Das folgende Dokument wurde am 25. Juli 2018 auf der Weltkonferenz der Internationalen Marxistischen Tendenz (IMT) beschlossen.
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch
Es sind zehn Jahre seit dem Zusammenbruch der Finanzsysteme von 2008 vergangen. Es handelte sich hierbei um einen dieser entscheidenden Momente in der Weltgeschichte, die eine fundamentale Veränderung der Lage bewirken, wie 1914, 1917, 1929 und 1939-45. Es ist deshalb jetzt ein angemessener Zeitpunkt, eine Bilanz des letzten Jahrzehnts zu ziehen.
Diese Krise unterschied sich qualitativ von alle anderen in der Vergangenheit. Es handelte sich nicht um eine normale zyklische Krise, sondern um eine Widerspiegelung der organischen Krise des Kapitalismus. Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch von 2008 kämpft die Bourgeoisie immer noch damit, sich von der Krise zu befreien, die das Gleichgewicht des kapitalistischen Systems zerstört hat. In einem sehr begrenzten Umfang kann man von einer teilweisen Erholung sprechen. Es ist die schwächste wirtschaftliche Erholung in der Geschichte. Selbst in den 1930ern war der Wiederaufschwung größer. Und aus dieser Tatsache folgen mehrere Dinge.
Vor zehn Jahren haben wir vorhergesagt, dass alle Versuche der Bourgeoisie das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen, das politische und soziale Gleichgewicht zerstören würden. Das hat sich durch die weltweiten Ereignisse bestätigt. In einem Land nach dem anderen haben die Versuche der Regierungen, die Wirtschaft mit verzweifelten Bemühungen durch Austeritätspolitik anzukurbeln (was ihnen nicht gelungen ist), soziale Explosionen von einem absolut beispiellosen Ausmaß vorbereitet.
“Konzentrierte Ökonomie”
Lenin sagte, dass Politik konzentrierte Wirtschaft ist. Letztendlich sind all diese Krisen ein Ausdruck für die ausweglose Lage des Kapitalismus, der nicht länger in der Lage ist, die Produktivkräfte so weiterzuentwickeln wie in der Vergangenheit. Das bedeutet natürlich nicht, dass es überhaupt keine Entwicklung der Produktivkräfte gibt.
Weder Marx, noch Lenin oder Trotzki haben je behauptet, dass es im Kapitalismus jemals eine Obergrenze für die Entwicklung der Produktivkräfte gibt. Es ist ein relatives, kein absolutes Phänomen. Es kann immer eine Entwicklung geben, wie sie in der vergangenen Periode in China stattgefunden hat. Aber im Weltmaßstab gibt es nichts Vergleichbares zur Entwicklung der Produktivkräfte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der Marxismus erklärt, dass das Geheimnis der Lebensfähigkeit jedes Wirtschaftssystems das Erreichen der maximalen Wirtschaftlichkeit bei der Arbeitszeit ist. Eine der wichtigsten Elemente bei der Entwicklung des Kapitalismus war eben genau die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Über 200 Jahre hat der Kapitalismus die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft auf ein ungeahntes Niveau gesteigert. Aber dieser Fortschritt erreicht momentan seine Grenzen.
Eine Studie des Center for Economic and Policy Research zur Produktivität vom September 2015 stellte fest, dass zwischen 2007 und 2012 die weltweite Produktivität jährlich um 0,5% gestiegen ist, das ist die Hälfte der Steigerungsrate aus dem Zeitraum von 1996 – 2006. In der jüngsten Vergangenheit zwischen 2012 und 2014 kam diese allerdings zu einem kompletten Stillstand von 0%. In Ländern wie Brasilien und Mexiko war sie sogar negativ. Der Bericht kommt zu dem Schluss: „Dies ist eines der beunruhigendsten und zweifelsohne wichtigsten Phänomene, welches Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hat. (http://voxeu.org/article/global-productivity-slump )
Diese Zahlen sind ein deutliches Indiz dafür, dass der Kapitalismus sich in einer systemischen Krise befindet. Die sehr langsame Steigerung der Arbeitsproduktivität – und in einigen Fällen deren Rückgang – ist ein Symptom für die ausweglose Lage des Kapitalismus, der nicht länger in der Lage ist, die großen Erfolge der Vergangenheit zu erreichen
Die Ursache für das Problem liegt im historisch niedrigen Investitionsniveau: Die Bruttoinvestitionen sind in der Europäischen Union und den USA zum ersten Mal seit den 1960ern unter 20% des BIP gefallen, während der Kapitalverbrauch und die Kapitalentwertung steigen. In der früheren kolonialen Welt entfachte ein Preisanstieg bei den Rohstoffen eine kurzzeitige Erhöhung der Investitionen, aber diese sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen.
Das Versäumnis in die Produktion zu investieren ist nicht die Folge eines Geldmangels. Im Gegenteil, die Großkonzerne schwimmen in Geld. Adam Davidson stellte in einem Artikel in The New York Times vom Jänner 2016 fest: „Die US-Unternehmen verfügen gegenwärtig über 1,9 Billionen Dollar, die einfach nur rumliegen“, dieser „Tatbestand ist in der Wirtschaftsgeschichte einzigartig …“ Der Autor des Artikels betrachtet dies als „Mysterium“, es zeigt aber, dass die Kapitalisten bei der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft nicht über profitable Investitionsbereiche verfügen. (Why Are Corporations Hoarding Trillions? New York Times, January 20, 2016, (www.nytimes.com/2016/01/24/magazine/why-are-corporations-hoarding-trillions.html?mcubz=0 )
Aktuellere Daten der US Federal Reserve veranschlagen die Höhe „liquider Vermögen von Nicht-Finanzfirmen, welche harte Währung, ausländische Einlagen, Geldmarktfondsanteile und Investmentfondsanteile „auf einem Rekordwert von 2,4 Billionen Dollar im dritten Quartal“ von 2017. (https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-12-07/corporate-america-is-flush-withrecord-2-4-trillion-in-cash )
Das System ertrinkt im wahrsten Sinne des Wortes in einem Überschuss an Reichtum. Es gleicht dem Zauberlehrling, der Kräfte heraufbeschworen hat, die er nicht kontrollieren kann. Die Produktivkräfte haben die Fähigkeit, eine Menge an Waren zu produzieren, die von den Märkten nicht absorbiert werden können.
Diese Unfähigkeit einen produktiven Nutzen aus den kolossalen Mengen an Mehrwert zu ziehen, die dem Schweiß und Blut der ArbeiterInnen entzogen wurden, spricht das letzte Urteil über den Kapitalismus. Die Überproduktion spiegelt sich in einer allgemeinen Krise der Weltwirtschaft wider, welche sich in einem fragilen Zustand befindet. Billige Kredite führen nicht mehr zu einer Stimulation von Investitionen. Was bringt es, in neue Produktivkräfte zu investieren, wenn es schon keine Märkte für die bestehende Produktion gibt?
Eine neue wirtschaftliche Erholung?
Jeden Tag verkündet die Presse eine wirtschaftliche Erholung. Bestenfalls kommt es zu einem leichten Anstieg des BIP innerhalb des allgemeinen Kontexts einer langfristigen Stagnation. MarxistInnen überrascht das nicht; sogar in generellen Perioden des Niedergangs entwickelt sich das System zyklisch und nach einer langen Periode des Rückgangs oder der Stagnation kann man eine kleine wirtschaftliche Erholung erwarten. Diese ist jedoch derart schwach, sodass sie nicht zu einer substantiellen Erholung führt und nicht von Dauer sein wird.
Das begrenzte Wachstum findet vor einem Hintergrund der extrem lockeren Geldpolitik statt. Die US-Notenbank hielt den Leitzins vom Herbst 2008 bis Anfang 2017 bei knapp über Null. Die Europäische Zentralbank setzte ebenfalls den Leitzins auf knapp über Null fest.
Immobilienblasen existieren auf dem Immobilienmarkt in Großbritannien, Kanada, China und Skandinavien. Die Aktienmärkte haben sich nicht einfach erholt, sondern ihre Kurse von 2007 überschritten. Der Dow Jones hat es geschafft seinen Wert zu übertreffen und ist um 36% gestiegen. Das Kurs-Gewinnverhältnis (das ist der Preis, den ein Investor für einen Dollar des Unternehmensgewinns oder Profits zahlt) hat seinen dritthöchsten Stand in der Geschichte erreicht (die vorhergehenden waren 1929 und 2000). Das alles weist nicht auf eine gesunde Erholung, sondern auf eine weitere sich im Entstehen befindende Krise hin. Das führt auch der Kapitalistenklasse riesige Geldmengen zu, indem ihr Eigentum durch die billigen Kredite an Wert gewonnen hat.
Die Grenzen des Kredits
Der Grund für die gegenwärtige Ausweglosigkeit besteht darin, dass der Kapitalismus in den Jahrzehnten vor 2008 nicht nur seine Grenzen erreicht, sondern seine „natürlichen“ Grenzen weit überschritten hat. Teilweise war es die beispiellose Kredit- und Schuldenausweitung, die es dem Kapitalismus ermöglichte, die Beschränkungen des Marktes und die Überproduktion zu überwinden. Andererseits gab es eine enorme Ausweitung des Welthandels und eine Verstärkung der internationalen Arbeitsteilung.
Marx erklärte, dass eine Möglichkeit des Kapitalismus, die Grenzen des Marktes und des tendenziellen Falls der Profitrate zu umgehen, in der massiven Ausweitung des Kredites und eines steigenden Welthandels („Globalisierung“) besteht, welche ihm teilweise und für einen beschränkten Zeitraum einiger Jahrzehnte die Umgehung des anderen Hauptwiderspruchs ermöglichte: die Begrenzungen durch den Nationalstaat. Aber beide Lösungen haben begrenzte Auswirkungen und haben sich jetzt in ihr Gegenteil verkehrt.
Historisch gesehen haben die Gesamtschulden der USA (Staats- und Privatschulden) bei 100-180% des BIP gelegen. Nur auf dem Höhepunkt der Krise in den 1980ern erreichten sie 200% und danach stiegen sie bis 2009 auf ungefähr 300%: Japan, Britannien, Spanien, Frankreich, Italien und Südkorea haben allesamt Schuldenstände von über 300%. Die weltweiten Schulden liegen momentan bei 217 Billionen Dollar oder 327% des BIP, das sind die höchsten in der Geschichte.
Marx erklärte im Manifest der Kommunistischen Partei, dass die Bourgeoisie heute Krisen nur dadurch löst, dass sie den Weg für noch größere Krisen in der Zukunft bereitet. Was hat sie im letzten Jahrzehnt trotz aller Schmerzen, Sparpolitik und Leiden erreicht? Es war ihr Ziel, das Defizit und den beispiellosen Schuldenberg, der sich als Ergebnis der vorhergegangenen Periode aufgebaut hatte, zu verkleinern.
Alles was sie getan haben, war ein gigantisches schwarzes Loch bei den Banken in ein riesiges schwarzes Loch bei den öffentlichen Finanzen umzuwandeln. Die Banken standen am Rande eines Abgrunds und wurden nur durch die Intervention des Staates gerettet, der sie rettete, indem er ihnen Billionen öffentlicher Gelder zukommen ließ. Das Problem ist, dass der Staat über kein Geld verfügt, außer das, welches er den SteuerzahlerInnen herauspressen kann.
Es stellt sich deshalb die Frage: Wer bezahlt? Es ist bekannt, dass die Reichen kaum Steuern bezahlen. Sie verfügen über tausende Möglichkeiten, diese schmerzhafte Notwendigkeit zu umgehen. Die Arbeiterklasse, die Mittelklasse, die Arbeitslosen und die Schulen müssen zahlen. Jeder muss bezahlen, nur die Reichen nicht, die auch in dieser Phase der „Austeritätspolitik“ immer noch reicher geworden sind.
Hat all dies irgendein Problem gelöst? Sieben der zehn größten Ökonomien der Welt haben eine Neuverschuldung, die über 3% des BIP liegt, nur Deutschland hat ein Defizit von weniger als 2%. Die Schulden steigen überall. Es gibt keinen Ausweg aus der Krise, es sei denn, diese Schulden werden auf die ein oder andere Weise getilgt. Und wie beseitigt man öffentliche Schulden? Natürlich in dem man die gesamte Last auf die ärmsten und die schwächsten Gruppen der Gesellschaft verteilt.
Das Szenario, dass wir auf internationaler Ebene beobachten, ist wirklich beispiellos. Und wir sprechen hier nur von den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Die Lage in der so genannten Dritten Welt ist eine andere Sache. Hier herrscht ein Bild von heillosem Elend, unvorstellbarem Leid, Hunger und der Erniedrigung von Männern, Frauen und Kindern.
Die Bedrohung des Protektionismus
Über Jahrzehnte wuchs der Welthandel viel schneller als die Produktion und wurde somit zur Triebkraft für das Wachstum der Weltwirtschaft. In der jüngsten Phase hat sich das Wachstum des Welthandels jedoch auf ein Niveau verlangsamt, das unter dem des BIP liegt. Der Welthandel hatte seinen Höhepunkt als Prozentanteil am BIP zweimal, 2008 und 2011, bei 61%, jetzt ist dieser Prozentanteil auf 58% gesunken.
Die Welthandelsorganisation hat ihre Besorgnis darüber ausgedrückt, dass die nationalen Regierungen versucht sein könnten, ihre eigenen Märkte durch protektionistische Maßnahmen zu verteidigen und dass dies wiederum negative Auswirkungen auf das Handelswachstum haben könnte. Um diese Ängste zu bestätigen, betritt just Donald Trump die Szene und benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Seine „America First“- Politik ist selbst eine Widerspiegelung der globalen Krise. Er möchte „Amerika wieder groß machen“ auf Kosten des Rests der Welt. Das heißt, er möchte die Muskeln der USA spielen lassen, um einen erhöhten Anteil an den Weltmärkten zu erringen.
In den letzten Jahren haben die US- Kapitalisten darum gekämpft, eine Anzahl von Handelsabkommen mit Europa, Amerika und Asien abzuschließen. Trumps erste Amtshandlung war es, die TPP- und TTIP- Verträge zu zerreißen. Er droht ebenfalls damit, das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zu zerstören, falls er keine Vereinbarung erreicht, bei der Mexiko und Kanada ihre Interessen zum Vorteil der USA opfern und er droht damit, die Welthandelsorganisation (WTO) lahmzulegen, indem er die Ernennung von neuen Richtern an den WTO-Gerichten blockiert.
China hat einen enormen Außenhandelsüberschuss mit den USA, mit einem Rekordhoch von 275,81 Mrd. Dollar im Jahr 2017, und das ist einer der Hauptgründe, warum sich Trump darüber beschwert, dass China der US-Wirtschaft schaden würde. Während des Wahlkampfs beschuldigte Trump China, „Amerika zu vergewaltigen“, den USA Arbeitsplätze zu stehlen etc. Seitdem war er gezwungen, seine Sprache zu mäßigen, in der Hoffnung China dazu zu bringen, Druck auf Nordkorea auszuüben. Aber dieses Ziel wurde nicht erreicht und die Widersprüche zwischen den USA und China bleiben ungelöst. Hier sind bereits die Konturen für einen zukünftigen Handelskrieg zwischen den beiden Ländern.
