Die Welle des Klassenkampfes in Lateinamerika hat nun auch Peru erfasst. Anfang November wurde Präsident Martin Vizcarra abgesetzt. Wenige Tage später musste auch sein designierter Nachfolger zurücktreten. Die Proteste kommen nicht zur Ruhe. Vera Kis über die Hintergründe der anhaltenden Regierungskrise.
Anfang November 2020 hatte das Parlament Präsident Vizcarra wegen „permanenter moralischer Unfähigkeit“ abgesetzt. Das Establishment warf ihm Korruption vor, allerdings weil es selbst befürchtet dieser belangt zu werden. Gegen mehr als die Hälfte der ParlamentarierInnen (68 von 130) wird wegen Korruption ermittelt. Vizcarra hingegen heftete sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen, daher wollte die politische Kaste ihn loswerden.
Die Proteste anlässlich der Absetzung Vizcarras waren vor allem von der Jugend geprägt. Einige Tage Massendemonstrationen lösten in den Eliten Angst und Schrecken aus. Es darf nicht vergessen werden, dass im Jahr 2000 die Diktatur Fujimoris ebenfalls durch Massenproteste beendet worden war. (Damals wurde die Bewegung betrogen, indem nur das Gesicht an der Spitze ausgetauscht wurde, um das Regime als Ganzes in Takt zu halten.)
Der Fisch stinkt am Kopf
Als Ersatz für Vizcarra wurde Parlamentspräsident Manuel Merino de Lama eingesetzt. Dieser repräsentiert den reaktionärsten Teil der peruanischen Bourgoisie, ist selbst Viehzüchter mit Kontakten zu Opus Dei und der Bergbauindustrie. Der Plan der Bürgerlichen war klar: Die eigene Korruption verbergen und weitere Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung durchführen. Zumindest in diesem letzten Punkt besteht Einigkeit mit der abgesetzten Regierung, aber die Massen antworteten sofort mit Demonstrationen. Es gab zwar einzelne Parteien, die diese Demos unterstützten, aber insgesamt handelte es sich um einen spontanen Wutausbruch der arbeitenden Menschen und der Jugend.
Viele Transparente machten klar, dass die Menschen genug haben von Korruption, unglaubwürdigen PolitikerInnen, dem totalen Missmanagement der COVID-Krise und in Wirklichkeit von den Eliten und ihrem ganzen System. Auf vielen Spruchbändern wurde zum Ausdruck gebracht, dass man nicht zur Unterstützung Vizcarras auf die Straße gehe, sondern für eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse.
COVID und Korruption
Peru wurde von der Pandemie extrem hart getroffen. Ein Drittel der PeruanerInnen haben überhaupt keine Krankenversicherung und die Übersterblichkeit in der ersten Jahreshälfte lag mit 34.000 Menschen weit über den veröffentlichten offiziellen COVID-Todeszahlen. Die Sauerstoffversorgung ist durch die deutsch-amerikanische Linde-Group monopolisiert, ihr Teilunternehmen Praxair versorgt 80 Prozent der Krankenhäuser. Bereits im Sommer konnte die Firma nicht genug liefern und viele verzweifelte Menschen kauften und kaufen daher Sauerstoff für ihre erkrankten Verwandten auf dem Schwarzmarkt.
Die Korruption ist allgegenwärtig und nicht die Ausnahmeerscheinung: Alle vergangenen Präsidenten wurden dafür verurteilt. Ein jeder von ihnen war in den Skandal rund um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht verwickelt. Laut dem US Department of Justice zahlte Odebrecht etwa 788 Millionen Dollar an Schmiergeldern für die Bewilligung öffentlicher Bauprojekte in elf lateinamerikanischen Ländern sowie Angola und Mozambik. In Peru geht aber sogar die Korruption über das übliche Ausmaß hinaus. Fujimori sitzt im Gefängnis, verurteilt zu 25 Jahren Haft wegen Mordes, Geldwäsche und Korruption.
Sein Nachfolger Alejandro Toledo ist ebenfalls verurteilt. Alan García beging 2019 Selbstmord und entging damit einem Prozess wegen Bestechung. Ollanta Humala ist auf Bewährung auf freiem Fuß, aber ihm wird eine Verstrickung in den mit dem Odebrecht-Schmiergeld verknüpften brasilianischen Lava Jato-Skandal vorgeworfen.
