Südafrika hat vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel ein Verfahren wegen Völkermord angestrengt. Diese historische Initiative hat weltweit die Unterstützung von Millionen Menschen gefunden, die ein Ende der Kriegsgräuel in Gaza wünschen. Josh Holroyd und Joe Attard erklären, warum wir uns aber nicht auf das Völkerrecht verlassen können.
Südafrika wirft dem Staat Israel vor, Handlungen durchgeführt oder geduldet zu haben, welche gegen das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verstoßen, das 1948 als Antwort auf den Schrecken des Holocaust verfasst wurde. Die Entscheidung, ob Israel in Gaza einen Genozid begeht, wird zwar Jahre dauern, für die internationale Reputation Israels bedeutet dieser Vorstoß jedoch einen schweren Schlag.
Vertiefung der Gräben
Auf jeden Fall bringt dieser Fall all jene Verteidiger einer liberalen „regelbasierten Weltordnung“ in Erklärungsnot, die in den letzten Monaten bedingungslos den Krieg gegen Gaza unterstützt haben. Auf der anderen Seite bedeutet dies Rückenwind für die globale Palästina-Solidaritätsbewegung, die einem medialen Trommelfeuer und staatlicher Repression ausgesetzt ist.
Wir sehen, wie die Kluft zwischen den ehemaligen Kolonialmächten im Westen und dem Rest der Welt hier einen Ausdruck findet. Man muss sich nur die Liste der Länder ansehen, die öffentlich ihre Unterstützung für Südafrikas Antrag erklärt haben (die Arabische Liga, Bolivien, Brasilien, Pakistan, Kolumbien, Kuba…) und die Handvoll, die sich auf der Seite Israels positioniert haben, um zu erkennen, dass dieser Fall in Wirklichkeit zu einem politischen Schlagabtausch über die Verbrechen und die Heuchelei des westlichen Imperialismus selbst geworden ist.
Völkermörderische Handlungen
Was die israelische Armee in Gaza anrichtet, ist zweifelsohne ein schweres Verbrechen, dem bereits mehr als 25.000 Menschen, davon 70% Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind. Israels Überfall hat den gesamten Gazastreifen unbewohnbar gemacht. Israel hat die Verteilung von medizinischen Hilfsgütern, Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff durch Einführverbote und die Zerstörung von Straßen verunmöglicht. Die meisten Gesundheitseinrichtungen sind zerstört und 60.000 Menschen, die von israelischen Bomben verletzt wurden, befinden sich in einer kritischen Lage. Das Gericht hörte entsetzliche Berichte von Amputationen und Kaiserschnitten, welche in „kaum funktionsfähigen“ Krankenhäusern ohne Anästhesie durchgeführt werden mussten – Szenen „wie aus einem Horrorfilm“. Ganz zu schweigen von den mangelnden sanitären Einrichtungen. Der Anstieg von Durchfallerkrankungen bei Kindern unter fünf Jahren um 2.000% führt gemeinsam mit extremer Unterernährung zu einem tödlichen Kreislauf. Bis zu 93% der Bevölkerung in Gaza hungert.
Südafrika erhebt angesichts dieser Fakten und etlicher Stellungnahmen führender israelischer Politiker den Vorwurf, dass Israel die Absicht verfolgt, den Palästinensern „irreparable Schäden“ anzutun. Um dies zu verhindern, möge das Gericht Maßnahmen setzen. Doch ist der Gerichtshof bereit, zu handeln, wenn der angeklagte Staat ein US-Verbündeter ist?
Keine Illusionen
Es muss gesagt werden, dass dieses Verfahren vor einem zahnlosen Gericht weit hinter dem zurückbleibt, was notwendig wäre, um den palästinensischen Freiheitskampf zu unterstützen.
Was immer der IGH entscheiden wird, das Ergebnis wird politisch explosiv sein. In Wahrheit wird dieser Fall den Beweis liefern, dass das sogenannte „Internationale Recht“ alles andere als wirkmächtig ist. Südafrikas Klage gänzlich abzuweisen würde bedeuten, dass man der ganzen Welt verkündet, dass ein Staat zehntausende unschuldige Menschen einer einzelnen ethnischen Gruppe massakrieren kann, ohne dass dies Konsequenzen nach sich ziehen würde. Der IGH würde sich damit zum Komplizen Israels und des westlichen Imperialismus machen.
Selbst wenn das Gericht versucht, sich vor einer Entscheidung zu drücken, indem es Israels fadenscheiniges Argument anerkennt, dass es gar keine Jurisdiktion hätte, würde dies bloß (zu Recht) als ein rückgratloser Versuch gesehen werden, sich aus der Verantwortung zu stehlen. In Wirklichkeit würde der IGH damit eine stumme Befürwortung der Zwangsumsiedlung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza liefern.
Die Verhängung vorsorglicher Maßnahmen, selbst wenn sie hinter Südafrikas Forderungen zurückbleiben, würde einer offiziellen Anerkennung gleichkommen, dass zumindest eine plausible Gefahr eines Genozids in Gaza gegeben ist. Ein solches Urteil würde die Propagandamaschine der israelischen Regierung und seiner Verbündeten, die ständig auf Israels „Selbstverteidigungsrecht“ pochen, völlig entkräften.
Aber solch eine Anordnung würde letztlich bloß die völlige Handlungsunfähigkeit des Gerichtes offenbaren. Die Vollstreckung der Entscheidungen des IGH unterliegt der UNO selbst, nämlich dem Sicherheitsrat, in welchem sowohl die USA als auch das Vereinigte Königreich ständige Mitglieder mit Vetorecht sind. Jegliche Maßnahmen, die gegen Israel angeordnet würden, wären genauso wirkungslos wie die unzähligen UN-Resolutionen gegen Israels Besatzungsregime, die in der Vergangenheit verabschiedet wurden.
Netanjahu machte seinen Standpunkt recht deutlich, als er Journalisten erklärte: „Niemand wird uns stoppen, nicht Den Haag, nicht die Achse des Bösen und auch sonst niemand“. Israel ist fest entschlossen, diesen Krieg weiterzuführen.
Deswegen müssen wir der Aussage der südafrikanischen Anwältin Adila Hassim widersprechen, dass „nichts dieses Elend beenden wird, außer eine Anordnung dieses Gerichts“. Es wäre völlig falsch, Illusionen in die Institutionen des Internationalen Rechts zu haben, weil diese letztendlich nichts anderes sind als ein Feigenblatt der Großmächte.
Wenn das Schicksal der Menschen in Gaza von einer Verordnung des IGH abhängt, so sind sie dem Untergang geweiht. Nur die Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder können dem Krieg Israels ein Ende setzen. Appelle an den Imperialismus werden nicht helfen. Es braucht eine starke Solidaritätsbewegung mit dem Befreiungskampf der Palästinenser, einen Volksaufstand in Palästina und revolutionäre Bewegungen im gesamten Nahen Osten, die die israelische Regierung und alle reaktionären Regime in der Region hinwegfegen. Der beste Beitrag, den wir dazu leisten können, ist der entschlossene Widerstand gegen die imperialistischen Bestrebungen unserer eigenen Regierung.
(Funke Nr. 220/26.1.2024)