschichte), in der der menschenfeindliche, geldgierige Kapitalist Scrooge allmählich davon überzeugt wird, sich zu bessern, etwas von seinem Reichtum mit den Armen und Schwachen zu teilen und im Allgemeinen ein durch und durch angenehmer und freundlicher alter Herr zu werden.
Dieses sentimentale Ende ist zweifelsohne der schwächste Teil der Geschichte und vermittelt nur die frommen Wünsche und Tagträume des Autors. Der wirklich wertvolle Teil ist der Anfang des Geschichte, der die wahre Moral des Kapitalismus genau beschreibt.
Die Autoren des FT-Artikels scheinen sich der Vergeblichkeit jedes Versuchs unangenehm bewusst zu sein, an die bessere Natur der obszön reichen Minderheit zu appellieren, die die Gesellschaft mit der Begründung eines angeblichen „moralischen Imperativs, den Bedürftigsten zu helfen“ dominiert.
Das wusste schon Charles Dickens, der die vergeblichen Versuche gutmeinender Menschen beschreibt, von Scrooge eine Spende für eine weihnachtliche Wohltätigkeitsveranstaltung zu erhalten:
„Gibt es keine Gefängnisse?” sagte Scrooge. „Und die Armenhäuser?”
„Es gibt sie immer noch,” antwortete der Herr. „Ich wünschte, sie müssten weniger in Anspruch genommen werden.“
„Viele können dort nicht hingehen; und viele würden lieber sterben.“
„Wenn sie lieber sterben würden,“ sagte Scrooge, „so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung verminderten.“
Hier haben wir die authentische Stimme des Kapitalismus: die kalte, berechnende Stimme der Marktwirtschaft, die Stimme des reaktionären Malthus: die wirkliche niederträchtige, habgierige, egoistische und grausame Stimme der Männer und Frauen des Geldes – die sich von Dickens‘ Tagen bis in die heutige Zeit nicht geändert haben.
Da der Autor die Vergeblichkeit erkennt, an die edleren Instinkte der Kapitalisten zu appellieren, appelliert er an ihre Eigeninteressen (ihre Gier und ihren Egoismus). Hier sind wir insgesamt auf festerem Boden!
„Es ist nicht nur so, dass die Bessergestellten am meisten zu verlieren haben, wenn die anhaltende wirtschaftliche Polarisierung zu einer Ablehnung des Kapitalismus führt. Sie haben auch viel zu gewinnen, wenn sie sich damit befassen.„
Aber keine noch so große Moralpredigt wird bei diesen Kreaturen etwas bewirken, so wie sie auch bei Scrooge keine Wirkung hatte. Was ihn dazu brachte, seine Meinung zu ändern, waren nicht moralische Imperative, sondern Angst – die Angst und Furcht, die von den Geistern erzeugt wurde, die Dickens schickte, um ihn heimzusuchen.
Deshalb trifft der Autor des FT-Artikels die kluge Entscheidung, die Bürger zu erschrecken, indem er sie mit den unvermeidlichen Konsequenzen der gegenwärtigen Situation konfrontiert. Das ist eine weitaus beängstigendere Aussicht als der Geist von Weihnachten, dessen Erscheinen bislang aussteht:
„Gruppen, die vom wirtschaftlichen Wandel zurückgelassen wurden, kommen zunehmend zu dem Schluss, dass sich die Verantwortlichen nicht um ihre missliche Lage kümmern – oder schlimmer noch, die Wirtschaft zu ihrem eigenen Vorteil gegen diejenigen am Rande manipuliert haben.
Langsam aber sicher bringt das Kapitalismus und Demokratie in Spannung zueinander. Seit der globalen Finanzkrise hat dieses Gefühl des Verrats einen politischen Gegenangriff gegen die Globalisierung und die Institutionen der liberalen Demokratie angeheizt.
Der Rechtspopulismus mag von dieser Gegenreaktion profitieren, wobei er die kapitalistischen Märkte bestehen lässt. Aber da er seine Versprechen an die wirtschaftlich Enttäuschten nicht einhalten kann, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Mistgabeln gegen den Kapitalismus selbst und gegen den Reichtum derer, die von ihm profitieren, hervorgeholt werden.“ (Meine Hervorhebung, AW)
Oh ja, die ernsthaften bürgerlichen Strategen verstehen die revolutionären Implikationen viel besser als die kurzsichtigen Reformisten. Sie können sehen, dass die heftigen Schwankungen der öffentlichen Meinung nach rechts sehr leicht die Vorbereitung für noch heftigere Schwankungen nach links sein können, dass die unzufriedenen Massen (bewaffnet mit Mistgabeln, um Analogien mit der Französischen Revolution oder den Bauernaufständen anzuregen) sich in eine antikapitalistische Richtung wenden können.
Der Artikel fährt fort:
„Die Epidemie von schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsplätzen spiegelt das Versagen wider, die fortschrittlichsten Produktionsmethoden von der wirtschaftlichen Vorhut bis zu ihrem Hinterland zu verbreiten. Allein die Existenz eines Prekariats beweist, dass Ressourcen – menschliche, physische und organisatorische – verschwendet werden.“
„Eine polarisierte Wirtschaft ist nicht nur ungerecht, sondern auch ineffizient.“
Ja, all dies ist vollkommen richtig. Das kapitalistische System ist in der Tat verschwenderisch und ineffizient. Das wissen wir schon seit sehr langer Zeit. Es muss daher durch ein anderes System ersetzt werden – eines, das auf einer harmonischen, rationell geplanten Wirtschaft basiert, in der die treibende Kraft die Befriedigung der Bedürfnisse der Vielen ist und nicht der wahnsinnige Wettlauf um obszönen Reichtum für die Wenigen.
