Am 25. Mai finden die EU-Wahlen statt. Die Wahlen stehen ganz im Zeichen der Folgen der Krise in der Eurozone. Claudio Bellotti (Mitglied der nationalen Exekutive der italienischen Rifondazione Comunista) analysiert die Dynamiken dieser Krise und die politischen Antworten der Sozialdemokratie und der Linken in Europa.
Die Eurozone ist heute eine der kritischsten Problemfelder im internationalen Kapitalismus. Eine Lösung der Weltwirtschaftskrise ist noch lange nicht in Sicht. Die weltweit vom Bürgertum gesetzten wirtschaftspolitischen Maßnahmen haben die Krise nur dämpfen, aber nicht lösen können. Doch die Kosten dafür sind sehr hoch und die Lösung der dadurch entstandenen neuen Widersprüche schafft immer neue Probleme.
Die bürgerlichen “ExpertInnen” und PolitikerInnen testen ein wirtschaftspolitisches Konzept nach dem anderen, und die reformistischen Bürokratien an der Spitze der Arbeiterbewegung folgen ihnen dabei Schritt auf Tritt. Dabei wird immer deutlicher, dass vor allem Letztere den wirklichen Charakter dieser Krise weder erkennen können noch erkennen wollen.
Globalisierung im Rückwärtsgang
Einer in der Financial Times veröffentlichten Studie zufolge lagen die Kapitalflüsse auf den internationalen Finanzmärkten Ende 2013 bei unter 70 Prozent des Vorkrisenwertes. Der Welthandel, der sich in den goldenen Jahren des Booms jährlich um rund 10 Prozent ausdehnte, nahm 2013 um weniger als 3 Prozent zu. Die extreme Leichtigkeit der Zirkulation von Kapital und Waren war einer der zentralen Faktoren, die das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahrzehnten begünstigten. Die immer stärkere Integration der Weltmärkte und die enorme Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung waren die Instrumente, mit denen der Kapitalismus zumindest ansatzweise die engen Grenzen der Nationalstaaten überwinden konnte. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die explosive Entwicklung der Verschuldung und die massive weltweite Schaffung von fiktivem Kapital, weil dadurch die Überproduktion temporär verdeckt werden konnte.
Heute haben diese Mechanismen jedoch an Wirksamkeit eingebüßt. In gewissem Maße sehen wir, wie die Globalisierung zurückflutet. Die Kapitalmärkte splittern sich wieder zusehends in nationale Einheiten auf. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Europäischen Union, wo sich die Banken wieder verstärkt auf die eigenen Heimmärkte konzentrieren.
Auch in der Industrie beginnt man vom Phänomen des reshoring zu sprechen, sprich von der Rücknahme von Auslagerungen ganzer Werke und die Rückführung von Produktionsbereichen zu den Stammwerken. Jahrzehntelang wurde Industrie in Billiglohnländer ausgelagert, doch jetzt setzen sich alle wichtigen Länder das Ziel, die eigene Industrieproduktion wieder zu steigern. Die EU zum Beispiel diskutiert das Ziel, die europäische Industrieproduktion gemessen am BIP bis zum Jahr 2020 von 16 auf 20 Prozent anzuheben.
Selbst das Internet, das mit der Globalisierung entstand und expandierte, droht durch ökonomische und politische Auseinandersetzungen um die Frage, wer dieses wichtige Produktions- und Distributionsmittel sowie Konsumgut kontrolliert und welche Struktur es haben soll, fragmentiert zu werden. Angela Merkel hat sogar den Vorschlag gemacht, ein eigenes europäisches Internet zu entwickeln, um sich so gegen die Dominanz der USA zu schützen.
Die Krise hat den wirklichen Charakter des kapitalistischen Systems offen gelegt: Entgegen all dem Geschwätz über mehr Privat und weniger Staat, über Wettbewerb und freie Märkte, kann das System ohne die entscheidende Unterstützung des Staates nicht bestehen.
Nach der Krise von 1929 war der wachsende Protektionismus die Hauptursache für die Verschärfung der Krise. Ein ähnlicher Prozess könnte heute noch viel gravierendere Verwerfungen auslösen. Genau das ist auch der Grund, warum sich die VertreterInnen der herrschenden Klasse bei einem Gipfeltreffen nach dem anderen bemühen „gemeinsame Lösungen“ zu finden.
Der gesamte Verlauf des 20. Jahrhunderts ist eine einzige Beweiskette dafür, dass die unter kapitalistischen Bedingungen entwickelten Produktivkräfte nicht nur die Grenzen des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sondern auch jene des Nationalstaats definitiv überschritten haben. Kein Land kann sich heute noch der Dominanz des Weltmarktes entziehen. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das von einer sehr ausgeprägten internationalen Arbeitsteilung geprägt ist. Viele Waren und Produktionsmittel, insbesondere die technisch anspruchvollsten, werden heute auf der Grundlage dieser globalen Arbeitsteilung entwickelt und produziert. Dies in die Grenzen des Nationalstaates zurückzuführen, ist nur zu einem sehr hohen Preis möglich und würde zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen. Von diesem Standpunkt aus haben sich vor allem die europäischen Nationalstaaten ebenso überlebt wie einst die Kleinstaaterei vor der Vereinigung Deutschlands oder Italiens im 19. Jahrhundert. Doch in dieser Frage steht die Bourgeoisie vor einem in diesem System unlösbaren Widerspruch.
Im Versuch diese systemimmanenten Hindernisse zu überwinden, ging die herrschende Klasse gewissermaßen über die geschichtlichen Grenzen des eigenen Systems hinaus. Jetzt das Rad der Zeit zurückzudrehen, kann unvorhersehbare Prozesse mit zweifelsohne katastrophalen Folgen auslösen.