Trump ist nicht der Einzige, der diese Politik verfolgt. Seit Beginn der Krise haben die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Maßnahmen ergriffen, um ihre Außenhandelsüberschüsse zu erhöhen. Das wurde zum Teil mit einer Vielzahl protektionistischer Schritte gemacht. Die USA wurden (unter Obama) zum Spitzenreiter des Protektionismus, aber auch Britannien, Spanien, Deutschland und Frankreich sind protektionistischer als China.
Wir sollten uns daran erinnern, dass es der Protektionismus war, der den Zusammenbruch von 1929 als einem wichtigen Element der Großen Depression der 1930er Jahre verschärfte. Falls der Protektionismus sich durchsetzt, kann er die gesamte zerbrechliche Struktur des Welthandels mit den folgenschwersten Konsequenzen zum Einsturz bringen.
Die USA – eine beispiellose Krise
Die relative Schwächung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich an der Tatsache, dass 1945 mehr als 50% des weltweiten BIP in den USA erzeugt wurde, während die momentanen Zahlen bei ca. 20% liegen. Wenn wir auf die relative Schwächung der USA hinweisen, sollten wir den Prozess aber nicht übertreiben. Mit einem relativen Niedergang meinen wir, dass die USA geschwächt wurden und nicht mehr dieselbe Rolle spielen können wie in der Vergangenheit, was am Beispiel der syrischen Krise gesehen werden kann. Die USA bleiben bei weitem die dominierende Supermacht auf Weltebene und kein anderes Land ist in der Lage, sie zu ersetzen, wie z. B. die USA Britannien in der Vergangenheit ersetzt haben.
Dieser relative Niedergang hat sowohl Auswirkungen auf die Fähigkeiten des Landes, die Welt ökonomisch, politisch und diplomatisch zu beherrschen als auch auf seine Fähigkeit, den amerikanischen ArbeiterInnen den Lebensstandard zu bieten, der für die relative innere Stabilität der Vergangenheit sorgte. Diese Realität hat nun Eingang in das Bewusstsein der Massen in den USA gefunden.
Der amerikanische Traum ist tot. Er wurde durch den amerikanischen Albtraum ersetzt. Der Traum ist vorüber und es gibt keine Möglichkeit ihn wieder zu erwecken. Der Bewusstseinswandel zeigte sich während der Präsidentschaftswahlen vom November 2016 auf besondere Weise. Über einhundert Jahre basierte die Stabilität der amerikanische Kapitalismus auf zwei Parteien: die Demokraten und die Republikaner. Diese beiden Parteien wechselten sich während dieser gesamten Zeit im Regierungsamt ab.
Es besteht eine große Unzufriedenheit und ein brennendes Verlangen nach Veränderung. Wir sahen das bereits bei der Wahl von Obama, der demagogisch einen Wandel versprach. Millionen Menschen, die normalerweise nicht zur Wahl gingen, stellten sich in die Schlange, um einen schwarzen Präsidenten zu wählen. Das taten sie zweimal, aber am Ende gab es keine Veränderung. Aus diesem Grund wuchsen die Wut, die Verbitterung und Enttäuschung, besonders unter den ärmsten Schichten, an.
Diese Stimmung äußerte sich deutlich in der Wahlkampagne von Bernie Sanders. Zu Beginn kannte kaum jemand Bernie Sanders, während alle Hillary Clinton kannten. Als er aber von einer Revolution gegen die Milliardärsklasse sprach, fand er bei vielen Menschen Anklang, besonders (aber nicht nur) bei der Jugend. Es gab Massenversammlungen mit Zehntausenden, die Bernie Sanders unterstützten. Mindestens eine Studie besagt sogar, dass Sanders gewonnen hätte, wenn er gegen Trump kandidiert hätte. Aber zwangsläufig wurde er vom Parteiapparat der Demokraten ausmanövriert. Noch schlimmer war, dass er das akzeptierte, was zu einer gewissen Demoralisierung unter seinen UnterstützerInnen führte.
Die herrschende Klasse mag Menschen, wie Hillary Clinton, die sie kontrollieren kann. Sie wollte und will Trump nicht, weil er ein Außenseiter ist, der an einer extremen Form von Egomanie leidet und deshalb schwer zu kontrollieren ist. Hillary Clinton ist eine Vertreterin des Großkapitals. Trump vertritt dieselbe Klasse, aber er hat seine eigenen Vorstellungen, wie das geschehen sollte. Während des Wahlkampfs wandte er sich demagogisch an die ArbeiterInnen. Zum ersten Mal bezog sich ein Präsidentschaftskandidat auf die Arbeiterklasse (so wie es auch Bernie Sanders tat). Das war vorher nie der Fall. Selbst die linksten Liberalen und Gewerkschaftsführer bezogen sich immer auf die „Mittelschicht“.
Das Establishment war krampfhaft bemüht, Trump aufzuhalten. Doch sie versagten darin. Die herrschende Klasse war gegen diesen demagogischen Eindringling, die Demokraten waren natürlich gegen ihn und auch die Mehrheit der Republikaner. Alle Medien waren gegen ihn. Er schaffte es sogar, Fox News zu verprellen. Die Medien sind zweifelsohne ein mächtiges Instrument in den Händen der herrschenden Klasse. Und trotzdem siegte er.
Das war ein politisches Erdbeben. Aber wie erklärt man es? Trump ist reaktionär, aber er ist auch ein geschickter Demagoge, der sich an die Armen, die verunsicherten Arbeitslosen und die ArbeiterInnen im Rust Belt der USA wandte: Er bot ihnen Jobs an prangerte und die bestehenden Verhältnisse und das privilegierte Establishment in Washington an. Er griff auf seine Art die Wut und die wachsende Unzufriedenheit auf.
Bernie Sanders griff die gleiche Stimmung auf. Aber er wurde, wie vorhersehbar, durch den Parteiapparat der Demokraten sabotiert. Und als Sanders schließlich kapitulierte und zur Unterstützung für Hillary Clinton aufrief, sahen viele Trump als das „geringere Übel“ und er gewann die Wahlen. Viele Menschen, die für Sanders gestimmt hätten, sagten: „Wenn wir Sanders nicht wählen können, wählen wir Trump.“
Trumps Wahlkampf war durch die Mobilisierung einer Wählerschicht gekennzeichnet, die vorher inaktiv war und er gewann absolut mehr Stimmen als der vorherige Kandidat der Republikaner, Mitt Romney, 2012, wenn er auch prozentuell ein niedrigeres Ergebnis als dieser hatte. Trumps Sieg offenbarte aber auch die Intransparenz und den undemokratischen Charakter des Wahlmännersystems in den USA, das zu seinem Vorteil wirkte, obwohl er fast drei Millionen Stimmen weniger gewonnen hatte als Hillary Clinton.
Die große Mehrheit der Bourgeoisie war über den unerwarteten Verlauf der Ereignisse nicht glücklich. Sie war anfangs aber auch nicht übermäßig beunruhigt. Sie verfügt über tausende Möglichkeiten einen schwierigen Politiker unter Kontrolle zu halten. Zuerst versuchte sie sich mit der Vorstellung zu trösten, dass es sich bei Trumps Wahlkampfaussagen lediglich um Propaganda gehandelt habe und dass er sich rational verhalten würde, sobald er ins Weiße Haus eingezogen sei (d. h. er würde die Anweisungen der herrschenden Klasse entgegennehmen). Aber sie lagen falsch. Der Mann im Weißen Haus erwies sich als schwer zu kontrollieren.
Die Demokraten hatten eine einfache Erklärung für Trumps Sieg: Sie machten die Russen dafür verantwortlich, während Hillary Clinton auch Sanders beschuldigte. Das alles beweist, dass die Demokratische Partei bis heute nicht verstanden hat, warum Trump die Wahlen gewann. Sie heizten eine Kampagne an, mit der sie behaupteten, die Russen seien für Hackerangriffe verantwortlich, welche das Wahlergebnis entschieden hätten.
Der Vorwurf der russischen Beteiligung am Hacken von Dokumenten mag oder mag nicht der Wahrheit entsprechen. Aber viele Länder, und nicht zuletzt die USA, hacken permanent, hören Telefone ab und mischen sich in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen ein – einschließlich in die ihrer „Verbündeten“, wie Angela Merkel herausfand. Aber zu behaupten, der Kreml habe das Stimmverhalten von Millionen US- BürgerInnen bestimmt, ist extrem kindisch.
Beispiellos ist, dass sich ein US-Präsident in einer öffentlichen Konfrontation mit dem FBI und den gesamten US-Geheimdiensten befindet. Diese Geheimdienste sollten eigentlich geheim sein, und sie sind ein Herzstück des bürgerlichen Staates. Es ist bisher nie vorgekommen, dass diese Geheimdienste öffentlich mit dem Präsidenten aneinandergeraten sind und offen versuchen, ihn zu unterminieren und aus dem Amt zu vertreiben. Und inmitten dieses Getöses haben alle vergessen, was in den gehackten E-Mails stand. Und niemand bemüht sich, zu fragen, ob deren Inhalte wirklich der Wahrheit entsprachen.
In Wirklichkeit waren die belastenden Anschuldigungen, die im von WikiLeaks veröffentlichten Material enthalten waren, sehr wohl wahr. Unter anderem bewiesen sie, dass der Parteiapparat der Demokraten schmutzige Tricks anwandte, um Bernie Sanders zu blockieren und somit Hillary Clinton den Sieg zuzuschanzen. Dabei handelte es sich sicherlich um die offenkundigste Einmischung in die US- Wahlen. Aber inmitten des gesamten Rummels wegen der „russischen Einmischung“ wurde das alles geflissentlich übergangen.
Wie Lenin erklärte ist eine Spaltung in der herrschenden Klasse eine der Bedingungen eines revolutionären Prozesses. Hier haben wir es mit einer offenen Spaltung im Staatsapparat zu tun. Es handelt sich nicht um eine normale politische Krise. Es ist eine Krise des Regimes. Es wird nicht gern gesehen, wenn die Geheimdienste – die Gefolgsleute der herrschenden Klasse – sich in die Politik einmischen, obwohl sie das insgeheim stets tun. Es ist ein unglaublicher Zustand, wenn sich die Machenschaften und Intrigen des CIA öffentlich vor den Augen der normalen AmerikanerInnen abspielen.
Die gegenwärtige Lage in den USA ist in der Geschichte beispiellos. Ein gewählter Präsident befindet sich in einer direkten Konfrontation mit der Mehrheit des Staatsapparats, mit den Medien, dem FBI, dem CIA und all den anderen Geheimdiensten, welche die herrschende Klasse benutzt, um zu versuchen Trump loszuwerden oder ihn zu zwingen ihr zu gehorchen.
Veränderung des Bewusstseins
Viele Linke haben die Vorstellung verinnerlicht, dass die US-AmerikanerInnen reaktionär und rechts sind und niemals den Sozialismus befürworten würden. Das ist vollkommen falsch. Vor dem Wahlkampf von Sanders gab es eine Umfrage, in der Menschen unter 30 gefragt wurden: „Würdest du einem sozialistischen Präsidenten deine Stimme geben?“ 69% antworteten mit Ja. (siehe Gallup Umfrage http://news.gallup.com/poll/183713/socialist-presidential-candidates-least-appealing.aspx ).
In der gleichen Umfrage wurde US- AmerikanerInnen über 65 dieselbe Frage gestellt und „nur“ 34% sagten Ja. Dieses Ergebnis ist noch unglaublicher. Nach 100 Jahren der bösartigsten Propaganda gegen den Sozialismus und den Kommunismus, zeigt das eine bedeutende Bewusstseinsveränderung.
Die Veränderung des Bewusstseins beschränkt sich nicht auf die unteren Gesellschaftsschichten. Auf eine besondere, reaktionäre und entstellte Weise widerspiegelte Donald Trump die Wut von Millionen Menschen in der Arbeiterklasse und anderen auf die bestehenden Verhältnisse und das System, gegen das – wie er es nannte – Establishment. Natürlich können die Massen nur aus der Erfahrung lernen. Und die Erfahrung wird zeigen – und zeigt bereits – dass das Unsinn ist. Die Bühne wird für große Bewegungen in der nächsten Zeit vorbereitet.
Diese haben tatsächlich schon begonnen. Direkt nach der Wahl von Trump gab es in jeder Großstadt Massendemonstrationen. Der Marsch der Frauen war der größte eintägige Protestmarsch in der amerikanischen Geschichte. Dieser fand am Tage seiner Amtseinführung statt. Und das war nur der Anfang.
Die herrschende Klasse hasst Trump, weil er dem schon abgenutzten Konsens, der zwischen den Demokraten und den Republikanern bestand, einen tödlichen Schlag versetzt hat. Die Untergrabung dieses Konsenses könnte zu gefährlichen Konsequenzen führen, wie der Government Shutdown („Regierungs-Stilllegung“) vor kurzem zeigte. Der Zusammenbruch der politischen Mitte spiegelt den sich weiter öffnende Kluft und scharfe Polarisierung zwischen den Klassen in den USA wider. Das hat eine wichtige Bedeutung für die Zukunft.
Obama und die Demokraten sind für den Sieg von Donald Trump verantwortlich. Aber Trump selbst vertieft den Prozess der sozialen und politischen Radikalisierung und bereitet den Weg für einen noch größeren Linksruck. Jüngste Umfragen zeigen in eine schwere Verurteilung des Zwei-Parteiensystems, indem eine Höchstzahl von 61% der AmerikanerInnen sowohl die Demokraten als auch die Republikaner ablehnen und glauben, dass eine neue Großpartei gebraucht wird. In der Jugend ist die Zahl 71%. Diese Polarisierung in den USA – nach links und rechts – hat zum Phänomen des plötzlichen Mitgliederzuwachses bei den Democratic Socialists of America (DSA), geführt, einer linken Gruppierung die historisch im Umfeld der Demokraten stehen.
Vor dem Wahlkampf von Sanders hatte diese Gruppe 6000 Mitglieder, zum größten Teil Altgediente, die durch und durch von reformistischen Ansichten durchdrungen waren. Aber seit der Wahl von Trump ist die Mitgliederzahl der DSA auf 30.000 gestiegen. Bei den neuen Mitgliedern handelt es sich meist um junge Leute, die nach einer sozialistischen Organisation Ausschau halten. Die Gruppe hat in vielen Gegenden Fuß gefasst, in der sie vorher nicht präsent war und sie schafft sich an vielen Hochschulen in den gesamten USA eine Basis. Es gibt mittlerweile eine interne Diskussion, ob die DSA mit den Demokraten brechen sollten. Einige Schichten entwickeln sehr radikale Vorstellungen und sind sehr offen gegenüber den Ideen des revolutionären Marxismus. Die Zukunft dieser Organisation ist noch ungewiss, aber sollte sie mit den Demokraten brechen und eine klassenunabhängige Position einnehmen, hat sie das Potenzial eine wichtige Rolle in der künftigen Schaffung einer sozialistischen Massenpartei in den USA zu spielen.
