Es ist Mode geworden, parasitären Schichten, wie den Spekulanten, die Schuld für die Krise in die Schuhe zu schieben, in Anbetracht der Rolle, die das aufgeblähte Finanzsystem bei den Ereignissen, die zum Zusammenbruch des Bankensystems von 2008, die den Beginn der großen Rezession markierte, spielte. Von Adam Booth.
Das Wachstum des Finanzwesens
Aber obwohl es richtig ist, dass das Finanz- und Bankwesen außer Kontrolle geraten ist und die Weltwirtschaft heute beherrscht, so haben doch in Wirklichkeit Wucherer und Geldverleiher in der gesamten Geschichte des Kapitalismus existiert – und wenn man weiter zurückgeht, solange wie das Geld selbst, wie Engels in Bezug auf das antike Griechenland feststellt.
Die Grundbausteine des Bankwesens – ein System von Konten und Darlehen – waren sogar vor tausenden von Jahren in den antiken mesopotamischen Gesellschaften vorhanden, wie vorher beschrieben. In diesen frühen Stadtwirtschaften und in späteren Gesellschaften, wie die des alten Ägypten wurden einzelne Güter in zentralen Lagerhäusern zur sicheren Verwahrung aufbewahrt und erfasst, aber die Menschen konnten von diesen Lagerhäusern auch Güter ausleihen, um ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu erfüllen.
„Das Kreditsystem im alten Babylon war offensichtlich sehr ausgefeilt“, schreibt der bürgerliche Historiker Niall Ferguson in seinem Buch ‚Der Aufstieg des Geldes‘. „Schulden waren übertragbar. Rechnungen auf Tontafeln oder Zeichnungen dienten für diejenigen, die Getreide oder andere Waren in königlichen Palästen und Tempeln lagerten, als Belege. Von Schuldnern wurde erwartet, dass sie Zinsen bezahlten … zu Raten, die oft bei 20% und mehr lagen.“
Später kam es im ptolemäischen Ägypten und im hellenistischen Griechenland zu einer Erneuerung des Kreditsystems, dass es gestattete Geldüberweisungen teilweise durch ein System von Kreditbelegen und Zahlungen zu ersetzen. Auf der griechischen Insel Delos konnten z. B. einzelne Kunden einfach „Geld überweisen“ indem sie der Bank Anweisungen schickten, um Zahlungen auf das Konto einer anderen Person zu tätigen. Die Formen des Bankgeschäftes auf Delos wurden wiederum zu einem Modell für die Römer. Mit der Entwicklung des internationalen Handels und Gewerbes und der römischen Präferenz für das Münzgeld, weitete sich das Bankwesen zwischenzeitlich aus und bezog den Austausch von Geldmünzen verschiedener Herkunft mit ein.
Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches kam es auch zum Zerfall des internationalen Handels und Bankwesens. Wie Felix Martin beschreibt, „schien die soziale und politische Stabilität, die Voraussetzung zur Unterstützung des professionellen Finanzwesens war, aufgelöst zu sein.“ Die Märkte schrumpften, die Subsistenzwirtschaft wuchs und das Geldsystem entwickelte sich bezüglich seiner Größe und Komplexität zurück und bestand in erster Linie aus einer Vielzahl von Münzsystemen, welche lokale Lehensgüter und Königreiche versorgten.
Feudalherrn und Könige nutzten derweil ihre privilegierte Monopolstellung als Münzpräger, um die Geldvorräte zu manipulieren und sich zu bereichern. Der Herrscher konnte praktisch die Geldbesitzer besteuern, indem er die Währung entwertete, d. h. den Nominalwert der im Umlauf befindlichen Münzen änderte und den Gewinn in die eigene Tasche steckte – ein Prozess, der Seignorage (Münzgewinn) genannt wurde.
