Wir feiern heute den Todestag von Andre Breton, einem der außergewöhnlichsten literarischen Vertreter des Surrealismus. Er war stets bemüht, Kunst und revolutionäre Politik zu verbinden und hat darüber hinaus für eine Weile mit Leo Trotzki zusammengearbeitet.
Gegenwärtig, da sich der Kapitalismus in einer Sackgasse und einem Zustand des Niedergangs befindet, betrifft die Krise des Systems jede Form und jeden Aspekt des menschlichen Lebens. Die Produktivkräfte stagnieren, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betreffen Millionen und die soziale Ungleichheit tritt deutlicher zu Tage als je zuvor. Krieg und Terrorismus sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Selbst in den wohlhabendsten und „zivilisiertesten“ Ländern hat die Barbarei Einzug gehalten – so geschehen in New Orleans.
Die Fortdauer des Kapitalismus droht, sämtliche Grundlagen unserer Kultur und Zivilisation zu unterminieren. Wie könnten also in Zeiten wie diesen Kunst und Literatur davon unbeeinflusst bleiben? Die Idee, wie sie erstmals von Trotzki und Breton formuliert wurde, nämlich, Kunst und Revolution zu verbinden, beweist und behält bis heute ihre volle Bedeutung und Gültigkeit.
Der Surrealismus beschreibt einen widersprüchlichen, unlogisch erscheinenden Blick auf die Realität. Er versucht, die Elemente der Gewalt und Unkontrollierbarkeit auszudrücken, die hinter der Fassade bürgerlicher Zivilisation lauern. Die höflichen Manieren und der „gute Geschmack“ der bürgerlichen Gesellschaft sind nämlich in Wahrheit nicht mehr als eine Fassade, bestrebt, schreckliches Leid, Ausbeutung und Unterdrückung zu verbergen. Der Surrealismus enttarnt diese höfliche Heuchelei und offenbart die hässliche und abstoßende Wirklichkeit, die sich dahinter verbirgt.
Es grenzt beinahe an Ironie, dass ausgerechnet jener Mann, dessen Name landläufig am häufigsten mit diesem revolutionären Genre assoziiert wird, ein unterwürfiger Verteidiger des zeitgenössischen Systems, ein politisch Rechter, ein Bewunderer Hitlers und Francos, ein Monarchist und Lakai des wohlhabenden Establishments war – die Rede ist von Salvador Dalí. Luis Bunuel hingegen war ein aufrichtiger Revolutionär. Er fiel in Ungnade, nachdem er einen atheistischen Film produziert hatte, einen Film, von dem sich Dalí selbstverständlich distanzierte – Bunuel dankte ihm dies mit seinen Fäusten.
Im Gegensatz zu Dalí war Bunuel ein Gegner von Establishment, Religion und Kirche. Politisch stand er dem Anarchismus nahe, wohl jene Überzeugung, die der Weltanschauung des Surrealismus am ehesten entsprach. Breton war es schließlich, der den Surrealismus dem Marxismus näher brachte. 1937 schrieb er gemeinsam mit Trotzki ein Manifest, „Das Manifest für eine unabhängige, revolutionäre Kunst“. Dieses behält bis heute seine unangefochtene Richtigkeit.
Die Kunstform des Surrealismus beinhaltet noch andere Elemente, so etwa die Vorstellung, dass alles vergänglich, unbeständig und veränderbar ist. Diese Auffassung erklärt auch, warum Tod und Verwandlung eine solch große Rolle in ihr spielen. Hier erkennen wir auch die Gegenwart eines der grundlegenden dialektischen Konzepte: die Idee einer konstanten Veränderung, die die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt, in der die Widersprüche im Zentrum jeder Sache selbst zu finden sind und in der nie etwas so ist, wie es scheint.
Dass die Wiege des Surrealismus in katholischen Ländern wie Spanien, Frankreich und Italien liegt, kommt nicht von Ungefähr. Es ist kein Geheimnis, dass fanatischer Katholizismus gleichzeitig sein Gegenstück in Form starker, anti-klerikaler Bewegungen hervorbringt. In jeder größeren revolutionären Auflehnung in diesen Ländern kam es zeitgleich zu einem Ausbruch kirchenfeindlicher Aktivitäten. So etwas hätte in den protestantischen Ländern Nordeuropas niemals passieren können, hat doch dort die bürgerliche Revolution schon früher mit der katholischen Kirche abgerechnet: Die kalte Logik des Bürgertums hatte schon längst die irrationale Obskurität der Kirche verbannt. In den südlichen Staaten Europas hingegen konnte sich die Kirche als Götzenbild etablieren, das bis heute nicht überwunden wurde.