Kanada und Quebec
Kanada wurde von der Krise 2008 nicht so stark getroffen, weil es dort weniger eine Immobilienblase gab und die Wirtschaft durch Rohstoffexporte in das boomende China gestützt wurde. Konsequenterweise hat Kanada nicht das gleiche Ausmaß an Austeritätspolitik zu spüren bekommen wie die anderen OECD-Länder. Jedoch verkehren die Faktoren, die zur Stabilität führten, sich jetzt in ihr Gegenteil. Billige Kredite haben die Verschuldung und eine Explosion bei den Wohnkosten angeheizt. Die Verschuldung der privaten Haushalte liegt bei beispiellosen 171% des jährlichen Einkommens und sie steigt weiter. China treibt nicht länger die Öl- und Rohstoffpreise wie bisher in die Höhe, während Trumps protektionistischen Drohungen, aus der NAFTA auszusteigen, die kanadischen Exporte bedrohen. Ein erneuter weltweiter Konjunktureinbruch würde all diese Widersprüche beschleunigen.
Quebec auf der anderen Seite hat eine Zeit des intensiven Klassenkampfes erlebt, der mit den Studierendenstreiks von 2012 begonnen hat. Leider ist diese Bewegung aufgrund einer Mischung aus Linksradikalismus durch einen Teil der studentischen Führung und der opportunistischen Kapitulation der Gewerkschaftsbürokratie abgeflaut, aber die aktiven Schichten suchen nach Antworten.
Der Nationalismus in Quebec ist in der Krise. Die Parti Quebecois (PQ) ist nach rechts abgedriftet und hat einen Weg des rassistischen Nationalismus eingeschlagen. Die PQ war in den letzten 40 Jahren in der Regierung und hat wiederholt eine Sparpolitik betrieben, weshalb die Jugend sie als Teil des Establishments ansieht. Die linksnationalistische Quebec Solidaire könnte als Sprachrohr für die Unzufriedenen agieren, aber ihre kleinbürgerliche Führung ist verunsichert und begeht viele Fehler. Üblicherweise gewinnt die Partei, wenn sie sich auf Klassenthemen fokussiert, Unterstützung, wenn sie aber ihren Schwerpunkt auf die Unabhängigkeit legt, wird sie mit der PQ gleichgesetzt.
Es gibt unter den klassenbewussten ArbeiterInnen und der Jugend keine große Begeisterung für ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Obwohl wir die die Möglichkeit nicht außer Acht lassen sollten, dass der Klassenzorn sich über eine nationalistische Unabhängigkeitsbewegung ausdrücken könnte, scheint dies für Quebec kurzfristig keine wahrscheinliche Perspektive zu sein.
China
Die chinesische Wirtschaft hat in den letzten 40 Jahren eine enorme Entwicklung der Produktivkräfte erlebt. Das war einer der wichtigsten Faktoren, der die Weltwirtschaft davon abgehalten hat in eine tiefe Rezession abzugleiten und sie 20 bis 30 Jahre über Wasser gehalten hat. Aber jetzt hat diese Entwicklung ihre Grenzen erreicht. Das Wachstum hat sich in China stark verlangsamt und liegt momentan bei weniger als 7%. Das ist für chinesische Verhältnisse sehr niedrig
Es bestehen viele ungelöste Widersprüche in der chinesischen Ökonomie. Die chinesische Produktion ist sehr stark von Exporten abhängig. Um seine Wachstumsraten zu halten, muss China exportieren. Wenn Europa und Amerika nicht in dem Maße konsumieren wie in der Vergangenheit, kann China nicht so viel produzieren wie zuvor, denn das Land braucht ausländische Märkte, die seine Überschüsse abnehmen. Und wenn China nicht produziert, können andere Länder wie Brasilien, Argentinien, Kanada und Australien ihre Rohstoffe nicht exportieren. So äußert sich die Globalisierung als globale Krise des kapitalistischen Systems.
Im Anschluss an die globale Finanzkrise waren die Machthaber in China alarmiert. Sie schätzten, dass sie ein ungefähres Wachstum von jährlich 8% benötigten, um eine Anhäufung von Unruhen, die ihre Herrschaft bedrohen könnten, zu verhindern. Sie griffen auf eine keynesianische Politik zurück und begannen mit einem beispiellosen Plan neuer öffentlicher Investitionen in die Infrastruktur. Sie benutzten das staatliche Bankensystem, um das größte Beispiel für eine geldpolitische Lockerung in der Geschichte zu starten und boten einfach zu bekommene Kredite an. Aber das schafft neue Widersprüche, welche die zukünftige Stabilität Chinas und der ganzen Welt bedrohen.
Als Ergebnis haben sich die chinesischen Staatsschulden im Verhältnis zum BIP seit 2008 verdoppelt, obwohl sie im Vergleich zu den USA relativ niedrig sind und bei 46,2% liegen. Trotzdem sind die Gesamtschulden (die Staats-, Banken-, Unternehmens- und Privathaushaltsschulden) exponentiell gewachsen und drohen außer Kontrolle zu geraten. In absoluten Zahlen sind Chinas gesamten Schulden von 6 Billionen Dollar im Jahre 2008 zur Zeit der Finanzkrise auf fast 28 Billionen Dollar Ende 2016 gestiegen. Als prozentualer Anteil am BIP haben sich die Gesamtschulden von 140% auf fast 260% im gleichen Zeitraum erhöht. Und die offiziellen Zahlen untertreiben zweifelsohne die reale Situation.
Wahrscheinlich liegen Chinas Gesamtschulden näher an die 300% des BIP – und diese Schätzung enthält nicht den unregulierten Schattenbankensektor (der einen geschätzten Wert von 30 – 80 % des BIP hat), vor dem die Weltbank in ihrem Bericht über Ökonomien in Ostasien und dem Pazifikraum vom Oktober 2017 besonders warnt, weil er eine der größten Bedrohungen für den regionalen Wohlstand darstellt.
Die chinesische Wirtschaft wurde zweifelsfrei kurzfristig durch die Entscheidung der Regierung, die Kreditschleusen zu öffnen, gerettet, aber das führte zu einer Wirtschaft, die von Krediten abhängig und mit riesigen Spekulationsblasen behaftet ist. Der echte Test kommt, wenn Peking eines Tages versucht, diese Schuldenabhängigkeit zu reduzieren. Das kann einen Finanzkollaps auslösen, der, so fürchten seriöse bürgerliche Ökonomen, eine vernichtende Auswirkung auf die Weltwirtschaft haben wird. Im letzten Jahr hat der Internationale Währungsfonds eine Warnung bezüglich Pekings Widerwillen seine gefährlichen Verschuldungsstände in Schranken zu halten, ausgesprochen.
Momentan scheint ein Zusammenbruch des chinesischen Finanzsystems nicht bevorzustehen. Aber auch der Zusammenbruch von 2008 schien nicht unmittelbar bevorzustehen, bevor er geschah. Es stimmt, dass die chinesische Regierung aufgrund des spezifischen Gewichts des Staatssektors mehr Kontrolle sowohl über die Kreditnehmer als auch die Kreditgeber ausüben kann als es in einer normalen Marktwirtschaft möglich wäre. Sie kann Banken in Staatsbesitz anweisen, weiterhin Geld an Unternehmen zu leihen, die Verluste machen, oder an kleinere Kreditnehmer, deren Liquidität von Langzeitkrediten abhängig ist. Ende Dezember 2017 hielt China 3,14 Billionen Dollar an Auslands-Devisenreserven, welche „im Notfall“ genutzt werden können – aber auch diese werden das Land nicht auf ewig retten.
Das hat Peking die Möglichkeit geboten, Probleme viel länger hinauszuschieben. Aber wenn man ein Problem hinausschiebt, bedeutet es nicht, dass es gelöst ist. Im Gegenteil, solange die gegenwärtige bedenkliche Lage fortgesetzt werden darf, desto brutaler und schärfer wird die Krise, wenn sie kommt – und früher oder später muss sie kommen. Die Abschwächung der Konjunktur hat zu einem großen Anstieg bei der Arbeitslosigkeit geführt, die durch offizielle Zahlen vertuscht wird, und die Millionen MigrantInnen, die vom Land kommen, weil sie dort keine Arbeit finden, nicht berücksichtigt. Das wird Auswirkungen auf die politische und soziale Lage haben.
Es ist schwer genau zu erfahren, was in China passiert. In einem totalitären Staat werden die Nachrichten genau kontrolliert. Aber es hat weitverbreitete Streiks und Demonstrationen gegeben: Die Zahl solcher „Vorfälle“ hat sich zwischen 2011 und 2015 in jedem Jahr verdoppelt und das war nur die Spitze des Eisbergs. Das Regime schaffte es, die Streikwelle zu stoppen, indem es Druck auf Unternehmen ausübte, die Löhne nicht pünktlich zahlten. Außerdem verfolgte es viele Fälle von Korruption strafrechtlich, um den Anschein zu erwecken „auf der Seite der ArbeiterInnen zu stehen“.
Unter der scheinbaren Ruhe an der Oberfläche baut sich große Wut auf. Die Empörung der Massen wird durch Ungerechtigkeit angeheizt: die willkürlichen Aktionen der Bürokratie, bei denen Bauern von Regierungsbeamten das Land gestohlen wird, die Zerstörung der Umwelt, die sich zeigt, wenn Peking und andere Großstädte in giftigen Rauchwolken eingehüllt werden, und vor allem die skandalöse Ungleichheit, welche den Anspruch, bei China handele es sich um ein sozialistisches Land, offen verhöhnt.
Die chinesischen ArbeiterInnen könnten diese Dinge hinnehmen, solange sie das Gefühl haben, die Dinge würden sich positiv verändern und ihre Lage würde sich bessern. Aber sie erkennen, dass dies nicht länger der Fall ist. Das Schicksal Chinas ist abhängig vom Weltmarkt. China hat von seiner Beteiligung am Weltmarkt profitiert, aber jetzt kommen die Widersprüche zurück und treffen das Land. Es baut sich eine explosive Lage auf, welche ohne Vorwarnung zu Tage treten kann.
Australien und Neuseeland
Sowohl Australien als auch Neuseeland kamen in der weltweiten Finanzkrise und Rezession 2008 leicht davon. Australien vermied nach 2008 eine Rezession, einerseits aufgrund des Mineral- und Erdgasbooms (hauptsächlich Exporte nach China). Zum heutigen Tage durchlief Australien historische 26 Jahre ohne Konjunkturabschwung.
Dieses wirtschaftliche Wachstum wurde auf Kosten der Arbeiterklasse erhalten. Australische ArbeiterInnen erlebten stagnierende Löhne, Arbeitslosigkeit und Angriffe auf den sozialen Mindestlohn von aufeinanderfolgenden Regierungen, z.B. Realkürzungen an der Gesundheitsversorung und Anhebung des staatlichen Pensionsantrittalters. Unsicherheit und Präkarisierung ist im Anstieg, insbesondere bei der Jugend. Das ist einer der Gründe warum 58% der australischen 22-39-Jährigen Sozialismus positiv sehen, 59% finden, dass der Kapitalismus fehlgeschlagen ist und 62% denken, dass ArbeiterInnen heute schlechter dran sind als vor 40 Jahren.
In Neuseeland glich die Wahl einer Labour-geführten Regierung einem politischen Erdbeben. Jacinda Ardern konnte mit ihrer an Corbyn angelehnten Kampagne eine gewisse Niederlage in einen Sieg verwandeln. Zu Beginn des Jahres lag Labour in Umfragen bei 24%. Mit einem Linksruck erhielt Labour 37% in den Wahlen, aber ging dann eine Koalition mit der rechten, populistischen Partei (New Zealand First, Neuseeland zuerst) und den Grünen ein. Adern konnte bei der Unzufriedenheit der Massen andocken, die neun Jahre Sparpolitik unter der National Party erlebt hatten, trotz einer wachsenden Wirtschaft.
Die Massen erwarten viel von der Regierung, obwohl ihr Programm jegliches soziale Manifest vermisste. Die ArbeiterInnen fühlen sich durch die neue Regierung ermutigt. Bereits jetzt drohen LehrerInnen, KrankenpflegerInnen, Eisenbahn- und WerftarbeiterInnen damit, Streikmaßnahmen zu setzen. Kleine Reformen wie die Steigung der Sozialgelder, ein Jahr studiengebührenfreies studieren an Unis, und Stopp der Pensionsantrittsalterserhöhung, wurden durchgeführt, doch damit sind die Grenzen des kapitalistischen Systems erreicht. Die Ratifizierung des TPPA (Freihandelsabkommens) zeigt die wahre Richtung, die die Regierung einschlägt.
Internationale Beziehungen
Der Konflikt mit Nordkorea offenbarte die Grenzen der Macht des amerikanischen Imperialismus auf eklatante Weise. Trump drohte mit der totalen Zerstörung des Landes, aber das provozierte kein Zurückweichen Nordkoreas und führte lediglich zum Kriegsgetöse und zu zusätzlichen Atomtests und mehr Raketen, die über Japan hinwegflogen.
Die USA haben erwogen, einen Raketenstützpunkt in Südkorea zu installieren, was die Chinesen aber hartnäckig ablehnen. Trump war gezwungen seine Ankündigungen zurückzunehmen und um die Unterstützung Pekings zu werben, um Druck auf Pjöngjang auszuüben. China hat selbst einen leichten Druck auf das nordkoreanische Regime ausgeübt, um es in die von ihm gewünschte Richtung zu drängen, es zu zügeln, damit ein offenerer und gefährlicherer Konflikt mit den USA vermieden wird. Das ist weit von dem entfernt, was Trump sich wünscht. Aber unter dem Strich ist Chinas Haltung bezüglich Nordkorea, dass es keinen chaotischen Zusammenbruch des Regimes zulässt. Zudem plant die nordkoreanische Bürokratie, die sich auf China stützt, nicht, zu enden wie Saddam Hussein oder Gaddafi.
Offensichtlich sollten Trumps internationaler Auftritt und seine Drohungen und seine Angeberei als sein Streben, die internationale Position der USA in einer chaotischen ökonomischen und politischen Situation auf Weltebene zu bekräftigen. Sein Druck und seine Rhetorik gegenüber Nordkorea zielt, auf der einen Seite, darauf ab die interne Lage in den USA zu umgehen und zu verschleiern wo seine Politik und Methoden verstärkt ablehnt werden, andererseits darauf, Verhandlungen voranzutreiben, um jedes Land, das die USA als „unverlässlich“ oder „Feind“ sehen in Richtung atomare Abrüstung zu drängen, sei dies Korea, Iran, etc.
In der derzeitigen internationalen kriselnden Situation haben die USA, obwohl sie nach wie vor die weltweit mächtigste Wirtschaft sind, weder die Bedingungen noch das Interesse, riesige Summen locker zu machen, um ihren Verbündeten zu „helfen“. Dies führt zu einem weltweiten Suche nach einer Neuausrichtung von mehreren Regimes in der Krise mit jemanden der dies auf die eine oder andere Weise sehr wohl tun kann, und China hat eine Menge ungenutztes Kapital. Duerte, der „starke Mann“ auf den Philippinen sagte, dass die USA viel redeten, aber nicht handeln würden. Er hat den Schluss gezogen, dass er mehr gewinnen würde indem er die Philippinen in den Einflussbereich Chinas rückte. Südkorea ist China diplomatisch nähergekommen, besonders wegen seiner historischen Spannungen mit Japan.