Der ständige Entwertungsprozess diente im Laufe der Zeit dazu, den Symbolcharakter der Münzen und ihre zentrale Rolle als Darstellung eines Wertes zu unterminieren und ebnete den Weg für das Papiergeld (das ursprünglich im 8. Jahrhundert in China erfunden worden war) und auch für das elektronische Geld, das wir heute nutzen – eine bloße digitale Information auf einem Bildschirm. Geld wird praktisch zu einem reinen Symbol – einem Wertsymbol, wie Marx erklärte: „Wenn der Geldumlauf selbst den Realgehalt vom Nominalgehalt der Münze scheidet, ihr Metalldasein von ihrem funktionellen Dasein, so enthält er die Möglichkeit latent, das Metallgeld in seiner Münzfunktion durch Marken aus andrem Material oder Symbole zu ersetzen.“ (Marx, Das Kapital Bd.1, S. 140)
„Relativ wertlose Dinge, Papierzettel, können also an seiner Statt als Münze funktionieren. In den metallischen Geldmarken ist der rein symbolische Charakter noch einigermaßen versteckt. Im Papiergeld tritt er augenscheinlich hervor. Man sieht: Ce n’est que le premier pas que coûte .“ (ebd. S. 140/141)
Zur gleichen Zeit bereitete diese Seignorage den Weg für eine Rebellion gegen das Geld. Die Geldbesitzer fühlten sich fortlaufend vom Staat ausgeraubt; eine Alternative musste gefunden werden.
Die Machtverschiebung ging einher mit der Wiederherstellung des einstigen Glanzes des Bankwesens. Als der internationale Handel sich erneut ausweitete, entstand eine neue Kaufmannsklasse, die sich auf die mittelalterlichen Stadtstaaten Italiens konzentrierte. Innerhalb des Handels kam es zu einer Arbeitsteilung und internationale Handelshäuser, die weniger mit dem Umschlag der eigentlichen Waren beschäftigt waren, sondern mehr mit der Übertragung von Reichtum und Eigentumsrechten, nahmen an Bedeutung zu.
Anstatt mit der Unzahl von Währungen, die auf dem gesamten Kontinent zu finden waren, zu handeln, umgingen die großen europäischen Handelshäuser den Herrscher völlig und spielten die Rolle von Bankiers. Örtliche Kaufleute handelten mit den Handelshäusern, die wiederum untereinander Handel trieben, um Rechnungen zu begleichen und so ein internationales System von Schuldscheinen (wie Schecks und Wechsel) und Zahlungen schufen.
Mit dem Reichtum der aufsteigenden Kaufmannsklasse, nahm auch deren Macht und Einfluss zu. Der Staat wurde zunehmend von dieser aufsteigenden Bourgeoisie als Finanzierungsquelle für seine Ausgaben abhängig – besonders für die Kriegsführung. Der wichtigste Wandel in den Klassenbeziehungen kann am Beispiel der Erlangung solcher öffentlicher Finanzierung gesehen werden, wie Ferguson in Bezug auf den mittelalterlichen Stadtstaat Florenz beschreibt: „Anstatt Grundsteuern zu bezahlen, waren reichere Bürger verpflichtet, ihrer eigenen Stadtregierung Geld zu leihen. Als Gegenleistung für diese erzwungenen Darlehen erhielten sie Zinsen.“ Die Handelsbankiers wurden zu Kreditgebern des Staates. Das Zeitalter der öffentlichen Schulden begann.
Im Prinzip macht die Vorstellung von Staatsschulden wenig Sinn. Das gleiche Ergebnis, z. B. durch die Erhebung von Geld für Staatsausaugaben, könnte durch die Besteuerung der Reichen erzielt werden, anstatt es sich von ihnen auszuleihen. Aus der Sicht der Reichen ist es natürlich vorzuziehen, dem Staat Geld (in Form von Krediten) zu leihen als es ihm (in Form von Steuern) zu geben. So behalten die Reichen ihr Geld und verdienen gleichzeitig eine stattliche Summe an Zinsen.