Diese Schlussfolgerung ist völlig unausweichlich. Aber es ist gänzlich jenseits des geistigen Horizonts unseres wohlmeinenden Autors, der schließt (ohne irgendwelche Gründe zu nennen), dass: „die Alternativen für alle schlechter“ sind.
Warum das so sein soll, wird nie erklärt. Der Autor kann nichts über dem Tellerrand des bestehenden kapitalistischen Systems sehen und träumt deshalb davon, es zu etwas Besserem zu reformieren. Aber der Kapitalismus kann nicht reformiert werden, wie es sich die dummen Reformisten vorstellen. Sie halten sich für Realisten, doch in Wirklichkeit sind sie die schlimmste Art von Utopisten.
Um den Kapitalismus zu retten, so sagt er, müssen seine Anhänger „seine gröberen Kanten abschleifen“.
„Der Wind dreht sich“, verkündet er triumphierend:
„Politiker von Joe Biden bis Boris Johnson haben das Mandat, ‚eine bessere Zukunft aufzubauen‘; die Hüter der ökonomischen Orthodoxie haben die Ansicht über Bord geworfen, dass Ungleichheit der Preis für Wachstum ist. Der Kapitalismus kann dazu gebracht werden, allen Menschen Würde zu sichern.“
Was für ein wunderschönes Bild hier gemalt wird!
Alles reduziert sich also darauf, von einer anderen Art des Kapitalismus zu träumen – einem netteren, gütigeren, humaneren Kapitalismus, so wie Dickens von einem netteren, gütigeren, humaneren Scrooge träumte. Unnötig zu sagen, dass der eine Traum genauso vergeblich und utopisch ist wie der andere.
Warum wir Optimisten sind
„Taken all in all, so hat die Crisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt” (Marx Briefe an Engels, 22 Februar 1858)
Das kapitalistische System ist krank, todkrank. Die Symptome dafür sind sehr deutlich. Unter der Oberfläche brodelt es überall vor Zorn, Wut, Bitterkeit und Hass auf das bestehende System und seine heuchlerische Moral, Ungerechtigkeit, unerträgliche Ungleichheit und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid.
Die alten Institutionen, die einst mit Respekt betrachtet wurden, werden nun von den Massen, die sich verraten und vernachlässigt fühlen, mit äußerster Verachtung betrachtet. Politiker, Richter, Polizei, die Medien, die Kirchen – sie alle werden als fremd und korrupt angesehen.
Die Institutionen der formalen bürgerlichen Demokratie basierten auf der Annahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in überschaubaren Grenzen gehalten werden könnte. Aber das kontinuierliche Wachstum der Klassenungleichheit hat ein Ausmaß an sozialer Polarisierung geschaffen, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde.
Die traditionellen Mechanismen der bürgerlichen Demokratie werden bis an ihre Grenzen – und darüber hinaus – auf die Probe gestellt. Das hat sich bei den Ereignissen in den USA im letzten Jahr sehr deutlich gezeigt.
Die spontanen Aufstände, die nach der Ermordung von George Floyd das Land überrollten, und die darauf folgenden beispiellosen Ereignisse vor und nach den Präsidentschaftswahlen markierten einen Wendepunkt in der gesamten Situation. Hier zeichnet sich im Keim die revolutionäre Entwicklung der Zukunft ab.
Das Jahr 2021 wird ein Jahr wie kein anderes sein. Wird es ein glückliches neues Jahr sein, wie die Optimisten vorhersagen? Es wird natürlich ein glückliches neues Jahr für diese winzige Minderheit sein, die Grund zum Glücklichsein hat – das weniger als 1 Prozent der Bevölkerung, das unbegrenzte Kontrolle über den von der großen Mehrheit produzierten Reichtum ausübt.
Aber für die Mehrheit kann von einem glücklichen neuen Jahr keine Rede sein. Für sie kann die Zukunft im Kapitalismus nur eine düstere sein. Dennoch bleiben wir hartnäckig und trotzig optimistisch in Bezug auf die Zukunft – nicht die Zukunft des kapitalistischen Systems, sondern die Zukunft des revolutionären Klassenkampfes, der dazu bestimmt ist, das System ein für alle Mal zu stürzen.
Der Weg in eine glückliche Zukunft hängt von einem grundlegenden Bruch mit der Vergangenheit ab. Der Weg, der vor uns liegt, wird ein harter sein. Die Arbeiterklasse wird eine sehr harte Schule durchlaufen. Aber aus dieser Schule wird sie die notwendigen Lehren ziehen.
Nach einer langen Periode relativer Untätigkeit streckt die Arbeiterklasse ihre Glieder, wie ein Athlet, der sich auf einen entscheidenden Wettkampf vorbereitet. Das, und nur das, gibt uns Hoffnung und Optimismus für die Zukunft der Menschheit.