Wie der Name bereits impliziert, versucht der Surrealismus unter die Oberfläche zu blicken, hinter die Fassade zu schauen und die Essenz einer Erscheinung zu begreifen. Das kalte, geistlose nordeuropäische Gemüt hingegen – geprägt von einer langen Geschichte empirischen Denkens – begnügt sich stets mit „dem Gegebenen“, mit „den Dingen, wie sie nun mal sind“. Und das, obwohl ‚die Dinge, wie sie sind’ sich sehr häufig als anders herausstellen als zuvor angenommen.
Ja, die Welt des Surrealismus ist eine sonderbare Welt, eine Welt, in der „normale“ Dinge und Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Doch in Wahrheit ist es der Kapitalismus, der jedes natürliche Verhältnis in sein Gegenteil verkehrt. Er birgt in sich selbst einen irrationalen und widersprüchlichen Charakter. Diese Widersprüche kann die Kunst des Surrealismus wunderbar ausdrücken. Aufgelöst werden können sie jedoch nur durch die sozialistische Revolution.
Welche Aufgabe haben KünstlerInnen in der gegenwärtigen Gesellschaft? Einfacher wäre es, zu fragen, welche sie nicht haben. Ein/e wahre/r KünstlerIn darf nicht am Rande warten, während die großen Kämpfe um die Zukunft und die Seele der Menschheit ausgetragen werden. Kunst, die sich selbst von der Gesellschaft isoliert und ihrem Schicksal gleichgültig gegenübersteht, kann niemals nach Großem streben. Solch eine Kunst wird lediglich in den Niederungen der Geschichte dahindümpeln. Sie wird nie die Gipfel erklimmen.
Große Kunst muss sich mit großen Belangen auseinandersetzen. Ein/e wahre/r KünstlerIn kann dem Schicksal seiner/ihrer Mitmenschen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Er/sie muss von Natur aus ein/e RevolutionärIn sein. KonformistInnen und Ja-SagerInnen, denen es genügt, mit der Herde mitzulaufen, werden niemals Kunst und Literatur von Bedeutung schaffen.
Kunst ist verpflichtet, ihre Stimme laut und deutlich gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Lügen und Heuchelei in all ihren Erscheinungsformen zu erheben. Sie muss die Möglichkeit auf ein besseres Leben und eine bessere Welt aufzeigen. Es ist unbedeutend, ob ihre Nachricht Eindeutigkeit vermissen lässt, ob sie unvollständig oder unausgeglichen ist, ob sie nur speziell auf Dieses oder Jenes eingeht – Kunst ist weder Politik noch Wissenschaft. Sie hat ihre eigene Identität und spricht mit der ihr eigenen Stimme. Auch wenn sie eine leidenschaftliche Haltung gegenüber den großen Fragen der Menschheit einnimmt, die Kunst muss sich selbst immer bedingungslos treu bleiben.
Kunst ist in der Lage, voreingenommen und revolutionär zu sein, ohne je zur bloßen Propaganda zu verkommen. Sie muss von allen Einschränkungen befreit sein. Sie darf keinen Meister akzeptieren, sei es die Kirche oder die Moschee, der Staat oder die Wirtschaft. Der/die KünstlerIn muss frei sein, seinen/ihren Gefühlen und Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. Diese künstlerische Freiheit ist unvereinbar mit dem Kapitalismus, in welchem Banken und Monopole im Sinne der eigenen Profitinteressen entscheiden, was produziert wird – seien es T-Shirts oder Musik, Kunst und Literatur.
Kunst wird nur in einer Gesellschaft frei sein, in der alle Männer und Frauen frei sind und in der monetäre Beziehungen durch wirkliche, menschliche Beziehungen ersetzt werden: im Sozialismus. Nur in einer Gesellschaft, die auf demokratischer und ausgeglichener Planung der Produktivkräfte basiert, gewinnen die Menschen die Kontrolle über ihr Leben und Schicksal. Nur in einer solchen Gesellschaft wird die Kunst den Stempel der Sklaverei verlieren und den Rang menschlicher Kunst einnehmen.