Das Konzept der Staatsverschuldung war kein neues Phänomen im Zeitalter des Kapitalismus. Monarchen hatten nicht selten Anleihen bei den Reichen und Wohlhabenden gemacht; früher war das Problem, dass Königshäuser diese Kredite nicht zurückzahlten. Die aufsteigende Klasse der Bourgeoisie in England war es leid, so ihr Geld zu verlieren und setzte deshalb 1694 die Errichtung einer Staatsbank, der Bank of England, durch, welche die Zurückzahlung der Regierungsschulden garantierte und den Kreditgebern ein Privilegienmonopol über die Geldvorräte zu gestand, d. h. über die Ausgabe neuer Banknoten.
“Um das Privileg zur Ausgabe von Banknoten durch die Krone bewilligt zu bekommen“, schreibt Felix Martin, „welche die Schulden einer Privatbank mit der Autorität des Herrschers salben würden, war, wie sie erkannten, der Stein der Weisen für das Geld. Es war die Billigung, die privates Einlagegeld aus seinem begrenzten Rahmen befreien konnte. Sie verliehen ihren Kredit an den Herrscher, er verlieh seine Autorität an die Bank. Was sie durch die Vereinbarung des Verleihens säten, ernteten sie in hundertfacher Weise, weil es ihnen gestattet war, mit Billigung des Herrschers, privates Geld zu schaffen. Von nun an wurde die Seigniorage geteilt.“
An der Seite der nationalen Schulden entwickelte sich das Steuersystem. Aufgrund der Rückzahlung von Schulden, musste der Staat einen Weg finden, um Steuern zu erheben, die benötigt wurden, diese Schulden und Zinszahlungen zu finanzieren. Das Ergebnis jedoch ist, wie wir es in hoch verschuldeten Staaten heute beobachten können, dass der Schwanz mit dem Hund wackelt. Die Regierungspolitik beginnt, sich ausschließlich um die Rückzahlung der Schulden an seine finanziellen Kreditgeber zu drehen und neue Anleihen sind zur Abtragung der alten erforderlich – wie es heute in Griechenland demonstriert wird.
So kommt es, dass die Bourgeoisie die gesamte Kontrolle über die Geschicke des Landes übernimmt – nicht durch den Wahlapparat eines Landes, sondern indem den Regierungen die Politik diktiert wird, dabei werden Investitionsstreiks und die Drohung eines Staatsbankrotts eingesetzt. Das beobachten wir heute, wo Regierungen gleich welcher Couleur die gleiche Austeritätspolitik unter der Ägide des Finanzkapitals betreiben – und das ist mit der Diktatur des Finanzkapitals gemeint, welche in diesen Krisenzeiten rücksichtslos über die Demokratie hinweggeht.
„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld.“ (Marx, Das Kapital Bd. 1, S 782)
Kredit und Krise
Das Bank- und Finanzwesen basiert im Wesentlichen auf der Rolle des Gelds als Zahlungsmittel – ein Versprechen des Käufers in der Zukunft zu bezahlen. Diese „Funktion des Gelds als Zahlungsmittel“, ist nicht nur auf den Kapitalismus beschränkt“, wie Marx feststellte, sondern bildet sich aus der einfachen Warenzirkulation „und damit ein Verhältnis von Gläubiger und Schuldner unter den Warenproduzenten und Warenhändlern …“
“Mit der Entwicklung des Handels und der kapitalistischen Produktionsweise (…) wird diese natürwüchsige Grundlage des Kreditsystems erweitert, verallgemeinert, ausgearbeitet.“ Wo Geld – als Mittel zum Kauf – einst dominierte, „ fungiert das Geld hier nur als Zahlungsmittel, d. h. die Ware wird verkauft nicht gegen Geld, sondern gegen ein schriftliches Versprechen der Zahlung an einem bestimmten Termin.“ (Marx, Das Kapital, Bd. 3., S. 413)
Mit anderen Worten, mit Geld als Zahlungsmittel ist es möglich, etwas zu kaufen ohne vorher etwas verkauft zu haben; etwas zu besitzen ohne als Gegenleistung etwas tatsächlich zu bezahlen. Eine Trennung entwickelt sich zwischen dem Austausch von Waren und der tatsächlichen Fähigkeit, diese Waren zu bezahlen. Zerbrechlichkeit, Ungewissheit und Risiko werden in dieses System eingebracht, dass sich nur ausweitet, wenn das „Kreditsystem erweitert, verallgemeinert, ausgearbeitet“ wird.