Thailand war einst der engste Verbündete der USA, aber es verkündete, dass es U-Boote von China kaufen würde, was auch eine Zusammenarbeit mit China bedeutet. Der Plan wurde aufgrund des amerikanischen Drucks aufgeschoben, aber es scheint so, als ob er umgesetzt wird. Der Putsch in Thailand 2014 wurde von den USA verurteilt, aber von China begrüßt. Vietnam und Malaysia haben ebenfalls engere ökonomische Beziehungen zu China aufgebaut, obwohl die Beziehungen zwischen China und Vietnam aufgrund territorialer Konflikte, besonders wegen Chinas Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, kompliziert sind.
China und die USA befinden sich in einem Kampf um Märkte und Einfluss. Für viele Länder ist China Handelspartner Nummer eins. Das Land hat Beteiligungen an zwei Drittel der 50 wichtigsten Häfen weltweit. Das chinesische Projekt „Neue Seidenstraße“ ist das größte diplomatische und finanzielle Projekt seit dem Marshall Plan.
Die Spannungen zwischen den beiden Mächten sind in der Region des Südchinesischen Meeres am größten, wo die herrschende chinesische Klasse ihre eigene Version der Monroe Doktrin entwickelt hat, die besagt, dass es die Kontrolle über seinen eigenen Hinterhof haben muss. Chinas Projekte zur Schaffung „künstlicher Inseln“ werden von Washington abgelehnt, das Kriegsschiffe geschickt hat, um die – wie sie es nennen – „Freiheit auf den Meeren“ geltend zu machen.
Vor dem Zweiten Weltkrieg hätten die Spannungen zwischen den USA und China bereits zu einem Krieg geführt. Aber das atomar bewaffnete China ist nicht länger das schwache halbkoloniale Land der Vergangenheit und es steht absolut außer Frage, dass die USA heute in China eindringen und das Land versklaven werden.
Der Nahe Osten
Im Nahen Osten zeigen sich die Widersprüche des Weltkapitalismus in konzentrierter Form. Die Krise des Weltkapitalismus ist auch die Krise des US- Imperialismus. Als die ignoranten und inkompetenten Amerikaner in den Irak stürmten und das gesamte Land zugrunde richteten, vernichteten sie nicht nur das Leben von Millionen Menschen, sondern sprengten durch die Zerstörung der irakischen Armee auch das fragile Gleichgewicht zwischen den Mächten im Nahen Osten. Alle anschließenden Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten sind letztendlich Folgen dieses monströsen Verbrechens des Imperialismus.
Mit der Eliminierung der irakischen Armee wuchs der Einfluss des Iran schnell zum Nachteil der USA und ihrer traditionellen Verbündeten, besonders Saudi-Arabiens. Der blutige Konflikt in Syrien, der in Wirklichkeit ein Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen ausländischen Mächten war, war ein Versuch verlorenen Boden zurückzugewinnen. Er zielte darauf, den Libanon zu isolieren und Syrien aus der Einflusssphäre des Iran zu entfernen. Aber heute ist der Einfluss des Iran in Syrien und dem Libanon stärker als je zuvor.
In Syrien werden die Grenzen der Macht des US-Imperialismus auf eklatante Weise deutlich. Die mächtigste Nation in der Welt ist nicht in der Lage militärisch entscheidend einzugreifen. Das schaffte ein Vakuum, das der Iran, Russland und die Türkei füllten. Die russische Intervention veränderte das Gleichgewicht entscheidend zugunsten Assads. Der Fall von Aleppo wurde zu einem entscheidenden Wendepunkt und einer vernichtenden und demütigenden Niederlage – nicht nur für die USA, sondern auch für deren Verbündete, besonders Saudi- Arabien.
Jetzt ist sind ISIS sowohl in Syrien als auch im Irak besiegt worden. Aber das grundlegende Problem ist nicht gelöst worden. Was wird nun geschehen? Die Türken beobachten Raqqa, Mossul und sogar Kirkuk mit Argusaugen und warten darauf, sich das zu nehmen, was zu nehmen ist. Die Iraner haben ihren Einfluss in der gesamten Region ausgebaut und damit die Amerikaner, Saudis und Israelis aufgeschreckt. Zwischenzeitlich sind der Irak und Syrien zersplittert und werden in der nächsten Zeit instabil bleiben.
Ein Teil der herrschenden Klasse in den USA wollte den Krieg weiterführen, aber dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Putin manövrierte die Amerikaner bei jedem Schritt aus. Als die Russen eine Friedenskonferenz in Astana, Kasachstan (einem Satellitenstaat Russlands) einberiefen, wurden die Amerikaner und Europäer nicht einmal eingeladen. Letztendlich mussten die Amerikaner, trotz aller öffentlichen Rhetorik, die von Moskau diktierte vollendete Tatsache zähneknirschend akzeptieren.
Die schlichte Tatsache ist, dass die USA in Syrien besiegt wurden. Diese Niederlage widerspiegelt eine Verlagerung des Kräftegleichgewichts in der Region. Das wird weitreichende Konsequenzen haben, besonders unter Washingtons Verbündeten, die jegliches Vertrauen in die USA verloren haben und zunehmend ihren eigenen Wegen und Interessen folgen. Die Türkei ist ein vermeintlicher Verbündeter der USA und ein wichtiges Mitglied der NATO, die Türken und die USA haben in Syrien gegensätzliche Kräfte unterstützt.
Ursprünglich setzten die USA auf türkische und saudische dschihadistische Rebellen, aber diese erwiesen sich als ineffizient – und wie mit dem Aufstieg von ISIS klar wurde – unzuverlässige Verteidiger der US- Interessen. Das Pentagon war deshalb gezwungen, sich beim Kampf gegen ISIS in Nordsyrien hinter die kurdischen YPG-Kräfte zu stellen.
Aber es gibt da ein Problem. Erdogan hat große Ambitionen in der Region. Er will ein Imperium nach osmanischem Vorbild und die Kurden bilden ein physisches und politisches Hindernis für ihn. Sein Hauptinteresse besteht jetzt darin, die Kurden sowohl in der Türkei als auch in Syrien niederzuschlagen. Nachdem er in Syrien eine Niederlage erlitten hatte, entschied sich Erdogan für einen Kurswechsel und stützt sich jetzt auf den Iran und Russland, um seine Stellung für Manöver mit dem Westen zu verbessern.
Als er sich von den Rebellen in Aleppo und anderswo, die von den USA, Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten unterstützt werden, trennte, erlaubten im Gegenzug der Iran und Russland der Türkei einen Teil Nordsyriens zu nehmen, um die kurdischen Streitkräfte aufzuhalten, ihr Gebiet dort zu erweitern. Diese Zusammenarbeit zwischen der Türkei, Russland und dem Iran hat den Amerikanern und Saudis einen vernichtenden Schlag versetzt, deren dschihadistische Handlanger niedergeschlagen wurden oder gezwungen wurden, den Vereinbarungen von Astana zu folgen, obwohl die gewonnenen Einflussmöglichkeiten des scharfsinnigen Erdogan in der Region nur zu weiteren Intrigen und Unsicherheit führen wird.
Trumps Plan zur Untergrabung des Atomvertrags mit dem Iran ist ein verzweifelter Versuch, die Uhren zurückzudrehen. Während aber die USA unter dem ständigen Druck stehen, ihre Truppen aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, kommandiert der Iran hunderttausende kampferprobte Milizionäre, die im Irak, in Syrien und dem Libanon verschanzt sind. Letztendlich wird das der entscheidende Faktor sein. Die Europäer haben sich von Trumps Iranpolitik, die eher zum Nachteil der Amerikaner als dem des Iran ist, losgesagt. Der Iran erfreut sich an dem Durcheinander im Westen.
Saudi-Arabien
Saudi-Arabien hat den reaktionärsten Gruppen in Syrien mehrere Milliarden Dollar hinterhergeworfen. Doch es hat verloren. Der saudische Krieg in Jemen verfehlt ebenfalls sein Ziel. Nach fast drei Jahren brutaler Kämpfe, welche das gesamte Land zu Grunde gerichtet hat und Millionen Menschen mit dem Hungertod bedrohen, haben die vom Iran unterstützten Huthis eine starke Position in ihren Regionen erobert. In der Zwischenzeit ist die Saudi-Koalition mehr oder weniger auseinandergefallen. Die Dschihadisten, südjemenitischen Nationalisten und die Streitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate, die zusammen die von den Saudis unterstützten Streitkräfte bilden, folgen ihrer jeweils eigenen Agenda. Das ist eine weitere Niederlage, welche das Fundament des verrotteten saudischen Regimes weiter unterminieren wird.
Die Saudis haben versucht sich selbst in Katar zu behaupten und forderten, dass das Land seine Beziehungen mit dem Iran und der Türkei einstellen und sich der außenpolitischen Linie Saudi-Arabiens anschließen sollte. Aber Katar hat seine Handels- und Militärbeziehungen mit dem Iran und der Türkei einfach nur verstärkt. Die Türkei hat ihren Militärstützpunkt auf der Halbinsel vergrößert, das ist eine ernsthafte Warnung an das saudische Königshaus, es nicht zu weit zu treiben. Trump stellte sich ursprünglich hinter die Saudis, bis er von seinen Beratern sanft daran erinnert wurde, dass die USA einen sehr wichtigen Militärstützpunkt in Katar besitzen.
Der alte König Abdullah war ein Erzreaktionär, aber er war schlau und vorsichtig. Das neue Regime, das von dem Emporkömmling Kronprinz Muhammad Bin Salman angeführt wird, ist alles andere als vorsichtig. Wie ein Spieler, der permanent verliert, setzt er auf riskante Wetten, um der wachsenden Macht und dem wachsenden Einfluss des Iran zu begegnen. Aber diese Bemühungen, die weit davon entfernt sind den Niedergang der Saudis zum Halten zu bringen, beschleunigen diesen stattdessen und verleihen ihm einen noch konvulsiveren Charakter.
Über Jahrzehnte wurde die Existenz dieses reaktionären Regimes durch den Imperialismus aufgrund seiner besonderen Rolle, die es als Hauptlieferant für Öl in die USA und als wichtigster Stützpunkt der Konterrevolution in der muslimischen Welt spielte, künstlich verlängert. Gepaart mit den hohen Ölpreisen konnte das Regime sich behaupten, indem es die reaktionären Stammes- und Religionsgruppierungen, die seine Basis bilden, bestach.
Aber heute schwinden diese Faktoren. Die USA wurde weniger Abhängig von Ölimporten aufgrund ihrer eigenen Produktion von nicht-konventionellem Kohlenwasserstoff (2016 lar ihre Produktion bei knapp über 12 Mio. Barrel pro Tag, bei einem Verbrauch von 19 Mio., während die Zahl 2008 noch mehr oder weniger halb so groß war, 6 Mio., und der Verbrauch bei über 20 Mio. lag). In diesem Sinne muss Saudi Arabien andere Käufer seiner Produktion finden, beispielsweise China. Die Rolle des saudischen Königsreichs ist bei den internationalen Beziehungen zurückgegangen und deshalb haben die Interessen von Saudi-Arabien und den USA begonnen auseinanderzuklaffen. Die Krise frisst auch die saudischen Geldreserven und zwingt sie zum ersten Mal überhaupt, Sparpolitik zu betreiben. Sie können sich nicht länger eine soziale Stabilität erkaufen, indem sie die Bevölkerung mit üppigen Subventionen und einer Arbeitsplatzgarantie im öffentlichen Sektor bestechen.
Mittelfristig werden all diese Faktoren sich bündeln und die Stabilität des Regimes untergraben, das dann wie ein fauler Apfel vom Baum fällt, wenn es am wenigsten erwartet wird. Wer oder was auch immer es ersetzt, wird Washington nicht gefallen. Unter dem Einfluss der Krise des US- Imperialismus löst sich die alte Ordnung in der Region, die vom britischen und US- Imperialismus errichtet wurde, auf.
Als ob das nicht genug wäre, kam die unverschämte Dummheit Trumps bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und der Umzug der US-Botschaft aus Tel Aviv, mit der er sich an die amerikanische Öffentlichkeit richtete, hinzu, aber damit ist ein weiteres Element zur explosiven Instabilität im Nahen Osten hinzugefügt worden. Es führte auch zu weiteren Spaltungen zwischen den europäischen und amerikanischen Imperialisten. Die Europäer fürchten die Konsequenzen davon für die sogenannten Friedensgespräche, die nie jemals irgendjemand wirklich ernst genommen hat. Die US-Imperialisten haben wie gewöhnlich nichts verstanden und vorhergesehen.
Es scheint aber undenkbar, dass Trump die obige Entscheidung ohne das Wissen und die stillschweigende Zustimmung der saudischen Führer gefällt hat. Sie sind jetzt eng an Trump gerückt und die Israelis sind vor allem damit beschäftigt, dem Iran entgegenzutreten. Sie [die Saudis] haben sich darüber geeinigt, den Palästinensern in den Rücken zu fallen und dabei vor den Arabern einige obligatorische Protestlaute inszeniert. Das wird letztendlich ein weiterer Nagel im Sarg des korrupten und jämmerlichen saudischen Regimes werden.
Revolution im Nahen Osten und in Nordafrika
Die Revolution, welche die Region von 2011-13 erfasste, schlug fehl, weil es keine revolutionäre Führung gab. Die Bewegung ist zum jetzigen Zeitpunkt erschöpft und verunsichert und hat sich zurückgezogen und der Reaktion Handlungsspielraum geschaffen. Der Aufstieg der Reaktion und des der islamistischen Konterrevolution in der ganzen Region hängt mit dem Abflauen der revolutionären Bewegung zusammen.
Jedoch zeigen die Ereignisse in Marokko 2017, dass die Revolution nicht tot ist. Der Aufstand im Rif-Gebirge war die spektakulärste Bewegung in Marokko seit den Revolutionen im Nahen Osten und Nordafrika 2011. Das unmittelbare Ereignis, das den Aufstand auslöste, war der von Polizisten begangene Mord an einem jungen Fischhändler in einem Müllwagen. Nachdem die Bewegung begonnen hatte, breitete sie sich mit unglaublicher Geschwindigkeit und Intensität aus. Eine landesweite Solidaritätsbewegung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Schichten entstand mit eigenen Forderungen, die weder nationalistisch noch sektiererisch waren.
Diese Bewegung antizipiert Entwicklungen in der übrigen Region, in der kein einziges stabiles Regime existiert. Die gesamten Regimes in der Region sind schwach und kämpfen um ihr Überleben. Sie sind nicht in der Lage die Probleme der Massen zu lösen, die wiederum unter einem enormen Druck stehen. Früher oder später wird die Bewegung auf einem noch höheren Niveau wiederaufleben.
Weltkrieg?