In der Klassengesellschaft hat auch die Kunst Klassencharakter. Sie neigt dazu, von der Gesellschaft isoliert zu werden und wird nur allzu oft als etwas Sonderbares, Fremdes und den meisten Menschen Fernliegendes angesehen. Nur indem wir die materielle Basis zerstören, in der diese Entfremdung wurzelt, können wir jene Chinesische Mauer niederreißen, die Kunst und Gesellschaft trennt.
Trotzki hat einmal geschrieben: „Wie viele Aristoteles hüten Schweine? Wie viele Schweinehirten sitzen auf einem Thron?“ Indem er die Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit aufhebt, wird der Sozialismus einmal und für alle Ewigkeit jene Tür öffnen, die den Menschen für so lange Zeit den Zugang zu Kunst, Wissenschaft, Kultur und Regierung verwehrt hat. Es wird zu einer neuen Renaissance kommen, die die Errungenschaften des antiken Athen und des Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts in den Schatten stellen wird.
Die bestmögliche Entwicklung der Kunst ist unvereinbar mit allen Arten der Einseitigkeit, einschließlich der nationalen Eindimensionalität. Der Surrealismus entsprang einer internationalen Bewegung, die das Vorhandensein gemeinsamer Gefühle und Sorgen auf globaler Ebene reflektiert hat. Dies lässt bereits erahnen, wie sich in Zukunft im Sozialismus tatsächlich eine Weltkultur und Kunst entwickeln werden.
Das großartige kulturelle Erbe Europas ist schon vor langer Zeit in einer Sackgasse gelandet – eine Tatsache, die den langen Niedergang des europäischen Kapitalismus widerspiegelt, der sich gegenwärtig mit neueren, dynamischeren Gegnern konfrontiert sieht. Die alte Welt hat nichts Interessantes mehr zu sagen. Der Mittelpunkt der Weltgeschichte hat sich – wie Trotzki es vorausgesehen hat – vom Mittelmeer an den Atlantik verlagert, um sich nun in Richtung Pazifik zu bewegen, wo sich die Zukunft der gesamten Welt entscheiden wird.
Die alten, antiquierten Grenzen, die die Menschen voneinander trennen, haben schon lange ihre historische Sinnhaftigkeit verloren. Sie hemmen den menschlichen Fortschritt im gleichen Ausmaß, wie die kommunalen Grenzen dies im Feudalismus taten. Ihre Bestimmung ist es, weggefegt zu werden und zweifellos wird es so geschehen. Besonders dringlich ist dies in Lateinamerika, diesem wunderbaren Kontinent, der über alles Nötige verfügt, um das Paradies auf Erden zu schaffen – der aber leider durch 200 Jahre Sklaverei und Armut balkanisiert und abgewertet wurde.
In einer sozialistischen Welt wird die Weisheit der lateinamerikanischen Völker eine unersetzliche Ingredienz in einer gemeinsamen Weltkultur sein – sobald die Menschheit ihre Spaltungen überwunden und als Gemeinschaft zusammengefunden hat. Die großen Traditionen der Maya und der Azteken, der Inka und aller anderen Völker des Kontinents werden eine Wiedergeburt auf einem noch nie dagewesenen Niveau erleben.
Wie wird das Wesen der neuen sozialistischen Kunst sein? Es ist unmöglich, dieses vorauszusehen und es ist auch nicht an uns, zukünftige Generationen zu belehren. Kunst wird immer den ihr innewohnenden Regeln folgen und sich nicht an vorangegangene Theorien halten. Vielmehr werden sie den Wünschen und Bedürfnissen jeder einzelnen Generation entsprechen. In einem können wir jedoch sicher sein: einen Mangel an Vielseitigkeit wird es nicht zu beklagen geben. Hunderte verschiedene Schulen werden wetteifern und diskutieren und zwar in einer Schule der Demokratie, in der es nicht eine handvoll schöngeistiger Wichtigtuer geben wird, sondern Millionen von Menschen. Daraus wird eine neue und überlegene Kultur entspringen, die alles, was wir jemals gesehen haben, bei Weitem übertreffen wird.
Es ist die Zukunft, in deren Namen wir kämpfen. Und in diesem Kampf müssen die Künstler von Heute ihre rechtmäßigen Plätze einnehmen – an vorderster Front in der Schlacht um den Sozialismus.
Wir schließen mit einem Zitat aus dem „Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst“:
„Unsere Ziele:
Die Unabhängigkeit der Kunst – für die Revolution!
Die Revolution – für die völlige Befreiung der Kunst!“
Dieser Artikel stammt aus der Feder von Alan Woods und wurde 2005 zum Todestag von Andre Breton veröffentlicht.