Sein Nachfolger im Amt, Pedro Pablo Kuczynki, wurde 2018 des Amtes enthoben und unter Hausarrest gestellt; wegen Geldwäsche. Odebrecht hat unter dem Druck von Ermittlungen die Spenden für die Wahlkampagnen der vergangenen Präsidenten veröffentlicht: Für jeden einzelnen Kandidaten der letzten zwanzig Jahre zahlte die Firma zwischen 300.000$ (Kuczynski, 2011) und 3 Mio.$ (Humala).
Massenproteste
Am Samstag, 14. 11. fand eine riesige landesweite Demo statt. Die Repression war groß und es wurden mindestens zwei Jugendliche durch die Polizei getötet und hunderte Menschen verletzt, massenweise Minderjährige festgenommen. Die Jugendlichen auf den Straßen begannen sich mit selbstgebastelten Schildern vor der Polizei zu schützen. Auch der Gewerkschaftsdachverband CGTP rief zu Massenaktionen auf. Konfrontiert mit einem regelrechten Volksaufstand, wurde Merino nach nur fünf Tagen vom Establishment fallen gelassen. Die Armeeführung verweigerte ihm die Unterstützung, obwohl sie zuvor Grünes Licht für die Absetzung Vizcarras und die Einsetzung Merinos gegeben hat. Angesichts der zornigen Reaktion der Massen gerieten die Bürgerlichen in Panik, da sie den Sturz des gesamten Regimes fürchten mussten. Schnell zauberten sie Fransisco Sagasti aus der Tasche und wählten ihn zum neuen (Übergangs-)Präsidenten. Nach zwei Tagen ohne Staatschef bekam Peru am 16.11. also wieder einen Präsidenten. Auch Sagasti ist ein Vertreter der gleichen korrupten Eliten: Er machte seine Karriere bei der UNO und der Weltbank. Als Liberaler einer recht jungen Partei ist er aber noch nicht offensichtlich in Korruption involviert und er hat eine weiße Weste bezüglich der Absetzung Vizcarras.
Die anhaltendenden Massenproteste jagten den Herrschenden einen solchen Schrecken ein, dass das Parlament am 4.12. sogar ein jahrelang umstrittenes Gesetz zurücknahm, das die Bezahlung von LandarbeiterInnen unter dem Mindestlohn erlaubte. Vizcarra hatte dieses Gesetz von Fujimori erst kürzlich bis 2031 verlängert. Nachdem LandarbeiterInnen die Fernstraße Panamericana blockiert hatten, konnte die Bewegung damit einen Teilsieg gegen die Eliten erringen.
Führung
In der Bewegung findet der Slogan nach einer Verfassungsgebenden Versammlung großen Anklang. Die Linke (CGTP und die Frente Amplio) schüren diese Illusion und sprechen von der Notwendigkeit eines neuen „Sozialpaktes“. Das Problem mit beiden Slogans ist, dass sie nicht über den Kapitalismus hinausgehen: Weder eine neue Verfassung noch ein „Sozialpakt“ können annehmbare Löhne, ein hochwertiges Gesundheits- und Sozialsystem, hochwertige Bildung und Wohnungen für alle garantieren. Diese Dinge sind für ein abhängiges kapitalistisches Land – erst recht unter den Bedingungen der aktuellen Krise – ein Ding der Unmöglichkeit. Korruption ist nicht der Grund der Krise, sie ist eine Funktionsweise des Kapitalismus. Die peruanische Oligarchie ist Zeit ihrer Existenz der Brückenkopf für die imperialistische Ausbeutung des Landes mit eigener Gewinnbeteiligung. Die Grenzen zwischen normalem Wirtschaften, Lobbying und Korruption sind fließend.
Wer eine wirkliche Veränderung will, muss mit dem Kapitalismus brechen. Ohne Enteignung der 40 Familien, die das Land beherrschen, wird es keinen Fortschritt geben. Die Jugend und die arbeitende Bevölkerung werden wieder auf die Straße gehen müssen; solange, bis sie es schaffen, die Macht selbst in die Hand zu nehmen und die Korruption durch Arbeiterkontrolle zu bekämpfen.
(Funke Nr. 189/10.12.2020)