Es ist eine Illusion zu glauben, man könne einfach das System von den „Auswüchsen“ der vergangenen Jahrzehnte befreien und zu „den guten alten Zeiten“ des Nachkriegsaufschwungs zurückkehren, als der Kapitalismus nicht auf Finanzmärkte, sondern auf die Realwirtschaft und relativ stabile Handelsbeziehungen setzte; als die Wirtschaft gesund und im Gleichgewicht war. Im Gegenteil, die Krise der Globalisierung ist der Vorbote gigantischer Erschütterungen, welche zu einem weiteren Aufbrechen der bisher bestehenden internationalen, ökonomischen und politischen Beziehungen führen werden.
Die Krise in der Eurozone
Diese vorangestellte Analyse der globalen Bedingungen soll uns vergegenwärtigen, dass die Krise Europas nur ein Teilaspekt der Krise des Weltkapitalismus ist. Wenn wir von einer internationalen Krise sprechen, bedeutet das natürlich nicht, dass sich in jedem Land dieselben Prozesse auf dieselbe Art und Weise und in derselben Geschwindigkeit entfalten.
Die Schaffung des Euro wurde uns als die Trumpfkarte für größeren Reichtum, Preisstabilität, eine starke Währung und dadurch günstigeren Kredit, eine stärkere Integration und Konvergenz der europäischen Volkswirtschaften angepriesen.
Heute ist von diesen Illusionen nicht mehr viel übrig, ja sie haben sich vielfach in ihr Gegenteil verkehrt. Der Euro ist gewiss nicht die Ursache der Krise, aber die Rigidität, die sich aus der Existenz der gemeinsamen Währung ergibt, hat die Spaltung Europas zweifelsohne verschärft. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Aus einem Allheilmittel wurde die gemeinsame Währung zu einem riesigen Mühlstein am Hals.
Hier liegt die Wurzel der tiefreichenden Interessensgegensätze, die sich in Europa immer mehr breit machen und die direkte Auswirkungen auf der ökonomischen und auf der politischen Ebene haben.
Die Auflösung des Euro würde einem Katastrophenszenario gleichkommen, dessen Folgen unvorhersehbar wären. Man denke nur an die Umstellung der öffentlichen Schulden, der dann drohende Handels- und Währungskrieg und die Störung der Finanz- und Handelsströme und der Produktionsketten. In den kritischsten Momenten der Schuldenkrise 2011/2 stand die herrschende Klasse am Abgrund. Der Chef der EZB Mario Draghi hat kundgetan, dass man „jedes Mittel“ zum Einsatz bringen wird, um die Pleite von Staaten abzuwenden. In der Tat ist es damals gelungen die Krise erst einmal zu bändigen.
Da ein Senken der Zinsraten keinen Effekt hatte, ging Draghi daher (unter Umgehung des durch das EZB-Statut festgesetzten Verbots, die Mitgliedsstaaten direkt durch den Kauf von Staatsanleihen zu unterstützen) dazu über, der Krise mit verschiedenen indirekten Kaufprogrammen entgegenzutreten. Die EZB versorgte die Banken großzügig mit EZB-Geld, damit diese ihrerseits die Zeichnung von Staatsanleihen garantieren.
Das Ausmaß dieser Operation ist alles andere als zweitrangig, wenn man bedenkt, dass alleine für Italien auf diesem Weg bis zu 270 Mrd. Euro flüssig gemacht wurden. Außerdem ließ Draghi das Programm der sogenannten OMT (Outright monetary transactions) absegnen, die es der EZB unter gewissen Umständen erlauben würde, auch direkt Staatsanleihen von krisengeschüttelten Staaten zu kaufen. Für diese Ankäufe gibt es von vornherein kein Limit. Der Mechanismus des OMT-Programms der EZB wurde in der Praxis bislang noch nicht aktiviert, doch die Ankündigung notfalls darauf zurückzugreifen, dürfte bisher einen abschreckenden Effekt gehabt und die Spekulation gegen Staatsschulden eingedämmt haben.
Es ist aber für alle offensichtlich, dass dieses Patt nicht dauerhaft halten wird. Daraus folgern jedoch in jedem Land zwei für die herrschende Klasse, ihre politischen Parteien und Denkschulen sich gegenseitig ausschließende Perspektiven.
Seit 2011 treten die deutschen Vertreter in der EZB gegen diese „unkonventionellen“ Vorschläge von Draghi auf, blieben damit jedoch im Direktorium der EZB allein auf weiter Flur.
In dieser Auseinandersetzung dreht sich alles um eine zentrale Frage: Ist es gerecht, die Staatsschulden der EU-Mitgliedsstaaten gemeinschaftlich zu verwalten oder soll sich jedes Mitgliedsland Finanzkrisen (einschließlich möglicher Bankenkrisen) alleine stellen?
Die Diskussion über die hochgepriesene „Bankenunion“, entpuppte sich nur als die nächste Seifenblase. Hier sollte ursprünglich die Abwicklung von Bankenkrisen auf europäischer Ebene garantiert werden, um so die Verbindung zwischen Bankenkrisen und Staatsschuldenkrise zu kappen. Die Idee eines ausreichend dotierten Gemeinschaftsfonds, mit dem man die potentiellen Verluste abdecken könnte, ist längst gestorben. Die Übereinkunft, die man dann im Dezember getroffen hat, sieht nun vor, dass der Schaden einer Bankenpleite in folgender absteigenden Reihenfolge getragen werden würde: 1. von den Aktionären, 2. den Gläubigern und 3. den Kontoinhabern (mit Einlagen über 100.000 Euro). Das ist eine scheinbar sehr rigide Position (es zahlen die Verantwortlichen), die im Fall einer schweren Krise de facto den Weg in einen neuen Crash à la Lehmann Brothers ebnen würde. Die Fonds für eine etwaige Intervention zur Bankenrettung, die von den Banken selbst gespeist werden, werden weiterhin nationalstaatlich verwaltet. Erst nach zehn Jahren (!) soll es zu einem gemeinsamen Fonds kommen, der dann jedoch erst ab 2026 (!!) voll operationstauglich sein würde, und der mit der „astronomischen“ Summe von 55 Mrd. Euro ausgestattet sein soll. Diese Mittel reichen vielleicht gerade einmal aus, die Krise von zwei Banken mittlerer Größenordnung abzuwickeln.