Die Komplexität – und damit verbunden, die Zerbrechlichkeit – des Kreditsystems machte einen qualitativen Sprung nach vorn mit der Erfindung des Mindestreserve-Bankwesens im 17. Jahrhundert. Während das Banksystem sich bis dahin in erster Linie mit dem Austausch zwischen Konten oder der Bereitstellung von Darlehen, die durch Rücklagen gesichert waren, beschäftigt hatte, begannen Banken jetzt „Geldmengen ihrer metallischen Reserve im Übermaß zu verleihen … und nutzten die Tatsache, dass Geld, das als Einlage zur Verfügung stand, gewinnbringend an Kreditnehmer verliehen werden konnte.“ (Ferguson)
Mit ihrer Rolle als Darlehensgeber spielen die Banken eine doppelte Rolle für die Kapitalisten. Einerseits werden relativ kurzfristige Kredite benötigt, um Engpässe in der Produktion zu überbrücken und den Warenfluss und die –zirkulation aufrechtzuerhalten. Produzenten müssen z. B. Geld leihen, um die Löhne und Rohstoffe zu bezahlen, während sie darauf warten, dass zuvor produzierte Waren auf den Markt kommen und dort verkauft werden.
Andererseits können Kredite genutzt werden, um es den Produzenten möglich zu machen, ihre Produktion auszuweiten, wenn sie das im Voraus anfallende Kapital nicht haben. In dieser Hinsicht dient das Bank- und Finanzsystem zur Zusammenlegung und Akkumulation aller kleinen Ersparnisse und des nicht angelegten Kapitals innerhalb der Wirtschaft – vor allem der Ersparnisse von Individuen und Haushalten – um diese produktiv als Investitionen in neue Produktionsmittel zu nutzen.
Mit der Erfindung des Mindestreserve-Bankwesens waren Banken aber nicht länger bloße Kreditverleiher, sie wurden zu Kreditschöpfern und damit auch zu Geldschöpfern. Nur ein Teil der Einlagen wird durch liquide Vermögenswerte sichergestellt, der Rest sind einfach Kredite, die von der Bank (zu einem Zinssatz) geschaffen werden, um größere Profite für die Bank zu erwirtschaften und so die Geldmenge in diesem Prozess zu erhöhen. Der ausgeliehene Kredit erscheint in Form einer Einlage auf dem Bankkonto des Schuldners, der dieses genauso ausgeben kann wie jedes andere Geld.
Heute ist laut der im Vereinigten Königreich ansässigen Bürgerbewegung ‘Positive Money’, die sich das Ziel gesetzt hat, das Geld- und Bankwesen zu demokratisieren, bis zu 97% der Geldmenge in der britischen Wirtschaft eine Schöpfung der Banken und nur 3% existieren in Form von Bargeld.
In dieser Hinsicht spielen Kredite innerhalb des Kapitalismus eine andere Schlüsselrolle: sie erweitern den Markt künstlich, d. h. die Kaufkraft innerhalb der Wirtschaft. Ursprünglich ist der Kapitalismus ein System zur Erzeugung von Profit. Wenn die Kapitalisten keine Profite machen können, produzieren sie nicht, die ArbeiterInnen werden arbeitslos, die Investitionen werden eingefroren, die Zirkulation kommt zum Stillstand. Die Wirtschaft kommt zum Erliegen und das Kreditsystem bricht zusammen – d. h. der Kapitalismus gerät in eine Krise.