Die Krise wegen des nordkoreanischen Atomprogramms verursachte viel Gerede über einen Weltkrieg. Aber das ist gelinde gesagt voreilig. Unter gegenwärtigen Bedingungen ist der Weltkrieg aufgrund des weltweiten Kräfteverhältnisses völlig ausgeschlossen. Die Imperialisten führen keinen Krieg ohne ausreichende Begründung. Die Bourgeoisie greift zum Krieg, um Märkte und Einflusssphären zu gewinnen. Aber Kriege kosten viel Geld und sind riskant. Und mit Atomwaffen vervielfachen sich die Risiken um das Tausendfache. Deshalb waren die USA, die beeindruckendste Militärmacht, die je existiert hat, bisher nicht in der Lage dem winzigen Nordkorea den Krieg zu erklären.
Russland ist militärisch nicht so stark wie die USA, aber es ist ein mächtiger Militärstaat. Und das Land ist militärisch stärker als der britische, französische und deutsche Imperialismus, sowohl in konventioneller als auch in nuklearer Hinsicht. Der Westen konnte nichts unternehmen, um die Annexion der Krim (auf der die meisten Menschen sowieso Russen sind) zu verhindern. Auch konnte er nichts tun, um Russland davon abzuhalten, zur Rettung des Assad-Regimes in Syrien zu intervenieren. Diese beiden Fälle offenbaren die Grenzen des US-Imperialismus.
Im letzten Jahr schickte die NATO einige Tausend Soldaten nach Polen, um ein Warnsignal an Russland zu senden. Die Russen antworteten, indem sie zusammen mit Weißrussland die bisher größten Militärmanöver an derselben Grenze zu Polen abhielten. Das war eine kleine Warnung an die NATO. Aus militärischer Sicht ist Britannien im Vergleich zu Russland heute fast bedeutungslos, Frankreich nicht viel weniger und Deutschland völlig bedeutungslos.
Vor allem ist das internationale Klassenkräfteverhältnis eine Barriere, um einen großen Krieg zu beginnen. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Arbeiterklasse vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine Reihe vernichtender Niederlagen erlitten hatte, so in Ungarn, Italien, Deutschland und Spanien, … aber jetzt sind die Kräfte der Arbeiterklasse intakt. Die Arbeiterklasse hat in den entwickelten kapitalistischen Ländern keine ernsthaften Niederlagen erlitten.
In den USA sind die Menschen militärische Abenteuer leid. Der US-Imperialismus hat sich seine Finger im Irak und in Afghanistan schlimm verbrannt. Diese Kriege haben eine Menge Blut und Geld gekostet, ohne etwas zu erreichen. Deswegen war Obama nicht einmal in der Lage eine militärische Intervention in Syrien zu befehlen. Er versuchte es, aber er sah, dass diese eine massive Revolte der Bevölkerung ausgelöst hätte. Er musste nachgeben. Das Gleiche trifft auf die konservative britische Regierung unter Cameron zu.
Es kann zumindest in der absehbaren Zukunft nicht zu einem Weltkrieg kommen, wenn es nicht zur Machtergreifung eines totalitären Regimes in den USA, auf der Basis einer verheerenden Niederlage der Arbeiterklasse, kommt. Dann käme es zu einem qualitativ anderen Kräftegleichgewicht. Doch das ist nicht die Perspektive für die nahe Zukunft. Im Gegenteil würd für eine ganze Periode das Pendel nach links schwingen.
Trump ist ein reaktionärer bürgerlicher Politiker, aber entgegen den demagogischen Aussagen einiger Linker, ist er kein Faschist und er steht nicht an der Spitze eines totalitären Staates, wie Hitler-Deutschland. Im Gegenteil, er kontrolliert den Staat in keiner Weise – er befindet sich mit diesem im Krieg. Er kontrolliert nicht einmal den Kongress, obwohl die Republikanische Partei dort die Mehrheit hat. Tatsächlich ist seine Machtposition sehr schwach. Der starke Mann im Weißen Haus steht auf tönernen Füßen.
Obwohl ein Krieg, der vergleichbar mit den Kriegen von 1914-18 und 1939-45 wäre, unter den gegenwärtigen Bedingungen ausgeschlossen werden kann, wird es ständig kleine Kriege geben, die unter den heutigen Bedingungen schrecklich genug sind. Der Irakkrieg war ein kleiner Krieg. Syrien war ein kleiner Krieg. Der Bürgerkrieg im Kongo kostete mindestens fünf Millionen Menschen das Leben und schaffte es nicht einmal auf die Titelseiten der Zeitungen. Solche Dinge werden immer und immer wieder passieren. Mittlerweile hat die Ausbreitung des Terrorismus dazu geführt, dass diese Barbarei beginnt, das „zivilisierte“ Europa zu treffen. Das ist es, was Lenin meinte, als er sagte, dass der Kapitalismus Schrecken ohne Ende ist.
Amerika und Europa
Die Menschen, welche die EU wirklich kontrollieren sind die Banker, Bürokraten und Kapitalisten und insbesondere der deutsche Kapitalismus. Ursprünglich wurde die EU von Frankreich und Deutschland beherrscht. Die französische Bourgeoisie hatte große Pläne, dass sie die EU politisch und militärisch kontrollieren könnte und Deutschland ökonomisch. Das dauerte aber nicht sehr lange. Niemand zweifelt heute daran, dass es die herrschende Klasse Deutschlands ist, welche sie vollständig kontrolliert.
Daher ist sie sofort mit dem neuen Mann im Weißen Haus in Konflikt geraten. Donald Trump und Angela Merkel sind nicht gut aufeinander zu sprechen. Die Gründe lassen sich nicht ihren Persönlichkeiten finden – obwohl die beiden sehr verschieden sind. Sie lassen sich vielmehr in Trumps Wahlslogan „Macht Amerika wieder groß“ finden.
Momentan stehen die deutschen Kapitalisten mit einem riesigen Außenhandelsüberschuss recht gut da. Dieser lag 2016 bei ungefähr 216 Mrd. Dollar, das ist ein bisher nie dagewesener Höchststand. Man muss kein Nobelpreisgewinner für Ökonomie sein, um zu wissen, dass der Überschuss des einen Landes das Defizit eines anderen Landes ist. Trump kann zumindest rechnen und ist über diese Zahlen nicht glücklich. Da Diplomatie nicht zu seinen Stärken gehört, hat er das Merkel öffentlich wissen lassen.
Trump sagt: “Wenn die Deutschen nichts unternehmen, werde ich die Importe deutscher Autos in die USA reduzieren.“ Das ist gefährliches Gerede. Wenn er so weitermacht, ist das ein Rezept für einen Handelskrieg. Die Deutschen würden sich sofort rächen und bestimmte amerikanische Waren blockieren. Protektionismus bedeutet den Export von Arbeitslosigkeit. Trump sagt, er will mehr Arbeitsplätze in Amerika für Amerikaner, das bedeutet weniger Arbeitsplätze für Deutsche, Chinesen etc. Das ist die eigentliche Ursache für die Feindseligkeit zwischen Washington und Berlin.
Trump reiste nach Polen, wo er eine enthusiastische Reaktion erfuhr. Die Wahl seines Besuches war nicht zufällig. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind aus den verschiedensten Gründen angespannt, besonders wegen der Frage über die Festlegung von Quoten bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die Spannungslinien in Europa verschärfen sich ständig. Das Problem mit Europa liegt darin begründet, dass die europäischen Länder heutzutage in vielen Punkten nicht einer Meinung sind. Trump reiste nach Polen, um die Risse zwischen Deutschland und seinem östlichen Nachbarn zu vertiefen.
Sein nächster Stopp war Paris und auch das war nicht zufällig. Trump will einen Keil zwischen Frankreich und Deutschland treiben. Macron seinerseits war erfreut ihn zu empfangen, um die Amerikaner zu ermutigen, Druck auf die Deutschen auszuüben, die wiederum genug mit den Verhandlungen über den Brexit um die Ohren haben. Aus diesem Grund ist Trump so sehr davon angetan, seine Solidarität mit London zu bekunden und macht große Hoffnungen auf die verlockenden Aussichten eines Handelsabkommens irgendwann in der Zukunft, das vielleicht oder (aber wahrscheinlich) auch nicht verwirklicht wird.
Europa
Die bürgerlichen Ökonomen sind Empiriker und Impressionisten. Sie entdecken ein leichtes Wachstum in Europa von gerade einmal über 1 % (etwas mehr in Deutschland) und sie proklamieren freudig, dass die Eurokrise gelöst ist. Aber die Eurokrise ist nicht gelöst. In Wirklichkeit vertieft sich die Krise des europäischen Kapitalismus weiter. Trotz des kleinen Aufschwungs bleiben die grundsätzlichen Probleme. Nichts ist gelöst worden.
Die Wirtschaftsexperten des IWF veröffentlichen alarmierende Berichte über den Zustand der Banken in Europa. Die EZB hat Milliarden investiert, aber das kann bei der nächsten Krise – und die wird kommen, wie der Tag auf die Nacht folgt – zu einem Kollaps des Euro führen und vielleicht sogar die Einheit der EU selbst bedrohen. Am 03. Juni 2017 stellte The Economist fest: „Die Währung veränderte sich von einem Instrument der Annäherung zwischen den Ländern zu einem Keil, der diese auseinandertreibt.“ Dieser Satz zeigt, wie die intelligenten Vertreter der Bourgeoisie begreifen, was die MarxistInnen schon vor langer Zeit gesagt haben.
Zu der jetzt schon instabilen Lage innerhalb der EU kommt zusätzlich noch die Flüchtlingskrise. Die imperialistische Einmischung im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika hat die Schleusen für eine Flut von Menschen geöffnet, die verzweifelt versuchen der Hölle auf Erden zu entkommen, in welche diese Regionen gestürzt wurden. Das führt zu einem enormen Druck auf die EU-Mitgliedsstaaten, vor allem auf die, in denen täglich neue Flüchtlinge und MigrantInnen ankommen.
Europa ist über dieses Problem durch und durch gespalten. Polen, Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik weigern sich überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen. Das Problem wird durch die interne Migration aus den ärmeren EU-Ländern in die reicheren zusätzlich verschärft, was wiederum zu Spannungen in einem Land wie Deutschland führt, wo die Rechten die Flüchtlingsfrage benutzen, um einen Teil der Wählerschaft zu gewinnen.
Diese Situation unterscheidet sich vollkommen von der nach 1945, als Deutschland eine viel größere Anzahl von Flüchtlingen aus Osteuropa aufnahm. Das geschah zu einer Zeit, als die kapitalistische Wirtschaft weltweit boomte. Aber in einer Situation der tiefen Wirtschaftskrise und der Stagnation der Produktivkräfte, trägt der Zustrom von Flüchtlingen zur Entstehung neuer Widersprüche bei, die nicht auf der Grundlage des Kapitalismus gelöst werden können. Das ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor, welcher die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU verschärft.
Deutschland ist ein wirtschaftlicher Riese, aber seine Achillesferse ist die Abhängigkeit von Exporten. „Armes altes Deutschland. Zu groß für Europa, zu klein für die Welt“, wie es Henry Kissinger ausgedrückt hat. Deutschlands Kapitalismus ist hochgradig abhängig von Exporten in die EU und die ganze Welt und daher sehr verletzlich in zukünftigen Handelskriegen und Weltkrisen. Die Berichte über ein angebliches deutsches „Jobwunder“ verstecken die Tatsache, dass dies zum Preis einer riesigen Prekarisierung der Arbeit passierte. Bereits jetzt haben 40% der Bevölkerung einen niedrigeren Lebensstandard als vor 20 Jahren. Ein Mangel an leistbarem Wohnen, eine wachsende Schicht von erwerbstätigen Armen und Pensionen unterhalb der Armutsgrenze für Millionen werden die materielle Basis für enorme Unruhen, Explosionen und einem neuen Kapitel des Klassenkampfes in Deutschland sein. Mit ihrer Politik der Konterreformen hat die Sozialdemokratie (SPD) über die letzten 20 Jahre die Hälfte ihrer Wähler und Mitglieder verloren. Die politische Instabilität und der Beginn einer neuen Epoche drückten sich in der Tatsache aus, dass es beinahe 6 Monate dauerte, um nach den Wahlen 2017 eine Regierung zu bilden.
Brexit
Die Tendenzen in Richtung Zerbrechen der EU drückten sich auch auf dramatische Weise im Brexit aus. Das Ergebnis der Abstimmung war ein weiteres Beispiel für die Wut und Verbitterung, die überall unter der Oberfläche bestehen. Das Resultat war ein politisches Erdbeben.
Die bürgerlichen Kommentatoren waren fassungslos, als die Stimmen für den Ausstieg die Mehrheit erreichten. Am meisten schockiert waren die Befürworter des Brexits selbst. Sie hatten sich niemals vorstellen können zu gewinnen und hatten deshalb keinen Plan und keine Strategie. Selbst jetzt scheinen sie nicht die leiseste Ahnung zu haben, was sie tun sollen. Die entscheidenden Fraktionen der britischen Bourgeoisie wollten die EU nicht verlassen, mussten aber das Ergebnis des Referendums akzeptieren, welches katastrophale Folgen für den britischen Kapitalismus haben wird und ebenfalls ernsthafte Probleme für die EU selbst verursachen wird.
Der Brexit hat schwerwiegende Probleme in Irland geschaffen. Die Grenze zwischen dem unabhängigen Süden und dem Norden, der ein Teil des Vereinigten Königreichs ist, hatte in den letzten Jahren praktisch ihre Bedeutung verloren. Wenn die Grenze beim Austritt Britanniens aus der EU wiedereingeführt wird, könnte das verheerende ökonomische Auswirkungen sowohl für den Süden als auch für den Norden haben. Als Folge könnte die gesamte nationale Frage in Irland mit den schlimmsten Auswirkungen wiederaufleben. Die PolitikerInnen kämpfen um eine Art Deal über die komplizierte Frage. Ob das abschließende Ergebnis zur Quadratur des Kreises ausreicht, bleibt abzuwarten.
Die Briten hatten sich vorgestellt ein leichtes Spiel zu haben. Aber das war niemals der Fall. Selbst wenn sich Merkel den Briten gegenüber freundlich verhalten würde (was überhaupt nicht klar ist), kann sie London keinen Gefallen tun, denn das würde andere ermutigen dem britischen Beispiel zu folgen und die EU verlassen. Merkels Niederlage bei den Bundestagswahlen hat die Lage weiter kompliziert, sie hat jetzt die nationalistische und europafeindliche AfD im Nacken. Das ganze Gerede von der „europäischen Solidarität“ ist schnell vergessen, wenn die nationalen Gegensätze an die Oberfläche kommen. Der Ausgang wird sowohl für Britannien als auch für die EU große Probleme zur Folge haben.
Griechenland
Im Kapital erklärte Marx, dass es während eines Booms der Frage der Kredite einfach ist, aber in Krisenzeiten verwandelt sich alles in sein genaues Gegenteil. Die heutigen Shylocks verlangen ihr „Pfund Fleisch“ von den Griechen. Aber es gibt keine Möglichkeit, dass Griechenland jemals das zahlen kann, was Berlin und Brüssel verlangen. Das alles hat Folgen. Sie heizen einen enormen Klassenhass und eine Polarisierung in Griechenland und in allen südeuropäischen Ländern an.