Wolfgang Münchau bilanzierte in der Financial Times (5. Jänner 2014) die bisherigen Unterfangen wenig überraschend so:
„Die Krise des Euro ist nicht zu Ende, aber es gibt eine wichtige Entwicklung. Die Debatte über die wirtschaftspolitischen Entscheidungsoptionen ist abgeschlossen. Mit der Entscheidung, keinen gemeinsamen Schutzwall für die europäischen Banken zu errichten, wurde das letzte Fenster zu irgendeiner Form von Rückversicherung für die Banken als Instrument zur Lösung der Krise zugemacht. Somit bleiben als Maßnahmen zur Krisenbekämpfung nur Austerität und Deflation in den Ländern der Peripherie über. Der Großteil der dafür notwendigen Strukturanpassungsmaßnahmen ist erst zu leisten. Außerdem hat man sich dazu entschlossen, dass die Schulden nur gesenkt werden können, indem man sie zurückbezahlt: nicht durch Inflation, durch einen Default oder einen Schuldenschnitt.
Wenn man sich all das auf der Grundlage der Erkenntnisse der Wirtschaftsgeschichte anschaut, dann handelt es sich dabei um ein Zusammenspiel von Entscheidungen, die, um es milde auszudrücken, schreckenerregend sind. Die einzigen Neuerungen, die dies ein wenig kaschieren, sind die beiden heute bereits existierenden Rückversicherungen: der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und das bisher noch nicht getestete OMT-Programm, das es der EZB erlaubt Schulden von Staaten, die sich in Schwierigkeiten befinden, aufzukaufen.“
Der Konflikt zwischen „nationaler Verantwortung“ und „gemeinschaftlichen Lösungen“ geht somit hinter der heuchlerischen Fassade von der „europäischen Eintracht“ weiter, wobei keine der beiden Seiten zu einem entscheidenden Schlag fähig ist.
Vor kurzem erst hat sich die deutsche Bundesbank dazu hinreißen lassen zu erklären, dass es im Fall einer besonders tiefen Krise angemessen sein kann, hohe Vermögensabgaben einzuführen.
„(Eine Vermögenssteuer) entspräche dem Prinzip der nationalen Eigenverantwortung, nach dem zunächst die eigenen Steuerzahler für Verbindlichkeiten ihres Staates einstehen, bevor die Solidarität anderer Staaten gefordert ist”. Frankfurt stellte in diesem Zusammenhang auch fest, dass es sich dabei um eine sehr riskante und extreme Maßnahme handelt, die nur in Ausnahmesituationen anzuwenden ist, zum Beispiel wenn es darum geht eine Staatspleite abzuwenden. Die Bundesbank kommt zu folgendem Schluss: “Es ist nicht Teil der europäischen Geldpolitik die Zahlungsfähigkeit der nationalen Banksysteme oder der Regierungen zu garantieren, und das kann nicht die notwendigen ökonomischen Anpassungen und das Säubern der Bilanzen ersetzen.” (Reuters, 27. Jänner 2014).
Die deutsche Bundesbank erklärt somit den Reichen den Krieg … aber nur jenen in den anderen Ländern. In der Zypern-Krise gab es dafür auch schon einen Präzedenzfall. Dem Zusammenbruch des Bankensystems auf Zypern wurde mit den von der Bundesbank geforderten Maßnahmen begegnet. In diesem Fall war das aber nicht so schwer zu verdauen, weil man damit in erster Linie Kapital von russischen Oligarchen, die sich zuvor in diesem Steuerparadies breitgemacht haben, heranzog.
„Europa und Demokratie“
Die tonangebenden Sektoren der Bourgeoisie in Europa halten weiterhin am Euro und an der EU fest. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Alternative dazu einem Sprung ins Ungewisse gleichkommt. „Europa und Demokratie“ bleiben somit zum jetzigen Zeitpunkt die beiden Hauptlosungen, rund um die man den Konsens zu bewahren versucht. Man warnt vor dem Anstieg der „populistischen, antieuropäischen Kräfte auf der Linken und der Rechten“, man stellt Vergleiche zu 1914 her und unterstreicht, dass nur die europäische Integration Frieden und Kooperation garantieren könne.
Dennoch sind die Begriffe „Europa und Demokratie“ im Kontext der Krise und einer wilden Sparpolitik weitgehend diskreditiert. Um dieses Projekt zusammenhalten zu können, ist die Bourgeoisie auf die Mitarbeit und Unterstützung der „reformistischen“ Kräfte angewiesen. Und auf die ist in dieser Frage auch Verlass. Sie halten den Schein aufrecht, indem sie die Perspektive einer anderen Wirtschaftspolitik und einer Demokratisierung der EU verbreiten.