„Solange der Reproduktionsprozeß flüssig und damit der Rückfluß gesichert bleibt, dauert dieser Kredit und dehnt sich aus, und seine Ausdehnung ist basiert auf die Ausdehnung des Reproduktionsprozesses selbst. Sobald eine Stockung eintritt, infolge verzögerter Rückflüsse, überführter Märkte, gefallner Preise, ist Überfluß von industriellem Kapital vorhanden, aber in einer Form, worin es seine Funktion nicht vollziehn kann. Masse von Warenkapital, aber unverkäuflich. Masse von fixem Kapital, aber durch Stockung der Reproduktion großenteils unbeschäftigt. Der Kredit kontrahiert sich, 1. weil dies Kapital unbeschäftigt ist, d.h. in einer seiner Reproduktionsphasen stockt, weil es seine Metamorphose nicht vollziehn kann; 2. weil das Vertrauen in die Flüssigkeit des Reproduktionsprozesses gebrochen ist; 3. weil die Nachfrage nach diesem kommerziellen Kredit abnimmt…“ (Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 500)
„Tritt also Störung in dieser Expansion oder auch nur in der normalen Anspannung des Reproduktionsprozesses ein, so damit auch Kreditmangel; Waren sind schwerer auf Kredit zu erhalten. Besonders aber ist das Verlangen nach barer Zahlung und die Vorsicht im Kreditverkauf charakteristisch für die Phase des industriellen Zyklus, die auf den Krach folgt…. Fabriken stehn still, Rohstoffe häufen sich auf, fertige Produkte überfüllen als Waren den Markt.“ (ebd.)
Mit nicht bezahlten Schulden werden die Anarchie und das Chaos in der Zahlungsbilanz erkennbar. Kreditgeber verlangen ihre Zurückzahlungen und weigern sich noch mehr zu verleihen. Die Zahlungsversprechen verlieren ihre Bedeutung: Nur Bargeld wird ausreichen. Kredite werden eingeschränkt und stoppen die Zirkulationsbewegung, und damit auch die Produktion. Kurz gesagt, der Mangel an Krediten verursacht keine Krise; die Krise verursacht den Mangel an Krediten.
„Dieser Widerspruch eklatiert in dem Moment der Produktions- und Handelskrisen, der Geldkrise heißt. Sie ereignet sich nur, wo die prozessierende Kette der Zahlungen und ein künstliches System ihrer Ausgleichung völlig entwickelt sind. Mit allgemeineren Störungen dieses Mechanismus, woher sie immer entspringen mögen, schlägt das Geld plötzlich und unvermittelt um aus der nur ideellen Gestalt des Rechengeldes in hartes Geld. Es wird unersetzlich durch profane Waren. Der Gebrauchswert der Ware wird wertlos, und ihr Wert verschwindet vor seiner eignen Wertform.“ (Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 151)
„In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muß augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar. Und in der Tat handelt es sich nur um die Konvertibilität der Wechsel in Geld. Aber diese Wechsel repräsentieren der Mehrzahl nach wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt. Daneben aber stellt auch eine ungeheure Masse dieser Wechsel bloße Schwindelgeschäfte vor, die jetzt ans Tageslicht kommen und platzen; ferner mit fremdem Kapital getriebne, aber verunglückte Spekulationen; endlich Warenkapitale, die entwertet oder gar unverkäuflich sind, oder Rückflüsse, die nie mehr einkommen können.“ (Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 507)
Im Mittelpunkt dieser Krisen liegt ein fundamentaler, dem Kapitalismus inhärenter, Widerspruch: die Überproduktion. Dieser Widerspruch entsteht aus der Natur des Kapitalismus als Profitsystem und aus den Ursprüngen des Profits selbst, der unbezahlten Arbeit der ArbeiterInnenklasse. Da ArbeiterInnen mehr Werte produzieren als sie in Form von Löhnen bezahlt bekommen, kann die ArbeiterInnenklasse als Ganzes nie den vollen Wert der von ihnen erzeugten Waren zurückzahlen.