Was ist nach einem Jahrzehnt unbeschreiblichen Leids, von Sparpolitik, Armut und Elend gelöst worden? Das Land ist in eine ausweglose Krise gestürzt worden. Die jungen Menschen haben keine Arbeit und sind gezwungen auszuwandern während man den alten die Renten vorenthält und sie in den Selbstmord treibt.
Eine Revolution verläuft nicht geradlinig, es gibt zwangsläufig Höhen und Tiefen, auf die wir uns vorbereiten müssen. Nach so vielen Jahren von Streiks, Protesten und Demonstrationen sind die griechischen ArbeiterInnen jetzt müde und enttäuscht. Sie sagen: „Jeder verrät uns. Wir haben der Pasok vertraut, aber die Pasok hat uns verraten. Wir haben Tsipras vertraut und auch er hat uns verraten. – Was können wir noch tun?“ Bei den nächsten Parlamentswahlen wird SYRIZA laut Meinungsumfragen schlecht abschneiden und auf 20% oder darunter zurückfallen. Die Kommunistische Partei könnte leichte Gewinne machen, aber sie wird das Vakuum, das SYRIZA hinterlassen hat, aufgrund ihrer sektiererischen Haltung nicht ausfüllen. In Ermangelung anderer Parteien wird die Neue Demokratie (ND) Zugewinne haben, nicht in Form eines bedeutendes Zulaufs, sondern einfach prozentual. Damit würde eine rechte Koalition unter Führung der ND an die Macht kommen. Dabei würde es aber um eine instabile Regierung handeln, die gezwungen wäre, die Angriffe auf die Arbeiterklasse fortzuführen und zu verstärken, ohne Autorität bei der Arbeiterklasse zu genießen. Unter diesen Bedingungen würde es zu einer erneuten Radikalisierung nach links kommen.
Die gegenwärtige Stimmung wird nicht ewig andauern, sondern ist nur vorübergehend. Aufgrund der tiefen Krise haben die ArbeiterInnen und die Jugend nur die Alternative, den Kampf wiederaufzunehmen. Neue und noch heftigere Explosionen werden für die Zukunft vorbereitet.
Frankreich, der Bankrott von Macrons „Mitte“
Der französische Kapitalismus befand sich schon lange vor 2008 in der Krise. Aber die Wahlen im letzten Jahr lieferten der europäischen Bourgeoisie eine vermeintliche Verschnaufpause. Sie befürchtete, dass Marine Le Pen die Macht übernehmen würde, wie Trump es in den USA getan hatte. Wie Trump ist Le Pen eine reaktionäre Chauvinistin. Sie lehnt die EU ab und das löste, besonders nach dem Brexit-Debakel, ernsthafte Sorgen in Brüssel und Berlin aus. Was die französische Bourgeoisie wirklich beunruhigte, war der plötzliche Aufschwung von Mélenchon in den Meinungsumfragen gegen Ende des Wahlkampfes, den er im zweiten Wahlgang sicherlich gegen Le Pen und sogar gegen Fillon gewonnen hätte – und er hatte sogar Chancen gegen Macron zu gewinnen.
Der Aufstieg von Mélenchon zeigt, dass es zu einer wachsenden Polarisierung zwischen Links und Rechts gekommen ist. Jean-Luc Mélenchon war nahe daran, Le Pen zu besiegen und das wäre ihm beinahe auch gelungen, wären da nicht das Sektierertum sogenannter Trotzkisten in Frankreich gewesen. Wenn man in den konkreten Bedingungen dieser Wahlen die Wählerstimmen dieser beiden Parteien addiert, dann hätten die Stimmen für die NPA und die LO den Ausschlag für eine Kandidatur Mélenchons im zweiten Wahlgang gegeben.
Ein direktes Aufeinandertreffen zwischen Mélenchon und Macron im zweiten Wahlgang hätte alles verändert. Aber das wurde durch die spalterischen Mätzchen der Sekten verhindert. Es wäre für sie durchaus möglich gewesen, einen Wahlkampf mit einem revolutionären Programm zu beginnen und sich dann zugunsten einer Wahlempfehlung für Mélenchon zurückzuziehen. Das haben sie nicht getan, weil sie typische Sektierer sind, die die Interessen ihrer eigenen kleinen Sekten vor die allgemeinen Interessen der französischen Arbeiterklasse stellen.
Letztendlich gewann Macron und die Bourgeoisie konnte erleichtert aufatmen. Die Extremisten wurden besiegt und die Moderaten triumphierten schließlich! Diese gute Nachricht verbreitete sich von Paris nach Berlin und Rom und sogar in London wurden in der City die Champagnerflaschen geöffnet. Die Mitte hatte gewonnen, aber was verstehen diese Leute unter der Mitte? Sie meinen damit die Rechte, die ihr wahres Wesen versteckt und sich als etwas darstellt, was es nicht ist.
Macron ist an die Macht gekommen, weil die beiden Parteien, die traditionell die Mehrheit der WählerInnen hinter sich versammelten (die Sozialisten und die Republikaner) auseinandergefallen sind. Bei diesen Wahlen erlitten die Sozialisten eine vernichtende Niederlage und auch die Republikaner verloren enorm und erreichten die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen nicht. Die PS könnte wie die Pasok in Griechenland enden. Die rechten Republikaner befinden sich ebenfalls in einem schlechten Zustand: Bekannte Führungspersönlichkeiten haben die Partei verlassen und sich Macrons Regierung (oder Partei) angeschlossen, die übrigen haben sich in viele Fraktionen aufgespalten.
Die Kommunistische Partei wurde wegen ihrer Verbindung zu den diskreditierten Sozialisten kompromittiert und ist mittlerweile nur noch ein Randphänomen in der französischen Politik. Andererseits konnte die Front National, trotz ihrer Wahlniederlage, 1,3 Mio. Stimmen mehr gewinnen als 2012. Aber La France Insoumise, die Partei von Mélenchon gewann 3 Mio. Stimmen und ist jetzt zusammen mit den Gewerkschaften die größte oppositionelle Kraft gegen Macrons Politik. In einer Meinungsumfrage vom Oktober erklärten 35% der befragten La France Insoumise zur wichtigsten Oppositionspartei, 13% die Front National und nur 2% die SP und die KP! Somit ist Mélenchons Partei die größte Oppositionspartei sowohl im Parlament als auch auf der Straße.
Es ist nicht wahr, dass Macron mit der absoluten Mehrheit gewonnen hat. Die absolute Mehrheit, dazu gehören auch diejenigen, die leere Stimmzettel abgegeben haben oder nicht gewählt haben, hat nicht für Macron gestimmt! Und diese „schweigende Mehrheit“ wird nicht mehr lange schweigen. Tatsächlich brauchte Macron nicht lange, um sich selbst zu entlarven, seit er unmittelbar nach der Übernahme des Präsidentenamtes bestätigte, er wolle das Arbeitsgesetz ändern, um die Entlassung von ArbeiterInnen zu erleichtern.
Marx sagte, dass Frankreich das Land sei, in dem der Klassenkampf immer bis zum Ende geführt werde. Die Wahrheit dieser Aussage wird bald jedem klar werden. Wir werden große Demonstrationen, Streiks und Generalstreiks erleben. Eine Wiederholung von 1968 kann nicht ausgeschlossen werden, sie ist in dieser Lage implizit enthalten.
Italien
Griechenland war das schwächste Glied des europäischen Kapitalismus. Spanien liegt nur einen Schritt hinter Griechenland. Italien liegt wiederum einen Schritt hinter Spanien und Frankreich einen hinter Italien. Die italienische Wirtschaft stagniert seit dem schweren ökonomischen Schlag von 2008. Infolgedessen sind reihenweise kleine und mittlere Unternehmen Bankrott gegangen und waren somit nicht mehr in der Lage ihre Schulden zurückzuzahlen.
Das europäische Bankwesen ist in einer katastrophalen Lage. Es ist überschuldet und wird nur mit Hilfe der Europäischen Zentralbank (EZB) aufrechterhalten. Das kann nicht immer so weitergehen, da die EZB von Deutschland finanziert wird. Und die Deutschen sind nicht bereit, die Defizite der südeuropäischen Länder mit ihren EZB- Beiträgen zu finanzieren.
In Italien ist es zu einer großen Bankenkrise gekommen. Es ist eine Tatsache, dass die italienischen Banken zum großen Teil pleite sind. Laut den EU- Richtlinien dürfen Regierungen Banken nicht mehr retten, aber Italien war eine Ausnahme. Wenn das italienische Bankwesen zusammenbricht, könnte es das gesamte europäische Finanzwesen zum Einsturz bringen. Aber die illegalen Rettungsmaßnahmen haben die Probleme nicht gelöst. Italien befindet sich in einer tiefen Krise und das nicht nur wirtschaftlich und finanziell, sondern auch politisch.
Das Vertrauen in die politischen Parteien bricht zusammen. Das zeigte sich deutlich beim Referendum zur Verfassungsreform im Dezember 2016, bei dem Renzi eine vernichtende Niederlage erlitt. Das Problem für die italienische Bourgeoisie besteht darin, dass sie nicht über eine starke Regierung verfügt. Aber wie sollen sie auch eine starke Regierung bekommen, wenn sie nicht einmal eine starke Partei haben? Früher hatten sie die Christdemokraten, das ist vorbei. Berlusconis Forza Italia ist ebenfalls geschwächt. Und die Demokratische Partei (PD), die aus einer Fusion von einer Sektion der alten KP und den Resten der Christdemokraten und anderer kleinerer bürgerlichen Organisationen entstanden ist, befindet sich im Niedergang.
Die sogenannte Linke befindet sich in einem Prozess der Zersplitterung, zusammengenommen erreichen sie bei den Meinungsumfragen nicht einmal sieben Prozent. In der Vergangenheit konnte die herrschende Klasse auf die PCI-Führer bauen, wenn es darum ging, die Arbeiterklasse zurückzuhalten. Aber als Folge jahrzehntelanger stalinistischer Degeneration und des immer wiederkehrenden Verrats an der Arbeiterklasse hat sich die einst mächtige KP komplett zerstört.
In diesem Vakuum haben wir den Aufstieg von Beppo Grillo und seiner Fünf-Sterne-Bewegung gesehen. Das ist eine Protestbewegung, die sich überwiegend aus kleinbürgerlichen Elementen zusammensetzt und deren Programm aus einem konfusen politischen Sammelsurium besteht, das teilweise einen reaktionären Charakter hat. Es handelt sich bei der Bewegung überhaupt nicht um eine Partei, und sie hat keine Strukturen. Die Fünf Sterne bedienten sich häufig einer antieuropäischen Rhetorik, doch in der letzten Periode schraubten sie diese etwas hinunter (beispielweise gaben sie den Slogan eines Referendums über den Euro auf), um im Ansehen der italienischen Bourgeoisie als verlässliche Regierungspartei zu steigen. Da aber auf der Linken eine Alternative fehlt, gewinnt die Bewegung aufgrund ihres Anti-Establishment-Kurses, dem man mit dem Slogan zusammenfassen kann: „Schmeißt sie alle raus!“, Stimmen aus der Arbeiterklasse.
Grillos Bewegung ist ein instabiles und widersprüchliches Phänomen, das wahrscheinlich nicht lange Bestand hat. Die internen Widersprüche werden bald an die Oberfläche kommen und sie wird schnell in eine Krise geraten. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie genau sich diese Situation abspielen wird, aber es ist keine vorteilhafte Situation für die italienische Bourgeoisie.
Andererseits hat die italienische Arbeiterklasse außergewöhnliche revolutionäre Traditionen. Die Krise des italienischen Kapitalismus wird unvermeidbar neue und beispiellose Explosionen erzeugen, die vergleichbar sind mit denen im Mai 1968 in Frankreich oder im Heißen Herbst in Italien 1969. Wenn die großen Schlachten erst einmal in Bewegung geraten, wird sich die gesamte Lage schnell ändern und es werden neue politische Formationen, die sehr links und radikal sein werden, wie es in den Jahren vor und nach 1969 passiert ist.
Die Wahlen am 4. März repräsentierten ein wahres politisches Erdbeben. Die Parteien, die im Namen Europas Sparpolitik beworben hatten (PD, bürgerliche Mitteparteien, Forza Italia) wurden in den Umfragen vernichtet, während es einen spektakulären Aufstieg der Fünf Sterne und bis zu einem gewissen Grad der Lega gab, die mehr und mehr zu einer Le-Pen-artigen Bewegung wird, nicht länger zur Abspaltung des Nordens des Landes aufruft, und mit einem nationalen Charakter (das Word „Nord“ wurde von ihrem Parteinamen entfernt).
Nach drei Monaten einer sehr instabilen politischen Situation wurde die Conte Regierung aus einem Bündnis von Parteien, die bei den Wahlen gewonnen hatten, geformt. Obwohl die Bürgerlichen eine Regierung der Fünf Sterne mit der Demokratischen Partei bevorzugt hätten, mussten sie letztendlich diese Koalition akzeptieren, die sie bereits jetzt versuchen, auf jede mögliche Weise zu beeinflussen (nicht zuletzt mit der Einbindung ihrer direkten Repräsentanten in Schlüsselministerien wie Finanzen und Äußeres).
Der spezielle Charakter dieser Regierung ist der, dass obwohl sie keine linke Regierung ist (ganz zu schweigen von einer Arbeiterregierung), und obwohl sie stark reaktionäre Elemente in sich einschließt, sie trotzdem riesige Erwartungshaltungen der Massen in sich trägt, insbesondere in der Arbeiterklasse und Jugend, die sich von den historischen Organisationen der Linken stehengelassen fühlen und die daher entschieden, massenhaft für die Fünf Sterne zu stimmen, mit 40-50%, insbesondere im Süden.
Dieser Aspekt muss von den Marxisten und jedem, der eine arbeiterklassenbasierte Linke in Italien aufbauen will, berücksichtigt werden. Es warten jetzt Millionen von Menschen darauf, dass Di Maio das tut, was er versprochen hat, d.h. das Fornero Gesetz abzuschaffen (die Pensions-Konterreform die von der vorhergehenden Regierung eingeführt wurde), die Arbeitsgesetzgebung und insbesondere die Einführung eines Arbeitslosengelds. Dieser Druck von unten wird insbesondere auf dem Arbeitsminister, dem Fünf-Sterne-Führer Luigi Di Maio, lasten, der während der Wahlkampagne das Blaue vom Himmel versprach.
Es wird geschätzt, dass sollte die Regierung alle Maßnahmen im „Regierungspakt“ durchführen, müsste sie dafür knapp 160 Mrd. Euro auftreiben, was 7-8% des Budgetdefizit bedeuten würde gegenüber der theoretischen Obergrenze von 3%, die von der EU vorgeschrieben wird, welche im Falle Italiens mittels Entscheidung der EU-Kommission eine Grenze von unter 2% empfiehlt.
Gleichzeitig beinhaltet ihr Programm reaktionäre Maßnahmen wie eine Flat Tax, eine Reduktion der Höchststeuersätze von 43% auf 25%, was, zusätzlich zum Vorteil für die Bosse und privilegierten Schichten der Gesellschaft, selbst bei teilweiser Anwendung signifikante Einbußen der Staatseinnahmen bedeuten würde.