Es sollte daher auch nicht verwundern, dass auch auf höchster Ebene die Kritik gegenüber der Troika und den diversen „Strukturanpassungsplänen“ zunimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Kritik quer durch alle politischen Lager geht. Erst kürzlich wurde ein „Bericht über die Untersuchung über die Rolle und die Tätigkeiten der Troika (EZB, Kommission und IWF) in Bezug auf Programmländer des Euroraums“ vorgelegt. Bei der gemeinsamen Präsentation seitens der europäischen Sozialdemokratie und der Europäischen Volkspartei kam man zu dem Schluss, dass die Troika mit den von ihr diktierten „Rettungsprogrammen“ für Griechenland, Portugal, Irland, Zypern durch eine leibhaftige europäische Regierung, die dem europäischen Parlament unterstellt wird, ersetzt werden solle. Der österreichische EU-Abgeordnete Hannes Swoboda, der auch Vorsitzender der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im EU-Parlament ist, geht so weit, dass er sagt: „Die Troika während der griechischen EU-Präsidentschaft auslaufen zu lassen, wäre ein echter Erfolg.“
In dem genannten Untersuchungsbericht wird vorgeschlagen, den IWF aus der Troika zu nehmen und durch einen „Europäischen Währungsfonds im Rahmen des Gemeinschaftsrechts“ zu ersetzen.
Klarerweise spielt bei diesen Vorschlägen auch die Angst vor schweren Wahlverlusten für die Parteien mit, die die Austeritätspolitik unterstützt haben. Es wäre jedoch zu verkürzt, einen solchen Positionswechsel rein mit der Sorge einiger SpitzenpolitikerInnen um ihre eigene Karriere zu begründen. Vielmehr handelt es sich dabei um einen Ausdruck für die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse angesichts einer Krise, die auch sieben Jahre nach ihrem Beginn noch lange nicht zu Ende ist. Und diese Perspektive sorgt natürlich auch in diesen Kreisen für Unbehagen.
Wer dazu tendiert, die politischen Auseinandersetzungen in Europa mit den Kategorien „progressive EuropäerInnen“ versus „konservative NationalistInnen“ oder gar extremer Rechter zu fassen, macht einen schweren Fehler. Vielmehr manifestieren sich hier Spaltungen in der herrschenden Klasse entlang von unterschiedlichen Interessenslagen und Perspektiven.
Die Europäische Integration und ihre Widersprüche
Der gemeinsame Markt und die Schaffung des Euro waren machtvolle Instrumente zur Konzentration und Zentralisierung des Kapitals, von denen die deutsche Industrie ganz besonders stark profitiert hat. Die Statistiken belegen das Abheben des deutschen Handelsüberschusses genau ab 1999, dem Jahr der Einführung der Gemeinschaftswährung. Zwischen 2006 und 2011 ging der Anteil der EU am Welthandel (abzüglich dem EU-Binnenhandel) von 17,3 auf 15,5 Prozent zurück, der relative Anteil Deutschlands nahm in dieser Zeitspanne jedoch zu.
Die europäischen Ziele bezüglich der Erhöhung der heimischen Industrieproduktion werden hauptsächlich an den Bedürfnissen Deutschlands angepasst, und sind an die Perspektive einer weiteren Stärkung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten geknüpft.
Doch daraus erwächst ein Widerspruch: die Einheitswährung untergräbt heute die Ausgangsbasis der deutschen Industrie, die durch den gemeinsamen europäischen Markt geschaffen wurde. Dies führt zu Spaltungen an der Spitze der herrschenden Klasse, auch in Deutschland selbst. Hier jene, die den Integrationsprozess vorantreiben wollen, und dort jene, die darüber nachdenken, einen Gang zurückzuschalten, z.B. in Form einer Rückkehr zu der Idee eines nord- und mitteleuropäischen Blocks. Die Gründung der rechtskonservativen AfD (Alternative für Deutschland), die über starke Unterstützung von wichtigen Teilen des Industriekapitals verfügt, ist ein weiterer Indikator für diese Spaltungen.
Durch die Krise spitzen sich auch die nationalen Widersprüche in Europa erneut zu. Die „Hilfspakete“ für Griechenland tragen nicht nur dazu bei, dass die Mehrheit der Lohnabhängigen und der PensionistInnen auf einen Zustand völligen Elends hinuntergedrückt werden. Indem man diesem Land Privatisierungen und die Rekapitalisierung der Banken aufzwingt, bringt man diese Unternehmen direkt in ein Abhängigkeitsverhältnis von ausländischen Kapitalgruppen.
Der Charakter der EU
All den schönen Worten zum Trotz kann es keine demokratische, progressive, sozial gerechte und ökologische EU geben. Die Utopie eines vereinten Europas auf kapitalistischer Grundlage – sollte es jemals Gestalt annehmen – käme einer weiteren ökonomischen und politischen Machtkonzentration auf Seiten der herrschenden Klasse gleich. Das wäre ein Instrument, das um ein Vielfaches machtvoller wäre als die heutigen Nationalstaaten und würde für den Angriff auf die Arbeitsbedingungen, die demokratischen Rechte und den Sozialstaat genutzt, um im Inneren eine arbeiterfeindliche Politik und nach Außen eine aggressive Politik gegenüber der internationalen Konkurrenz im Kampf um Märkte, Rohstoffe und strategische Positionen auf der ganzen Welt zu verfolgen.
In diesem Sinne kann man sagen, dass das Programm einer weiteren europäischen Integration oder gar die Bildung einer Föderation ganz dem Interesse der stärksten Sektoren des europäischen, allen voran des deutschen Kapitals, entsprechen würde.
Der zentrale Punkt ist jedoch, dass das kapitalistische System nichts mehr zu bieten hat. Vor 150 Jahren bedeutete die Vereinigung Deutschlands oder Italiens eine Ausweitung der Märkte, die Schaffung der Basis für die Herausbildung einer modernen Industrie und somit für eine echte wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die Befürworter einer europäischen Föderation nahmen immer schon gerne Bezug auf die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Doch die Amerikanische Revolution stellte gerade deshalb einen äußerst progressiven Akt dar, weil dadurch einer im Aufstieg befindlichen Bourgeoisie der Weg geebnet wurde. Sie war Trägerin eines Systems, das bei aller Ungleichheit und Ungerechtigkeit für die Menschheit einen gewaltigen Sprung vorwärts bedeutete.