Traditionell überwindet der Kapitalismus diesen Widerspruch der Überproduktion durch die Neuinvestition des erzeugten Mehrwerts in neue Produktionsmittel, um noch größere Profite zu erzielen. Das jedoch dient zu Vergrößerung und Verbesserung der Produktivkräfte und damit werden noch größere Warenmassen erzeugt, die einen Markt finden müssen und das führt somit zur Verschärfung der Überproduktion, statt zu einer Lösung der Widersprüche.
Kredite werden dann benutzt, um die Massenkaufkraft künstlich anzuheben und somit die Überproduktion vorübergehend zu überwinden und es den Produktivkräften möglich zu machen, weiter zu wachsen und den Markt über seine Grenzen auszuweiten – damit wird der Boden für eine noch größere zukünftige Krise bereitet.
Heute ist das kapitalistische System weit über seine Grenzen ausgedehnt. Die Ausweitung der Kredite in den letzten dreißig Jahren – und vor allem seit der Jahrtausendwende – hat die größten Kreditblasen der Geschichte erzeugt. Einerseits wurden als Ergebnis der Globalisierung, der Automation und eines Totalangriffs gegen die ArbeiterInnenklasse die Löhne gedrückt und ein immer größer werdender Anteil des Reichtums ging in die Hände des Kapitals statt in die der ArbeiterInnen. Andrerseits wurden die Kredite massiv durch die Verwendung von Hypotheken, Kreditkarten, Studentendarlehen usw. ausgeweitet, um die Nachfrage künstlich aufrechtzuerhalten. Während diese Maßnahmen dazu beitrugen, den Ausbruch der Krise zu verzögern, ebneten sie gleichzeitig den Weg für den gewaltigen Zusammenbruch von 2008 und das folgende Chaos, das wir heute beobachten können, weil sämtliche Widersprüche, die sich seit Jahrzehnten angehäuft hatten, jetzt zum Vorschein kommen.
Im Grunde genommen ist es der eingeschränkte Konsum der Massen, der den Weg für Krisen im Kapitalismus bereitet. Der Markt wird nicht nur durch die Geldmengen, über welche die Menschen verfügen, um Waren und Dienstleistungen (und die Schulden, die sie enorm belasten) beschränkt, sondern auch durch das enorme Maß an Überkapazitäten, die sich in der Wirtschaft aufgebaut und eine gigantische Barriere für weitere Investitionen errichtet haben. Heute ist die Welt mit solchen Überkapazitäten überflutet, der Markt ist gesättigt und die Kapitalisten müssen ihre Produktion einschränken. Ihr Versuch, die Krise mit Krediten zu überwinden, hat seine Grenzen erreicht. Die Produktivkräfte sind über die Grenzen des kapitalistischen Systems hinausgewachsen.
Geld und Kapital
„Nach der Einführung des Bankwesens und der Geburt des Aktienmarkts“, schreibt Niall Ferguson in seinem Buch ‚Der Aufstieg des Geldes‘, „war der nächste Schritt beim Aufstieg des Geldes …der Aufstieg der Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftung.“ Es ist das Unternehmen, das es tausenden von Individuen ermöglicht ihre Ressourcen für riskante langfristige Projekte, welche die Investition riesiger Kapitalsummen bedürfen, bevor sie Profite erwirtschaften, zusammenzulegen.“
Mit dem Aufkommen der Aktiengesellschaften waren Unternehmer nicht länger nur von den Banken abhängig, um Kredite für große Investitionen zu erhalten. Stattdessen konnte dieses Geld durch die Anhäufung vieler kleiner und großer Summen aufgebracht werden, indem man jeden, der bereit war seine Ersparnisse zu riskieren, um dafür einen Anteil an den zukünftigen Profiten zu erhalten, „Unternehmensanteile“ verkaufte.