Es ist klar, dass diese Rechnung nicht aufgeht wenn wir im Rahmen des Kapitalismus bleiben, und es ist undenkbar, dass diese Regierung seiner ganzen Natur nach in Richtung eines Bruchs mit dem System gehen könnte.
Daher ist es unmöglich, dass diese „gelb-grüne“ Regierung progressiven Elemente ihres Programms umsetzen kann und das ist ein schlagender Punkt im Prozess der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse, der Arbeitslosen und der Massen im Süden, die für die Fünf Sterne mit der Hoffnung auf Veränderung stimmten.
In dem Ausmaß, in dem all diese Erwartungen frustriert und zerstört werden, können sie schnelle Mobilisierungen hervorrufen, möglicherweise schon kommenden Herbst.
Wie sind daher mit einer schwachen Regierung konfrontiert, voll mit unbekannten Persönlichkeiten (angefangen mit der unwahrscheinlichen Gestalt des Premierministers), die von Anfang an riesigem Druck sowohl der herrschenden als auch der Arbeiterklasse und der armen Gesellschaftsschichten ausgesetzt sein werden.
Selbst wenn die Lega den Innenminister in Form ihres Führers Matteo Salvini benutzt, um einen Krieg unter den Armen anzustacheln, indem Migranten zu Sündenböcken gemacht werden, wird dies die Arbeiterklasse nicht davon abhalten, ihre wahren Feinde zu erkennen, nicht nur in der Europäischen Union und den Bossen, sondern auch in einer Regierung, die gewählt wurde, um gegen Sparmaßnahmen zu sein, jedoch unausweichlich vor dem Druck der herrschenden Klasse und den Vorgaben aus Brüssel niederknien werden.
Wir können sagen, dass die Situation der Ebbe im Klassenkampf, die für eine lange Zeitperiode die politische und soziale Situation in Italien kennzeichnete, zu ihrem substanziellen Ende gelangt ist. Das Hindernis, das zuvor existierte, um das Anwachsen des Klassenkonflikts und die Formierung einer klassenbasierten Linke, wie wir es in anderen europäischen Ländern beobachten konnten (Podemos, France Insoumise etc.) beseitigt wird.
Spanien
Trotz einer partiellen ökonomischen Erholung ist die Krise des Regimes, die 2008 begann, keineswegs beigelegt. Die Jahre der Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der Angriffe auf den Lebensstandard, in Verbindung mit den Korruptionsskandalen, haben zu einer schweren Legitimationskrise des gesamten bürgerlich-demokratischen Systems in Spanien geführt. Der lange Zyklus der Massenmobilisierungen von 2011-15 fand schließlich durch die Entstehung und dem Aufstieg von Podemos, die bei den Parlamentswahlen 2016 21% der Stimmen erhielt, einen politischen Ausdruck.
Endlich wurde die verhasste und korrupte rechte PP Regierung durch ein Misstrauensvotum Anfang Juni zu Fall gebracht und durch eine PSOE-Minderheitenregierung unter der Führung von Pedro Sanchez ersetzt. Dies war nicht die bevorzugte Option der herrschenden Klasse, da das Votum die PSOE, Unidos Podemos und die katalanischen Nationalisten zusammenbrachte und die baskischen Nationalisten dazu zwang, ebenfalls dafür zu stimmen. Sie hätten es bevorzugt ein wenig länger zu warten und die korruptionsdurchfressene PP durch eine Regierung, geführt von Ciudadanos zu ersetzen, der Hauptgewinner der Welle spanischen reaktionären Nationalismus, die durch das katalanische Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 entfacht wurde, und die genauso rechts wie die PP ist, aber mit „neuen“ und „sauberen“ Führungsfiguren. Letztlich drängte die Korruption zu einem eiligen Misstrauensvotum. Sanches versicherte die herrschende Klasse, dass er nicht von der von ihnen benötigten Sparpolitik abweichen wird, doch zur selben Zeit ist es wahrscheinlich, dass er einige beschwichtigende Gesten an die Linke machen, um seine Wahlunterstützung zu steigern, hauptsächlich rund um Fragen, die kein Geld kosten oder keine fundamentale Bedeutung haben.
Die PSOE-Minderheitenregierung wird unter Druck stehen, eine ganze Reihe von Belangen zu lösen (Einsparungen in der Bildung und im Gesundheitswesen, Arbeitsmarktreform, demokratische Rechte, nationale Rechte Kataloniens). Die herrschende Klasse wird darauf hoffen, die Sanchez Regierung so viel auszunützen wie nur möglich, um sie so zu diskreditieren und daraufhin zu Neuwahlen zu schreiten mit einer starken Ciudadanos und einer „neuen“ und „gesäuberten“ PP.
Wir sahen eine Wiederbelebung von Massenkämpfen mit ausgesprochen signifikanten Bewegungen wie dem „feministschen Streik“ vom 8. März, der Bewegung gegen das skandalöse Urteil im „Wolfsrudel“ Gruppenvergewaltigungsfall, die Massenmobilisierung gegen die skandalöse Verurteilung der Alsasu Jugend, die Proteste von migrantischen Landarbeiterinnen in Andalusien etc. Es gab außerdem eine Reihe von bedeutsamen Streiks, wie beispielsweise bei H&M, die Metallarbeiter der Bucht von Cadiz etc. Wenn die Führer von Podemo und der Vereinigten Linken eine Strategie verfolgen würden, die die Massenmobilisierungen auf der Straße mit Druck im Parlament vereinen würde, könnten sie von der Situation profitieren. Allerdings war deren ganzes Verhalten unter der PP Regierung geprägt von parlamentarischem Kretinismus und kompletter Unfähigkeit oder Unwillen, sich auf die Tätigkeit der Massen zu stützen.
Der brutale Charakter des spanischen Staates zeigte sich bei der grausamen Unterdrückung der Menschen in Katalonien, deren einziges „Verbrechen“ der Wunsch war, über die eigene Zukunft zu entscheiden. Jetzt tauchen die alten Dämonen wieder auf. Die spanische Gesellschaft ist heute genauso tief gespalten wie vor 40 Jahren. Die Jugend und die fortschrittlichsten Kräfte in der Arbeiterklasse erkennen den reaktionären Charakter der Verfassung von 1978 und sind bereit gegen diese zu kämpfen. Die Situation ist ausgesprochen unbeständig. Nach mehreren Jahren der Starre, haben die Massen wieder auf die Straßen gefunden, und reißen dabei den Schleier des spanischen Chauvinismus herab. Der Ausbruck der Pensionistenbewegung und, vor allem, der Kampf der Frauen am Arbeitsplatz gegen sexistische Gewalt und gegen die reaktionäre Gesetzesgewalt haben die ganze Situation transformiert. Zu dem müssen wir die wachsende Empörung der Jugend und Teile der Arbeiterklasse gegen das erdrückende und repressive Umfeld zählen, das die Regierungen der PP charakterisierten, und die Stärkung der republikanischen Tendenzen in der Gesellschaft.
Die Massen zeigen ihren Kampfgeist zuoberst in den Straßen Barcelonas, aber auch in Madrid, im Baskenland, Asturien und Sevilla. Dabei wird es unvermeidbar zu Niederlagen und Rückschlägen als Konsequenz aus der Kurzsichtigkeit, Dummheit und Feigheit der Führung kommen. Aber die ArbeiterInnen und die Jugend, die in den letzten Jahren wiederholt ihre Bereitschaft gezeigt haben, werden neue Lektionen lernen.
Es gab in der Vergangenheit viele Niederlagen, wie die zwei schwarzen Jahre oder die Niederschlagung der asturischen Kommune von 1934. Aber die Niederlagen, von denen wir heute reden, sind überhaupt nicht mit diesen Niederlagen zu vergleichen. Heute bleiben die Kräfte der Arbeiterklasse intakt, während die Massenbasis der Reaktion unendlich viel schwächer ist als damals: Es gibt keine maurische Legion, keine reaktionäre karlistische Bauernschaft und die Studenten, die sich reihenweise der Falange anschlossen, stehen jetzt fest hinter Arbeiterklasse und der Linken.
In einer revolutionären Epoche können solche Niederlagen schließlich nur der Auftakt für neue Umwälzungen sein. Bei Aktionen, auf den Straßen, in den Fabriken und auf den Campussen werden die Massen die revolutionären Traditionen von 1931-37 und vom heldenhaften Kampf gegen die Franco- Diktatur wiederentdecken. Spanien wird sich in der nächsten Zeit erneut an der Spitze der revolutionären Kämpfe in Europa finden.
Katalonien
Der Versuch Kataloniens, sein Recht auf Selbstbestimmung auszuüben, war die bisher schwerwiegendste Herausforderung für das Regime von 1978. Es gibt verschiedene Elemente in dieser Gleichung. Erstens ist die rückständige und reaktionäre herrschende Klasse Spaniens der Universalerbe der Franco-Ära. Sie betrachtet jeden Versuch, die Einheit Spaniens in Frage zu stellen, als Bedrohung für ihr gesamtes System, das dann weitere Fragen aufwerfen würde (die Monarchie, die Sparpolitik etc.). Deshalb war sie bereit, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, den Versuch ein Referendum abzuhalten, zu zerschlagen: die Polizeirepression, die Beschlagnahme der Wahlurnen, die Versiegelung der Wahllokale, die Entlassung der katalanischen Regierung und die Verhaftung ihrer Minister etc.
Andererseits hatte die katalanische Regierung, die aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalisten bestand, die Unterstützung durch die katalanische Bourgeoisie (Banker und Kapitalisten), die gegen die Unabhängigkeit sind, verloren. Diese nationalistischen Politiker betrachteten das Unabhängigkeitsreferendum schlimmstenfalls als Mittel, um auf die Regierung in Madrid Druck auszuüben und Konzessionen zu erlangen oder bestenfalls, um Druck auf die EU auszuüben und sie zu zwingen, sich einzumischen und die Regierung dazu zu bewegen, ein aufeinander abgestimmtes Referendum zu organisieren. Im Falle der bürgerlich-nationalistischen PDeCAT (ehemals CDC), die wegen ihrer rechten Sparpolitik, Repression und Korruptionsskandale völlig diskreditiert war, bestand auch das zynische Kalkül, die Unabhängigkeit als Möglichkeit zu nutzen, sich selbst neu zu erfinden und an der Macht zu bleiben. Diese Parteien waren nicht bereit, revolutionäre Methoden anzuwenden, die in Spanien erforderlich sind, um das Recht der Selbstbestimmung auszuüben.
Sie wurden durch den Druck der Massen in der Bewegung gezwungen, weiter zu gehen als sie beabsichtigt hatten, ein dritter Faktor, den sie nicht einkalkuliert hatten. Am 20. September (als 40.000 gegen die Durchsuchung der katalanischen Regierungsgebäude durch die Guardia Civil demonstrierten), am 1. Oktober (als Hunderttausende aufzogen, um abzusichern, dass das Referendum stattfand und zwei Millionen ihre Stimmen abgaben) und am 03. Oktober (als Millionen an einem Protest-Generalstreik gegen die brutale Polizeirepression teilnahmen) haben die Massen kraftvoll die Bühne betreten und fingen an, sich ihrer eigenen Macht bewusst zu werden. Das brachte die katalanische Regierung in eine unmögliche Situation: Sie wurde gezwungen, die Republik auszurufen, aber sie war nicht darauf vorbereitet die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Verteidigung anzuwenden, wie z. B. Massenmobilisierungen auf den Straßen, die Besetzung öffentlicher Gebäude, ein Generalstreik, Widerstand gegen die spanische Polizei. Mit anderen Worten, was fehlte, war ein revolutionärer Aufstand. Das erklärt ihr Zögern, ihr Schwanken und ihre Unentschlossenheit nach dem Referendum, die „ausgesetzte“ Ausrufung der Republik am 10. Oktober, die ständigen Appelle zu Verhandlungen, der beinahe Verrat der Bewegung am 25. Oktober und demütige Ausrufung der katalanischen Republik am 27. Oktober, nach der sie sich aus dem Staub machten.
In der Zwischenzeit wurden die Massen, sich an der Bewegung beteiligten (ein Teil der Arbeiterklasse, vor allem die Jugend und die kleinbürgerlichen Schichten, die das Rückgrat der Bewegung bilden) gegenüber ihren eigenen Führern immer kritischer. Die Entstehung der Komitees zur Verteidigung der Republik und die Rolle, die sie beim Generalstreik spielten, zeigen den Weg nach vorne. Eine katalanische Republik ist eine basisdemokratische Forderung, welche das gesamte Gebäude des spanischen Regimes herausfordert. MarxistInnen unterstützen den Kampf für eine katalanische Republik, wir haben aber die Pflicht zu erklären, dass diese nur mit revolutionären Mitteln erreicht werden kann. Das verlangt die Ersetzung der gegenwärtigen Führung durch eine, die in der Arbeiterklasse fest verankert ist. Weiterhin müssen die Spanisch sprechenden ArbeiterInnen in Katalonien gewonnen werden, das kann nur gelingen, wenn der Kampf für eine Republik mit dem Kampf für Arbeitsplätze und Wohnungen, gegen die Sparpolitik verbunden wird und auch als Teil eines breiteren Kampfes in ganz Spanien gegen das 1978er Regime betrachtet wird. Der Slogan, der all das zusammenfasst lautet: „Für eine katalanische sozialistische Republik als Funke für eine iberische Revolution“.
Die Wahlen in Katalonien am 21. Dezember haben keine Probleme gelöst. Sie sind eine Niederlage für das monarchistische System in Spanien, da die Unterstützer der Unabhängigkeit erneut die Mehrheit im Regionalparlament gewonnen haben und wahrscheinlich die Regierungskontrolle übernehmen werden. Auf parlamentarischer Ebene sind wir wieder in der Situation, die vor dem Referendum am 1. Oktober bestand. Die demokratische nationale Bewegung wird sich mit Auf- und Abschwüngen fortsetzen. Die Aufgabe der MarxistInnen ist es, energisch zu intervenieren und die fortschrittlichsten Kräfte innerhalb der Jugend, die schon revolutionäre Schlüsse ziehen, zu erreichen.
Britannien: das Corbyn-Phänomen
Vor nicht allzu langer Zeit war Britannien eines der stabilsten Länder in Europa. Jetzt gehört es zu den instabilsten Ländern und erlebt einen Schock nach dem anderen. In Schottland ist die nationale Frage in den Hintergrund getreten, aber das Problem ist noch lange nicht gelöst und kann mit neuer Kraft im Rahmen einer erneuten Wirtschaftskrise wieder auftreten. Unter der Oberfläche einer scheinbaren Ruhe bestand kochende Wut, Empörung, Enttäuschung und ein brennendes Verlangen, die Situation zu verändern, der aber ein klarer Bezugspunkt fehlte.
Die Bewusstseinsänderung drückte sich schließlich im ungewöhnlichen Aufstieg von Jeremy Corbyn aus. 2015 wurde Corbyn zufällig zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt, seine Wahl stieß beim Blair-Flügel auf massivem Widerstand.