Heute würde der Versuch, Europa auf kapitalistischer Grundlage zu vereinigen, nur sozialen Rückschritt bedeuten; er spaltet die herrschende Klasse und wird Widerstand seitens der Arbeiterklasse auslösen. Die Lohnabhängigen haben schon bisher die Wunder dieses „geeinten Europas“ in Form von brutalen Kürzungen im Sozialbereich und bei den öffentlichen Pensionen, von Privatisierungen, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und dem Abbau von Arbeitsrechten zu Genüge erlitten.
Welche Demokratie, welches „Europa der Völker“ soll auf dieser Grundlage entstehen? Das ist die Frage, auf die bislang keiner der führenden Köpfe in der reformistischen Linken eine Antwort geben konnte.
Auf der ganzen Welt wird die bürgerliche „Demokratie“ immer inhaltsleerer; die Macht konzentriert sich in immer weniger Händen; überall werden repressivere Gesetze verabschiedet; alle grundlegenden Entscheidungen werden jeglicher öffentlicher Kontrolle entzogen; die Regierungen wechseln einander ab, ohne dass sich auch nur irgendetwas ändert… wenn all das passiert, dann ist die Schuld nicht bei irgendeiner „neoliberalen Ideologie“ zu suchen, sondern dann lässt sich das nur damit erklären, dass das kapitalistische Projekt der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung einfach nichts mehr zu bieten hat.
Die EU-Wahlen
Die gegenwärtige Instabilität der Eurozone führt mehr und mehr zu einer nationalstaatlichen Verwaltung der Krise nach den Vorstellungen der deutschen Regierung und der Bundesbank. Eine solche Antwort schwächt aber perspektivisch noch mehr die ohnedies schon krisengeschüttelten Länder und macht neuerliche Krisen, die die Basis des Euro unterminieren würden, unvermeidlich. Die Manöver von Draghi und die instabilen Kompromisse, die von Mal zu Mal durchgesetzt werden, können diese grundlegenden Widersprüche nicht auflösen.
Ein Sektor der bürgerlichen Kräfte tritt daher für die Idee einer politischen Union ein, d.h. Europa soll zu einem Bundesstaat nach dem Vorbild der USA weiterentwickelt werden. So z.B. Viviane Reding, Mitglied der Europäischen Volkspartei und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission: „Wir müssen die Vereinigten Staaten von Europa mit der Kommission als Regierung und zwei Kammern, dem Europäischen Parlament und einem ‘Senat’ der Mitgliedsstaaten, aufbauen.” (The Telegraph, 8. Jänner 2014)
Diese Position wird umso lauter vorgetragen, je größer die Angst ist, dass „populistische“, mehr oder weniger EU-feindliche Parteien an Einfluss gewinnen. Es gibt Schätzungen, dass solche Parteien bis zu einem Drittel der Mandate im kommenden EU-Parlament besetzen könnten.
Meinungsunterschiede in Bezuge auf die Perspektiven für Europa haben auch die liberale Fraktion, die bisher drittstärkste Kraft im Europaparlament, gespalten. Anfangs sollte Olli Rehn, der bisherige Kommissar für Wirtschaft und Währung, für die Liberalen ins Rennen gehen, doch dann setzte sich Guy Verhofstadt als Spitzenkandidat durch, was als Sieg der „Europäer“ rund um die deutsche FDP gewertet werden kann.
Die europäischen Institutionen werden mittlerweile allgemein mit der harten Austeritätspolitik in Verbindung gebracht, wobei diese Politik von einer anonymen Bürokratie in Brüssel verabschiedet wird und über kein demokratisches Mandat der Bevölkerung verfügt. In dem Versuch, diesen Institutionen trotz alledem einen Anschein von Glaubwürdigkeit zu verabreichen, wurde eine kosmetische Änderung beim Prozedere zur Ernennung des EU-Kommissionspräsidenten vorgenommen. Der Kommissionspräsident wird nach der Europawahl vom Europäischen Rat also mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen und anschließend vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit der Mitglieder gewählt. Das heißt das Europaparlament hätte erstmals auch die Möglichkeit, den Kandidaten des Rats abzulehnen. Aus dieser „demokratischen“ Kosmetik leitet sich die Möglichkeit ab, die eigene Liste mit dem Namen des Spitzenkandidaten zu verbinden. Noch vor den Liberalen hat sich die Sozialdemokratie mit dem Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz von der SPD, eine Frontfigur ausgesucht. Es ist natürlich kein Zufall, dass gerade die Sozialdemokratie jene politische Kraft ist, die diese demokratische Maskerade mit der größten Überzeugung mitspielt.
Die Europäische Volkspartei, die stärkste Fraktion im Europaparlament, die den aktuellen Kommissionspräsidenten Barroso und 11 Ministerpräsidenten in den EU-Mitgliedsstaaten stellt, war ihrerseits gespalten und einigte sich schließlich auf Juncker, einen „Europäer“, der als Mann von Angela Merkel gilt.
Tsipras und sein Programm
Die Europäische Linkspartei (ELP), zu der Syriza (Griechenland), Izquierda Unida und PCE (Spanien), Rifondazione comunista (Italien), KPF und Front de Gauche (Frankreich), die Linke (Deutschland), der Bloco de Esquerda (Portugal) usw. gehören, hat im Dezember 2013 auf ihrem Kongress beschlossen, dass Alexis Tsipras ihr Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission sein soll. Wir wollen an dieser Stelle das politische Programm, das diesem Vorschlag zugrunde liegt, analysieren, um die Perspektiven eines solchen Projektes einschätzen zu können. Sind die Hoffnungen vieler Linker in Bezug auf dieses Programm gerechtfertigt? Ist es möglich, mit dem von Tsipras vorgeschlagenen Programm die Rechte der ArbeiterInnen wieder durchzusetzen und die Arbeitslosigkeit, Austerität und Massenverarmung zu bekämpfen?