Wie Marx im ‚Kapital‘ jedoch betonte, sind solche Anteile aber keine Anteile an dem tatsächlichen Unternehmen, sondern „bloße Eigentumstitel, die zur Empfangnahme von künftigen Mehrwerten berechtigen“; sie „stellen in der Tat nichts vor als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel auf künftige Produktion“, „sie geben nur Rechtsansprüche auf einen Teil des von demselben zu erwerbenden Mehrwerts“. (Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 474, S. 486, S. 494)
Heute kontrollieren riesige Finanzkonzerne über den Aktienmarkt den Kauf- und Verkaufsprozess und den Handel mit Aktien als Teil eines größeren Kreditsystems. Jeder, der über Ersparnisse oder eine private Altersvorsorge verfügt ist in dieses System eingebunden, indem Investmentbanken und Fondsmanager die Notgroschen der Bevölkerung in größere Mengen zusammenführen, die investiert werden können, um Gewinn zu machen.
Es ist aber klar, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Geld und Kapital gibt. Während Millionen Menschen von ihren Ersparnissen oder Pensionen Geld in Aktien investiert haben, heißt das jedoch nicht, dass jeder Sparer oder Pensionsempfänger ein Kapitalist ist. Nur eine kleine Minderheit verfügt über genug Geld, um allein von den Gewinnen aus Aktien und Wertpapieren zu leben.
Trotz der Propaganda der Bourgeoisie und ihrer Sprachrohre (z. B. die Rhetorik von Margaret Thatcher, die danach strebte, eine Demokratie auf der Basis der besitzenden Mittelklasse zu errichten, indem sie Sozialwohnungen und die verstaatlichten Industriezweige verramschte), trägt der Aktienmarkt nicht dazu bei, den gesellschaftlichen Reichtum zu streuen und aus Laien Kapitalisten zu machen. Die wichtigste Funktion des hoch entwickelten Kreditsystems, das wir im Kapitalismus sehen, ist es vielmehr das Gegenteil: die Konzentration und „Kapitalisierung“ aller kleinen, verstreuten Geldsummen in den Händen einer reichen und mächtigen Elite von Bankiers und Kapitalgeber, um das gesamte Geld in Kapital umzuwandeln d.h. in Wert, der wiederum in der Lage ist, weiteren Wert zu erzeugen.
„Kleine Summen, jede für sich unfähig als Geldkapital zu wirken, werden zu großen Massen vereinigt und bilden so eine Geldmacht.“ (ebd. S.416) Lenin bemerkt dazu: “Im Zusammenhang damit verwandeln die Banken brachliegendes Geldkapital in funktionierendes, d.h. profitbringendes Kapital, sie sammeln alle und jegliche Geldeinkünfte und stellen sie der Kapitalistenklasse zur Verfügung. (Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin Werke, Bd. 22, S. 215)
Gleichzeitig trägt das Kreditsystem dazu bei, die Kapitalisten mehr denn je vom Prozess der realen Produktion zu scheiden. Mit der Entstehung der Aktiengesellschaften hört der Kapitalist auf, ein Geschäftsinhaber oder Manager zu sein und das Kapital selbst hat immer weniger mit tatsächlichen Vermögenswerten zu tun. Stattdessen wird der Kapitalist einfach „personifiziertes Kapital“ und der Kapitalbesitz – in Form von Aktien und Wertpapieren – wird einfach in einen Anspruch auf einen Teil des gesamten Mehrwerts, der in der Gesellschaft produziert wird, umgewandelt; eine Anlage, die den Besitzer zu laufenden Einnahmen mit einer Rendite, die der durchschnittlichen Profitrate entspricht, berechtigt. Das ist mit den Worten von Marx, die „Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten; Verwalter fremden Kapitals und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten.“ (ebd. S. 452)
Es ist inzwischen die Vorherrschaft der Banken, Aktienmärkte, Kartelle und Monopole mit der Transformation des Kapitals im Wesentlichen in Finanzkapital, das Lenin als bestimmendes Merkmal des Imperialismus – der „höchsten Stufe des Kapitalismus“ bezeichnete:
„Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Stauten, die finanzielle „Macht“ besitzen.“ (Lenin, ebd. S. 242)
Der Aufstieg des Aktienmarkts und des Kreditsystems beschleunigen die Vergesellschaftung der Produktion, mit Unternehmen, die in „Form von Gesellschaftskapital … im Gegensatz zu Privatkapital“ auftreten. „Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.“ (Marx, ebd. S. 452)
Einerseits verleiht dies der Entwicklung der Produktivkräfte enorme Impulse und ermöglicht Investitionen in neue Produktionsmittel in einem Ausmaß, das auf der Basis des individuellen Privatbesitzes nicht hätte erreicht werden können. Das gibt einen Einblick, was unter einer geplanten sozialistischen Produktion möglich wäre, wo die Produktivkräfte und ökonomischen Ressourcen gemäß einem rationalen und demokratischen Plan, auf der Grundlage der gesellschaftlichen Bedürfnisse, statt der Bedürfnisse der Bankiers und Bosse, genutzt würden.
