Der Tod des Busenwunders Lolo Ferrari und der Start der Serie „Big Brother“ sind nur Ausdruck einer allgemeinen Tendenz unserer Alltagskultur. Menschenwürde und Individualität scheinen, immer weniger Rolle zu spielen. Was von vielen als „Untergang des Abendlandes“ oder „Kulturverfall“ gewertet wird, findet aber erstaunliche Parallelen in der Geschichte.
Jede Gesellschaftsform hat ihr Idealbild des menschlichen Zusammenlebens. Dieses Bild wird uns heute nicht zuletzt im Vorabendprogramm vorgegeben. In Tool time, Bill Cosby, Rosanne und Gute Zeiten schlechte Zeiten sehen wir Familien mit einem Haus, zahlreichen Kindern, die Eltern lieben sich, und es finden sich Andeutungen, dass ihr Sexualleben spannend und zufriedenstellend ist.
Die Realität sieht jedoch anders aus. Die Intensivierung der Arbeit, die Ausdehnung des Arbeitstages und steigende Unsicherheit durch drohende Arbeitslosigkeit erzeugen gewaltigen Stress. In der Arbeit aufgebaute Aggressionen werden häufig in der Familie ausgelassen. Sinkende Löhne und Sparpakete machen die Situation für Arbeitnehmerfamilien nicht leichter. Aggressionen, Sorgen und Stress sind keine Basis für ein zufriedenstellendes Sexualleben.
Sexuelle Perversion
Pornographie und Prostitution gab es zu jeder Zeit. Erschreckend ist allerdings das Ausmaß der krankhaften Formen der Sexualität: Kinderpornoringe mit Kunden bis in die höchsten Kreise von Kirche und Staat, Internetsekten, die sich Körperteile amputieren, weil sie das erotisch finden. Es wäre aber falsch vom Untergang des Abendlandes zu sprechen. Wenn dem nämlich so wäre müsste das Abendland schon oft untergegangen sein. Egon Friedell meint zum Beispiel, dass zu keiner Zeit die pädophile Knabenliebe so verbreitet gewesen ist wie im Barock, also zu einer Zeit, als das Feudalsystem mit seiner Kultur in den letzen Zügen lag.
Die zunehmende Inhaltslosigkeit der zwischenmenschlichen Beziehung von Mann und Frau führen zu einer Betonung der äußeren Form. Verstümmelnde Schönheitsoperationen sind Ausdruck dieser Tendenz in Mode und Frauenbild. Eine andere nicht weniger grausame Folge sind die zunehmenden Fälle von Magersucht. Mädchen haben immer mehr Angst vor dem Frausein und den damit verbundenen ästhetischen und gesellschaftlichen Vorschriften.
Die Überbetonung der Form erinnert sofort an Barock oder Rokoko. Und tatsächlich schnürten sich im Barock die Frauen die Taille ein, bis sie in Ohnmacht fielen – das Fettabsaugen war noch nicht erfunden.
Was hat die Produktionsweise mit unseren Werten zu tun ?
Marx erkannte, dass die Basis unserer Kultur und unseres Zusammenlebens die jeweilige Produktionsweise und damit die Eigentumsordnung ist. Daraus ergeben sich auch die obengenannten Parallelen. Als die antike Produktionsweise – die Sklaverei – die Produktivkräfte nicht mehr weiterentwickeln konnte, kam auch die antike Form des Zusammenlebens, des Miteinanderumgehens in die Krise. Im Barock war es die feudale Produktionsweise, die in die Krise geriet und heute die kapitalistische. Zur Zeit von Ludwig XIV stand das feudale System in seinen letzten Atemzügen. Symbol des Parasitentums des Adels war Versailles. Die Ideologie des Feudalismus, das Christentum, geriet durch die Integration der Kirche in das Feudalsystem immer mehr in Schwierigkeiten. Die Zeit war davon gekennzeichnet, dass die Gesellschaft ihren eigenen Idealen, wie Minnedienst, Treue, Verantwortung für den Gefolgsmann, Liebe zu Gott, immer weniger nachkommen konnte. Gleichzeitig waren die Werte und Ideale des Bürgertums noch frisch und unverbraucht.
Der angehäufte Reichtum sollte investiert werden, Naturwissenschaft ist wichtig für die Manufaktur, Eheleute sollen gut zusammenarbeiten können, Arbeitskräfte sollten frei sein von der Scholle. Diese Erfordernisse der neuen Produktionsweise führten zu Werten wie Vernunft, Fleiß, „wahre Liebe“, Freiheit, Individualität.