Diese Frage ist alles andere als eine akademische. In mehreren europäischen Ländern (Griechenland, Spanien und Frankreich) haben die Kräfte, die Teil der ELP sind, in den vergangenen Jahren bei Wahlen stark zugelegt. Die Opposition gegen die herrschende Politik, die sowohl von Rechtsparteien wie auch der Sozialdemokratie betrieben wird, hat große Proteste und Massenbewegungen hervorgebracht, teilweise spiegelt sich dies auch in linken Wahlerfolgen.
Es ist daher umso wichtiger zu verstehen, welche politische Alternative, welches Programm und welche politische Perspektive die Linke angesichts der anstehenden Auseinandersetzungen vertreten sollte.
Ende Jänner hat Tsipras eine „Programmatische Erklärung“ veröffentlicht, in der er seine Konzepte darlegte. Hier seine zentralen Punkte:
- Schluss mit der Austeritätspolitik.
- Für einen europäischen New Deal, der durch günstige Kredite seitens der EZB finanziert werden soll.
- Darlehen an Klein- und Mittelbetriebe.
- Nutzung des Europäischen Strukturfonds zur Schaffung von Beschäftigung.
- Aussetzung des verpflichtenden Nulldefizits zumindest in Phasen der Rezession.
- Die EZB soll zu einem Kreditgeber letzter Instanz werden, d.h. Geld zur Finanzierung der öffentlichen Schulden drucken.
- Länder mit einem Handelsüberschuss müssen ihre Bilanz gegenüber den anderen EU-Mitgliedsstaaten ausgleichen, d.h. sollen weniger exportieren und mehr importieren.
- Eine europäische Schuldenkonferenz nach dem Vorbild jener Konferenz im Jahre 1953, bei der Deutschland Schulden erlassen wurden und der Wiederaufbau der deutschen Nachkriegsdemokratie unterstützt wurde. Eurobonds und Vergemeinschaftung der Schulden auf europäischer Ebene.
- Einführung eines Trennbankensystems nach dem Modell des Glass-Steagall Act von US-Präsident T. Roosevelt (1933), das zwischen Investmentbanken und Sparkassen unterscheidet.
- Europäische Gesetzgebung zur Besteuerung der Steuerparadiese.
Zusammenfassung: Die Krise ist eine Folge des Neoliberalismus und nicht der Widersprüche des kapitalistischen Systems; das Programm ist folglich von einem klassischen Keynesianismus inspiriert und beinhaltet keinerlei Klassenstandpunkt; die Eurozone wird als „idealer Raum“ für eine reformistische Politik definiert; der Hauptansprechpartner für die ELP ist die europäische Sozialdemokratie, die auch gezielt angesprochen wird: „Die Realität gewährt der europäischen Sozialdemokratie nicht mehr Zeit. Die SozialdemokratInnen müssen hier und jetzt eine historische Wende vollziehen und sich selbst und gegenüber der Öffentlichkeit als eine politische Kraft der demokratischen Linken definieren.“
Von Klassenkampf ist in dieser Erklärung keine Rede mehr, und so wendet man sich ganz der Aufgabe zu, die herrschende Klasse darin zu beraten, die richtige Politik zur Milderung der sozialen Krise anzuwenden. Man versucht in dieser Hinsicht die Bourgeoisie mit Schreckensszenarien zu beeindrucken (wenn sich nichts ändert, wird Europa untergehen, wir der Euro auseinanderbrechen, wird die extreme Rechte immer stärker werden usw.)
Schein und Wirklichkeit
Die europäische Linke rund um diese Linie zu scharen, bedeutet, dass man letztlich eine der Fraktionen der herrschenden Klasse unterstützt und deren Antlitz mit einer „sozialen“ und „demokratischen“ Rhetorik ansehnlicher macht. Mit anderen Worten: Man trägt Wasser zu den Mühlen des Gegners.
Um die Realität zu verändern, reicht es nicht, ständig von der „Solidarität“, der „Demokratie“ und dem „Europa der Völker“ zu reden. Unter kapitalistischen Bedingungen kann es nur ein kapitalistisches Europa geben; wenn die Bourgeoisie das Sagen hat, dann wird auch der Staat ihre Interessen verteidigen. Das gilt sowohl für die nationalstaatliche Ebene wie auch für die Ebene der EU. Diese grundlegende Aussage nicht zum Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen zu machen, muss dazu führen, dass man sich selbst und die ArbeiterInnen betrügt. Es ist kein Zufall, dass die Bürgerlichen heute alle Kräfte, die ihrem Projekt Widerstand entgegenbringen, mit dem Zusatz „antieuropäisch“ zu verunglimpfen versuchen; die Loyalitätserklärung zu „Europa“ wird als das grundlegende Vertrauenszertifikat angesehen.