Andererseits ruft dasselbe Kreditsystem eine Spekulationsorgie hervor und „reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmacher, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ (Marx, ebd. S. 454)
Der Handel und Austausch von Finanzgütern wurden lediglich zu einem Mittel, mit dem versucht wurde mit Geld Geld zu verdienen. Vermögenswerte wurden immer mehr zu einem bloßen fiktiven Kapital. Die Aktivitäten auf dem Aktienmarkt lösten sich immer mehr vom Zustand der zugrundeliegenden Realökonomie, wobei die Preise solcher Aktien und Wertpapiere aufhörten, den wirklichen Zustand des Unternehmen, dessen Werte sie vermeintlich repräsentieren sollten, zu widerspiegeln. Das führte zur Zunahme einer endlosen Bildung von Blasen, die immer größer wurden und später beim Aufprall auf die Nadelstiche der Realität platzten. Niall Ferguson bemerkt dazu:
„In den vierhundert Jahren seit dem Kauf und Verkauf der ersten Aktien ist es zu einer Abfolge von Finanzblasen gekommen. Immer wieder sind Aktienpreise in unsagbare Höhen gestiegen, um danach wieder abzustürzen. Immer wieder ist dieser Prozess von Gemeinheiten begleitet gewesen, als skrupellose Insider versucht haben, Profit auf Kosten naiver Anfänger zu machen.“
Wenn wir uns den Finanzcrash von 2007-2008 ansehen, ist es natürlich immer die ArbeiterInnenklasse, welche die Zeche für eine solche Rücksichtslosigkeit bezahlt, während sich die Reichen und Wohlhabenden weiterhin lachend auf dem Weg zur Bank machen.
Wir können sehen, dass eine solche finanzielle Alchemie und „Gemeinheit“ aus „Lügen und Betrügen“ bei weitem kein bösartiger Tumor eines ansonsten wohltätigen Systems ist, sondern ein intrinsischer Teil des kapitalistischen System, der nicht entfernt werden kann. Die Entwicklung des Kapitalismus von dessen merkantilen Anfängen in Süditalien bis zur Industriellen Revolution in England war nur möglich aufgrund der Entwicklung des Finanzkapitals und die Rolle, die es beim Ausbau der Produktivkräfte und der Schaffung des Weltmarkts spielte. Jede Trennung zwischen dem „guten“ Industrie- und Manufakturkapitalismus einerseits und dem „bösen“ Kapitalismus des „parasitären“ und „unverantwortlichen“ Finanzkapitalismus andererseits ist rein künstlich und vollkommen idealistisch.
Anstatt zu versuchen, das widerspenstige Ungeheuer des Finanz- und Bankwesens zu regulieren, um die Utopie eines „verantwortlichen Kapitalismus“ zu schaffen, sollten die FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung vielmehr die Forderung nach der Verstaatlichung der Banken unter die Kontrolle der organisierten ArbeiterInnenklasse auf die Tagesordnung setzen. Nur so kann der Reichtum der Gesellschaft zusammengelegt und im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung geplant werden.
„Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.
Die dem Kreditsystem immanenten doppelseitigen Charaktere: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden (…)“ (Marx, ebd. S. 457)