Das Ideal wird langsam schal
Heute ist der Kapitalismus nicht mehr in der Lage diese Werte zu transportieren. Er ist gekennzeichnet durch Wirtschaftskrisen, Diktaturen, Kampf um Absatzmärkte, Weltkriege und der Unterdrückung der großen Mehrheit der Bevölkerung durch das in Banken konzentrierte Kapital. Immer weniger kann das Bürgertum seinen alten Idealen nachkommen. Serbien wurde mit den Werten der französischen Revolution zerbombt: Solidarität, Freiheit und Gleichheit. In Bezug auf den Kosovokrieg klangen diese Wörter für den Angesprochenen aber nicht mitreißend sondern lasch und schal, wenn nicht zynisch. Der momentane Werteverfall ist kein allgemeiner Werteverfall. Es sind die bürgerlichen Werte die verfallen, weil ihnen die UnternehmerInnen in ihrer wirtschaftlichen und politischen Praxis nicht mehr nachkommen können.
Die Stars
Die UnternehmerInnen können mit ihren Idealen niemanden mehr begeistern oder interessieren. Der bürgerlichen Kultur bleibt also nur mehr der Stumpfsinn über um Leute, wenn schon nicht mitzureißen, so wenigstens der Einschaltquoten wegen zum Zuschauen zu bewegen. Die Stars werden zu Narren und die Liebe zur Perversion. Das Menschenbild, das in der Pubertät des Kapitals noch vom Humanismus geprägt war weicht einem menschenverachtenden Antiindividualismus. Talkthemen wie „Hilfe ich bin dick“, „Mit der Frisur trau ich mich nicht mehr aus dem Haus“, „Kapier´s endlich, dein Schwarm will dich nicht“, zeigen die Leute als Looser. Man lädt keine engagierten ArbeitnehmerInnen ein die über Probleme mit der Intensivierung der Arbeit berichten und mit den Zuschauern über Lösungsmodelle diskutieren.
Besonders menschenverachtend sind die unvorhergesehenen Gegenüberstellungen von Opfer und Täter, die in regelrechten Schauprozessen eskalieren. Alleinerziehende Mütter, mit sechs Kinder, werden von 200 Yuppies niedergemacht, weil sie sich um Hans oder Karsten nicht richtig gekümmert haben. Bei Big Brother wird den Teilnehmern für einen Bruchteil des Gewinns der Sendung jegliche Menschenwürde genommen. Nicht viel humaner ist die Kleiderbauerwerbung, wo Nackte für ein paar tausend Schilling um die Wette laufen. Mit den Worten eines Kulturschaffenden: „Wenn man das mit politischen Gefangenen machen würde, würde Amnesty International einschreiten.“
Und was sagen die Philosophen dazu?
Zur Zeit des Übergangs des Kapitalismus in den Imperialismus entstand der Nihilismus. Er versuchte die bürgerlichen Werte nicht zu retten sondern begrüßte „die Umwälzung aller Werte“. Er erkennt quasi an, dass der Kapitalismus keine fortschrittliche Rolle mehr spielen kann, macht aber aus „der Not eine Tugend“. So schreibt Nitzsche über Ethik oder Moral: „Sich aber darüber, dass etwas missrät, ärgern oder gar Reue empfinden – das überlässt der Denker denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem erfolg nicht zufrieden ist.“
Je weniger die PhilosophInnen Erfolg haben die Menschen von bürgerlichen Werten wie Aufklärung und Mündigkeit zu überzeugen, desto mehr kommen sie zurück auf den Stock und die Peitsche als Moral des Kapitals.
Die Frankfurter Schule, geht davon aus, dass die Menschen manipulierbar sind. Sie erklärt den Kulturverfall weniger aus dem Verfall der Produktionsweise, aus der Dekadenz der Herrschenden sondern aus der Manipulierbarkeit, der Dummheit der Beherrschten. Nach ihr sei es die Pflicht des Philosophen, die Menschen über ihre wirklichen Bedürfnisse ( Liebe, Wissen, Mündigkeit) aufzuklären.
Kein Zufall, dass gerade in der Zeit der Zerstörung Belgrads, des Starts der Serie Big Brother, dem Beginn der schwarz-blauen Unternehmeroffensive, der Philosoph Slotterdijk die Frankfurter Schule für tot erklärt. Er macht reaktionäre Philosophen wie Nitzsche und den Naziphilosophen Heidegger wieder salonfähig, und spricht von der Notwendigkeit menschlicher Züchtung.
Kulturpessimismus oder Marxismus
Gleichheit kann heute nur noch wirtschaftliche Gleichheit bedeuten. Vernunft kann nur noch demokratische Planung der Produktion und Verteilung der Güter nach Bedürfnissen heißen. Aufklärung der Menschen, kann nur noch das Ende der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit bedeuten
KulturphilosophInnen, die zu feige sind diese Schlüsse zu ziehen, enden immer öfter als KulturpessimistInnen oder NihilistInnen. Wer sich aber entschlossen hat sich der neuen Klasse, dem Proletariat, in seinem Kampf an zu schließen, hat keine Zeit für DeUntergangsstimmung. Er/Sie weiß, dass die Arbeitnehmerschaft eine Renaissance von Aufklärung, Humanismus und freiwilliger Liebe bringen wird, weil ihre Emanzipation zu einer Produktionsweise führen wird in der solche Werte wieder Sinn machen.