Das Manifest von Tsipras bietet genau dieses Zertifikat: „Wir müssen Europa vereinen und auf einer demokratischen und progressiven Grundlage neu errichten.“ Und weiter: „Zu diesem Zweck müssen wir den Wirkkreis der öffentlichen Intervention erweitern und die Teilnahme der BürgerInnen in der europäischen Politik und der Verwaltung der öffentlichen Dienstleistungen ausbauen. Wir müssen die Institutionen stärken, die eine legitime demokratische Basis haben, wie das Europäische Parlament.“
Schon im September war Tsipras bei seinem Auftritt im Bruno Kreisky-Forum in Wien in dieser Frage sehr klar. Hier einige Aussagen aus seiner Rede. Tsipras zeigte sich erfreut, mit seinen „österreichischen Freunden zusammentreffen zu können, da diese mit ihm dieselbe Sorge um das gemeinsame Haus Europa teilen. Europa wird gegenwärtig von einer gefährlichen sozialen und politischen Zeitbombe bedroht, die tief in seinen Fundamenten schlummert. Eine Zeitbombe, die wir entschärfen können und müssen.” Er manifestiert seine Befürchtung „dass das neuerliche Hervortreten des Nazismus in Zusammenhang steht mit den rigiden Sparmaßnahmen, die Griechenland von der Troika der Kreditgeber und mehreren aufeinanderfolgenden griechischen Regierungen aufgezwungen wurden – insbesondere der gegenwärtig an der Macht befindlichen, einer Koalitionsregierung, bestehend aus der konservativen Partei Neue Demokratie und der PASOK.“ Er beklagt, dass die europäische Sozialdemokratie ab Beginn der 1990er Jahre auf eine Politik zur Regulierung des Kapitalismus verzichtet hat: „Wären die Sozialdemokraten dem Erbe solcher Staatsmänner wie es Bruno Kreisky, Willy Brandt oder Olof Palme waren, treu geblieben, hätte sich Europa nicht in die neoliberale Wüste von heute verwandelt.“ In der Folge zog er einen Vergleich zur Krise von 1929, die aus seiner Sicht durch die fixen Wechselkurse in Verbindung mit dem Goldstandard verursacht wurde. „Die damaligen Regierungen bestritten, dass es Fehler in der Architektur des Gesamtgebäudes gegeben habe, bestanden auf Sparmaßnahmen und darauf, der Krise durch eine Politik der Nettoexporte zu entkommen.“
Es ist hier nicht der Ort, die gesamte Analyse von Tsipras, der die Ursache für die Krise in der Währungsunion und der Art ihrer politischen Verwaltung sieht, nachzuzeichnen; es reicht darauf hinzuweisen, dass die Idee, dass wir es mit einer Krise des kapitalistischen Systems zu tun haben, in dieser Rede keine Rolle spielt. Wahrscheinlich wollte Tsipras seine sozialdemokratischen Gesprächspartner (und vor allem deren Herren, die Griechenland die Schlinge um den Hals gelegt haben) nicht vor den Kopf stoßen und legte daher folgenden Vorschlag für ein Anti-Krisenprogramm vor:
„Jetzt, da wir uns mitten darin befinden, wären die Kosten eines Rückbaus dieser Strukturen für uns alle horrend hoch. Selbst wenn wir also finden, dass diese Währungsunion schrecklich ist und sie unsere Völker mit ihrer Einheitswährung spaltet, haben wir die Pflicht, ihren Umbau anzugehen.” “Leider verhält es sich so, dass, wenn die Banker, die herrschenden Politiker und die Eurokraten ihren Willen bekommen, Europa zerfallen wird.” Daher: „SYRIZA wird die nächsten Wahlen in Griechenland gewinnen. Dann stehen wir vor der Aufgabe, grundlegende politische Änderungen vorzunehmen und dabei Erfolg zu haben. Eine Linksregierung in Griechenland wird Europas Sozialdemokraten, Europas unabhängig denkenden Liberalen und allen anderen EuropäerInnen, die nicht wollen, dass Europa in einem Albtraum versinkt, die Hände entgegenstrecken. Und wir werden sie alle bitten, sich unserem gemeinschaftlichen Projekt anzuschließen: dem Projekt der Stabilisierung der Eurozone als einem ersten Schritt hin zu einem offenen, demokratischen und geschlossen agierenden Europa. Um dies zu erreichen, werden wir mit den wichtigsten Schaltstellen des institutionalisierten Neoliberalismus in Frankfurt, in Berlin, in Brüssel und in Paris in energische Verhandlungen treten müssen.“
„Eine SYRIZA-Regierung wird einen europäischen Marshallplan vorschlagen, der eine funktionierende Bankenunion, eine zentralisierte Schuldenverwaltung durch die EZB und ein umfassendes staatliches Investitionsprogramm beinhalten wird.“
„Insbesondere wünschen wir uns eine spezielle europäische Schuldenkonferenz für die gesamte Peripherie, analog zu der Londoner Schuldenkonferenz von 1953, die seinerzeit den Schulden Deutschlands gewidmet war und auf der der Erlass eines großen Teils der Schulden, die Stundung der Zinszahlungen und eine Wachstumsklausel beschlossen wurden.“
“So lauten die Minimalforderungen einer zukünftigen SYRIZA-Regierung.
Diese können bereits heute ohne irgendwelche Änderungen am Vertrag gewährt werden.
Ohne, dass deutsche oder österreichische SteuerzahlerInnen finanziell für die Peripherie aufkommen müssen.
Ohne dass unsere Parlamente in irgendeiner Weise Abstriche an ihrer Souveränität machen müssten.
(…) Die einzige Alternative wäre, den langsamen Tod meiner Nation und den langsamen Zerfall der Eurozone, der letztlich auch die Zerstörung der Europäischen Union nach sich ziehen würde, in Kauf zu nehmen.
Abschließend möchte ich betonen, dass meine Partei, SYRIZA, überaus motiviert ist, eine europäische Agenda zur Rettung der Eurozone als ein Mittel voranzubringen, das Griechenland die Möglichkeit zum Durchatmen geben würde.
(…) Lasst uns unsere Kräfte vereinen, um das Richtige zu tun! Überall in Europa.“
Für eine sozialistische Föderation Europas!
Die Krise in der Eurozone ist noch lange nicht überwunden. Mit neuen, noch heftigeren Erschütterungen ist zu rechnen: Wirtschafts- und Finanzkrisen, politische Krisen und nicht zuletzt neuerliche Massenerhebungen. Griechenland war nur das Vorspiel. Auf diese Perspektive muss sich die Linke in Europa vorbereiten. Wir sind nicht die Ratgeber der herrschenden Klasse, sondern es geht darum für Millionen ArbeiterInnen und Jugendliche, die sich in einer Sackgasse befinden und keine andere Möglichkeit haben, als zu rebellieren, eine reale Alternative zu schaffen.
Wenn Tsipras und die „LinkseuropäerInnen“ davon überzeugt sind, dass Europa das ideale Terrain für eine neue Reformpolitik ist, dann gehen andere in der Linken davon aus, dass die „Wiederherstellung der nationalen Souveränität“, d.h. die Auflösung des Euro, Spielräume für eine alternative Wirtschaftspolitik eröffnen kann. Die zweite Position wird vor allem von Strömungen vorgetragen, die sich in einer stalinistischen Tradition sehen. Sie haben das Konzept vom „Sozialismus in einem Land“ durch die Idee der „Währungssouveränität“ ersetzt…
In dieser Spaltung der Linken zeigt sich aber der ganze ideologische Rückschritt nach Jahrzehnten des Reformismus und Stalinismus als führende Strömungen in der Arbeiterbewegung. Große Teile der Linken sind heute unfähig einen unabhängigen Klassenstandpunkt einzunehmen und suchen daher mögliche Bündnispartner aus dem bürgerlichen Lager.
Doch die Geschichte schreitet schneller voran als jene Teile der Linken, die sich noch immer damit aufhalten, von einer unmöglichen Rückkehr in die Vergangenheit zu träumen.
Wenn – oder besser, wann – die Krise in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien zu seinem entscheidenden Punkt kommen wird, wird eine Linksregierung vor Entscheidungen gestellt, die keine halbherzigen Lösungen erlauben. Dann heißt es: Entweder „den Euro retten“, wie Tsipras vorschlägt, oder man bricht mit der EU und schlägt einen Weg ein, der zum Sturz des Kapitalismus führt. Die ersten Schritte dorthin wären die Weigerung die Schulden zurückzuzahlen, die Verstaatlichung der Banken, der Schlüsselindustrien und Schalthebel der Wirtschaft, Kapitalverkehrskontrollen und die Kontrolle des Außenhandels. Alles andere kann in solch einer Situation nur zu einer verheerenden Niederlage führen.
Das Argument „heutzutage wird auf der Ebene des Nationalstaats nicht mehr entschieden, der wahre Kampf wird auf der europäischen Ebene geführt“, klingt auf den ersten Blick sehr radikal, doch in der Praxis läuft das darauf hinaus, dass man den ArbeiterInnen in Griechenland sagt, sie könnten ohnedies nichts zur Lösung ihrer Probleme beitragen, bis es nicht in ganz Europa eine linke Massenbewegung gibt.
Die ungleichen Ausgangsbedingungen unter kapitalistischen Verhältnissen, die durch die Krise noch verschärft wurden, machen es unvermeidlich, dass sich dieser Prozess über den Bruch eines oder mehrerer „schwacher Glieder“ im Inneren Europas entfaltet. Die Schwächung der Verbindungen zwischen den diversen Bourgeoisien innerhalb der EU, die Verschärfung der Gegensätze, die Tatsache, dass die politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen immer offener zum Vorschein kommen, all das ist nicht der Beginn des Faschismus oder der Barbarei, wie die ReformistInnen beklagen. Es ist vielmehr ein Prozess, der eine revolutionäre Perspektive begünstigen und die Reaktionsfähigkeit der herrschenden Klasse extrem schwächen kann. Die EU mag unter vielen Gesichtspunkten gescheitert sein, doch einen „Erfolg“ hat sie zweifelsohne gehabt: Die EU ist ein ausgezeichnetes Mittel, um die Kräfte der europäischen Bourgeoisie zu konzentrieren und die Fähigkeit der einzelnen Staaten zu erhöhen, wenn es darum geht, die Kosten der Krise auf die ArbeiterInnen abzuwälzen. Immer wenn die ArbeiterInnen versuchen das Haupt zu erheben, sei es in Griechenland oder in Spanien, formiert sich sofort die „Einheitsfront“ der herrschenden Klasse, die mit dem Schlachtruf „Europa verlangt es!“ die Reihen schließt, die leisen Klagen der Gewerkschaftsbürokratien zum Schweigen bringt und die eigene politische Agenda gnadenlos durchpeitscht.
Die Krise der EU, als Teil der generellen Krise des Kapitalismus, wird insofern einen progressiven Aspekt haben, als sie sowohl die Bourgeoisie wie auch die Bürokratien an der Spitze der Arbeiterbewegung schwächen wird und einer revolutionären Situation auf unserem Kontinent den Boden aufbereiten kann.
Der Bruch mit der bürgerlichen Europapolitik ist eine unumgängliche Vorbedingung, um in einer solchen Situation den Herausforderungen gerecht zu werden. Nur indem man die Herrschaft des Kapitals beseitigt, kann man den Weg frei machen für die einzig fortschrittliche Form einer europäischen Integration, einer sozialistischen und demokratischen Förderation. Sozialistisch in dem Sinn, dass Europas Ökonomie auf der Grundlage öffentlichen Eigentums an den Banken und Schlüsselindustrien und deren kollektiven Verwaltung in den Dienst der gesamten Gesellschaft gestellt werden soll; demokratisch, weil die Völker aus freiwilligen Stücken Teil dieser Föderation sein sollen, mit dem Recht frei entscheiden zu können, ob sie Teil von ihr werden bzw. bleiben wollen.
Dieser Artikel erschien als Sonderbeilage der Funke Ausgabe 124 (April 2014).
Veranstaltungstipp: Europa und die Linke, 25. April, 19:00, Wien