Theresa May erkannte das und zog den logischen Schluss. Sie setzte vorgezogene Neuwahlen für den Juli 2017 an und war vollkommen überzeugt, dass sie eine große Mehrheit erreichen und die Labour Party zerschlagen könnte. Die Vertreter des rechten Blair-Flügels hofften insgeheim, dass Labour eine vernichtende Niederlage erleiden würde, für sie die einzige Möglichkeit Jeremy Corbyn loszuwerden, und sie versuchten den Wahlkampf zu sabotieren.
Es wurde allgemein ein erdrutschartiger Sieg der Konservativen vorhergesagt. Aber es kam zu einer vernichtenden Niederlage der Tories, der Medien und des verräterischen Labour-Flügels.
Sobald der Wahlkampf begonnen hatte, veranstalte Jeremy Corbyn begeisternde Massenkundgebungen, an denen vor allem junge Menschen teilnahmen. Corbyn trat mit dem linksten Programm, das Labour seit Jahrzehnten gehabt hatte und er knüpfte sofort an der in der Gesellschaft bestehenden Unzufriedenheit an. Niemand erwartete dieses politische Erdbeben.
Hunderttausende Menschen, überwiegend Jugendliche, wurden Mitglied der Labour Party. Bevor Corbyn zum Vorsitzen gewählt worden war, hatte Labour 180.000 Mitglieder. Heute sind es 570.000 und damit ist Labour die größte Partei in Europa. Jeder konnte erkennen, dass Jeremy Corbyn der eigentliche Wahlsieger war. Er genießt an der Basis enorme Unterstützung.
Der rechte Flügel wurde auf der Labour-Konferenz im September 2017 entscheidend besiegt, was zeigt, dass die Linke die Mehrheit in den lokalen Parteigliederungen errungen hat. Trotzdem bleiben die Parlamentsmitglieder, die Stadträte und insbesondere die hauptamtlichen Funktionäre unter der Kontrolle des rechten Flügels. Die herrschende Klasse und ihre Agenten werden die Kontrolle über die Labour Party nicht so einfach abgeben, aber momentan sind sie gezwungen, ihre Versuche Corbyn loszuwerden aufgeben und sind zu einer abwartenden Taktik übergegangen.
Diese unterirdische Aufruhrstimmung sucht nach einem Ausdruck. In Britannien fand sie diesen bei Corbyn und es ist für die britischen MarxistInnen notwendig, ihre Kräfte auf diese Bewegung zu orientieren. Aber obwohl wir Corbyn gegen den rechten Flügel unterstützen, ist es nötig auf positive und freundliche Weise die Beschränkungen von Corbyns Programm und die Notwendigkeit für ein umfassendes revolutionäres Programm zur Umgestaltung der Gesellschaft geduldig zu erklären.
Es ist wahrscheinlich, dass Labour die nächsten Wahlen gewinnen und Corbyn eine Regierung bilden wird. Jeder Versuch, die Reformen, die in seinem Programm enthalten sind, durchzuführen, wird von der herrschenden Klasse und mit Hilfe der blairschen fünften Kolonne mit heftigem Widerstand begegnet werden, und es wird versucht werden die radikaleren Teile seines Programms zu zähmen. Ein Teil der herrschenden Klasse spielt mit dem Gedanken einer Neuausrichtung der britischen Politik, in der ein neues Gebilde oder eine Koalition der Mitte unter Beteiligung „linker“ Konservativer und dem rechten Flügel der Labour Party geschaffen wird. Das ist nicht die unmittelbare Perspektive, aber es könnte zum Sturz einer Corbyn-geführten Regierung eingesetzt werden. In einer Zeit der politischen Polarisierung und der Wirtschaftskrise hätte eine Partei oder Koalition der Mitte jedoch eine sehr kleine Basis. Die Regierungserfahrung und eine mögliche Spaltung der Partei würden den Weg für eine weitere Radikalisierung der Labour-Basis bereiten.
Russland
Der Umsturz in der Ukraine und die Annexion der Krim hatten eine bedeutende Auswirkung auf das gesamte politische Spektrum in Russland. Aber die nationalistische Euphorie im Jahre 2014, als Putins Popularitätsindex bei über 84% lag, ist allmählich zurückgegangen. Der Rückgang der Ölpreise und (in einem geringeren Ausmaß) die westlichen Sanktionen haben 2015 zu einem Fall des Wechselkurses beim Rubel und einer dreizehnprozentigen Inflationsrate geführt.
Der hohe Refinanzierungssatz (Zinsrate, die von Banken gezahlt wird, wenn sie Geld von der Zentralbank leihen) der Zentralbank hatte zusammen mit den vom Westen verhängten Sanktionen schwerwiegende Auswirkungen auf den Finanzsektor, was zum Bankrott dutzender Banken führte. Die Regierung, die mit dieser Situation konfrontiert wurde, setzte Finanzreserven ein, um die größten Finanz- und Industrieunternehmen mit engen Bindungen zum Staat zu unterstützen, was zu einer weiteren Konzentration des Kapitals führte.
Andererseits griff die Regierung zu administrativen Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und verbot de facto Massenentlassungen. Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren wurde eine Anzahl effektiver Maßnahmen ergriffen, die darauf zielten, die Korruption und die Steuerhinterziehung zu verringern. Dieser Schlag richtete sich in erster Linie gegen die Mittel- und Kleinbourgeoisie, insbesondere gegen kleine Familienunternehmen, wie die Besitzer von LKW und Lieferwagen.
Zusätzlich zu den rein ökonomischen Gründen reagierte Putin auf seine Art mit diesen Maßnahmen auf die Proteststimmung in der Mittelschicht der großen Städte, bei der er weniger beliebt ist. Hier handelt Putin nach dem Prinzip: „Für meine Freunde ist alles erlaubt, meine Feinde werden die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“.
Gleichzeitig wurde eine Reform des Hochschulwesens durchgeführt, welche die Lage der Masse der HochschullehrerInnen und LektorInnen, die Putin für illoyal hält, verschlechtert. So gelang es Putin große Unterstützung in seiner eigenen Schicht und bei den RentnerInnen und geringverdienenden ArbeiterInnen auf Kosten der Mittelschichten in den Großstädten zu erhalten. Die Unzufriedenheit der letzteren fand ihren politischen Ausdruck bei dem bürgerlichen Demagogen Alexej Nawalny.
Nach 2014 unterstützten alle im Parlament vertretenen Parteien, einschließlich die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), Putin und seine Regierung komplett und stimmten in der Duma für jedes von der Regierung eingebrachte Gesetz. Das hat natürlich nicht dazu beigetragen, ihre Popularität zu erhöhen. Die KPRF befindet sich seit zehn Jahren in einer permanenten Krise. Es gab ständig Hexenjagden, bei denen Menschen mit hergeholten Anschuldigungen, „Trotzkisten“ zu sein, aus der Partei geworfen wurden, obwohl alle loyale Anhänger Sjuganows waren.
Die Mitgliedschaft der KP in Moskau, St. Petersburg und anderen Großstädten ist um zwei Drittel zurückgegangen. Das hinterließ ein Vakuum in der Opposition gegen Putin, in das Nawalny eingetreten ist. Er ist ein typischer Demagoge, der sich als „Mann des Volkes“ präsentiert und die amerikanische Tradition sklavisch kopiert. Aber er sticht zwischen anderen Oppositionellen stark heraus. Die Grundlage seiner Kampagnen bildet die Nutzung sozialer Netzwerke, besonders YouTube, wo er seine Videos über die Korruption bei den Machteliten hochlädt.
Nawalny selbst ist das Recht, an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, entzogen worden, weil er zwei Mal wegen Korruption verurteilt wurde. Er ruft seine Anhänger regelmäßig auf die Straßen. Die Zahl der Teilnehmer dieser Mobilisierungen beträgt landesweit ca. 100.000 Menschen, die sich auf die Großstädte verteilen. Es sind meist junge Leute, die von Nawalnys scheinbaren Entschlossenheit und seiner geschickten Nutzung der sozialen Medien angezogen werden.
In den letzten Jahren ist es Putin gelungen, die Inflation einzudämmen und die Krise allgemein zu überwinden – zumindest vorübergehend. Trotzdem bleibt Russlands Haushaltsdefizit bei den gegenwärtigen Ölpreisen hoch und in zwei bis fünf Jahren werden die Reservefonds zwangsläufig erschöpft sein, während Russlands Möglichkeiten der externen Kreditaufnahme jetzt minimal sind. Wenn der Ölpreis weitere drei oder vier Jahre niedrig bleibt, wird sich die gesamte Lage in ihr Gegenteil verkehren.
Wenn es dazu kommen sollte wird Putin, der offensichtlich erneut zum Präsidenten gewählt wird, vor einem schwerwiegenden Problem stehen. Die Regierung wird nicht länger das Haushaltsdefizit lösen können, ohne tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben vornehmen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt wird seine Popularität vollständig verfliegen. Aus diesem Grund nutzt Putin jede Möglichkeit, um seine Kontrolle über das Internet zu verschärfen und um Beschränkungen der Redefreiheit und anderer demokratischen Rechte vorzunehmen.
Zum jetzigen Zeitpunkt hat Putin noch Handlungsspielraum. Er muss die öffentlichen Ausgaben nicht drastisch kürzen oder drastische Angriffe auf den Lebensstandard starten. Aus diesem Grund hat die Opposition keine großen Erfolge bei der Mobilisierung proletarischer Elemente gehabt.
Gegenwärtig sind diejenigen, die offen auf der Straße demonstrieren vor allem aus der Mittelklasse und dem Kleinbürgertum. Obwohl Nawalny einen Anstieg des Mindestlohns befürwortet hat, ist es ihm bisher noch nicht gelungen, eine Verbindung zu den sozialen Problemen herzustellen. Es gibt eine Grenze, wie weit die Opposition auf der Grundlage demokratischer Forderungen und der Anprangerung der Korruption Erfolg haben kann.
Trotzdem haben viele junge Leute, vor allem SchülerInnen und StudentInnen, mit der Opposition demonstriert. Eine signifikante Zahl von ihnen ist auf die Straße gegangen. Das ist eine wichtige symptomatische Entwicklung. Die russische Geschichte zeigt, dass das Erwachen der studentischen Jugend ein sicherer Vorbote für eine zukünftige Bewegung der Arbeiterklasse ist. „Der Wind bläst immer zuerst durch die Baumgipfel.“
Osteuropa und der Balkan
Der Aufstieg des Nationalismus in Osteuropa und eine Anti-Immigrations-Rhetorik sind der Versuch seitens der Regierungen in der Region, vom wachsenden Unbehagen abzulenken, das durch den niedrigen Lebensstandard und die Last, die die kapitalistische Krise der Masse der Bevölkerung aufbürdet, in einer Situation, in der die Arbeiterklasse die Bühne noch nicht entschieden betreten hat.
Höhere Zuwachsraten des BIP (im Verhältnis zu den westeuropäischen Ländern) verdecken die Realität einer extremen kapitalistischen Ausbeutung einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse unter einem System niedriger Löhne, um die kapitalistischen Profite und die ausländischen Investitionen zu maximieren. Eine aktuelle Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (“Why central and eastern Europe needs a pay rise”) zeigt die Lohnunterschiede zwischen West- und Osteuropa, die bis 2008 langsam zurückgegangen sind, im letzten Jahrzehnt aber wieder zugenommen haben.
Als Konsequenz daraus gab es wichtige Anzeichen für die Radikalisierung der Jugend, die ersten Symptome waren Mobilisierungen gegen die Korruption in verschiedenen Ländern, was auf eine wachsende Ablehnung des gesamten Establishments hindeutet. Wichtige Teile der Arbeiterklasse haben auch begonnen, im Industriebereich in die Offensive zu gehen – in vielen Fällen zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes – und haben wichtige Streiks durchgeführt, die auf substantielle Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen abzielten.
In der Slowakei demonstrierten tausende StudentInnen im April 2017 und forderten den Rücktritt von Premierminister Robert Fico, der der Korruption beschuldigt wurde. Dem folgte im Juni ein massiver Streik von 12.000 ArbeiterInnen in drei VW-Werken in Bratislava, die eine 14-prozentige Lohnerhöhung erkämpften. KIA und Peugeot gewährten eine 7-prozentige Lohnerhöhung, um Streiks zu vermeiden und aus Sorge, die Bewegung könnte sich ausbreiten. Am 25. März 2018 trat Premierminister Robert Fico (Sozialdemokrat) aufgrund eines Skandals zurück, der nach dem Mord des investigativen Journalisten Jan Kuciak am 25. Februar ans Licht gebracht wurde, welcher die Geschäfte der italienischen Mafia im Land untersuchte, sowie deren Kontakte mit den Anhängern des besagten Politikers. Dieser Rücktritt erfolgte nach einer Welle von Massendemonstrationen in den großen Städten, die den Sturz einer Regierung forderten, die von Korruptionsfällen in eine Enge getrieben war.
Wichtige Bewegungen fanden auch gegen reaktionäre Maßnahmen statt. In Polen riefen die Angriffe der rechten Regierung auf die Überreste des Abtreibungsrechts den ‚Schwarzen Protest‘ hervor, eine Bewegung, an der sich zehntausende Frauen im Oktober 2016 beteiligten und die Regierung zum Rückzug zwang.
Im früheren Jugoslawien ist der Radikalisierungsprozess schon weiter fortgeschritten. Eine wachsende Ablehnung der korrupten, reaktionären und bürgerlichen Regimes seitens der Jugend und der Arbeiterklasse wurde in der Aufstandsbewegung in Bosnien im Februar 2014 deutlich zum Ausdruck gebracht. Im letzten Jahr kam es zu bedeutenden Streiks. Der flächendeckende Streik von 2.400 ArbeiterInnen im FIAT-Werk in Kragujevac im Juli 2017 war nur der wichtigste von einer ganzen Reihe radikaler Streiks in kleineren Fabriken und Betrieben. Auch bei den EisenbahnerInnen in Bosnien kam es zu wiederholten Streiks und Protesten.
Die Jugendproteste gegen Vucics Sieg bei den serbischen Präsidentschaftswahlen im April 2017, die weitestgehend von kleinbürgerlichen Illusionen dominiert waren, haben gezeigt, dass eine wachsende Gruppe in der Jugend offen für revolutionäre Ideen ist. Das Potenzial für die jugoslawischen MarxistInnen zeigte die Tatsache, dass sie bei den Protesten in Novi Sad die führende Rolle innehatten.
Lateinamerika
Die Wahlniederlage des Kirchnerismus in Argentinien, die Niederlage der PSUV bei den Wahlen zur Nationalversammlung in Venezuela, Evo Morales’ Niederlage beim Referendum in Bolivien und die Absetzung von Dilma in Brasilien haben die Reformisten und „progressiven“ Intellektuellen auf dem Kontinent in Verzweiflung gestürzt. Sie sprechen von einer „konservativen Welle“ und dem Vormarsch der Konterrevolution, ohne die Prozesse, die dort ablaufen, wirklich zu verstehen.
In einem Zeitraum von 10-15 Jahren erlebten die meisten südamerikanischen Staaten eine revolutionäre Welle, welche unterschiedliche Staaten unterschiedlich stark traf. Es gab die Wahl von Chavez in Venezuela 1998 und die revolutionären Ereignisse nach der Niederschlagung des Coups 2002 sowie den Kampf gegen die Aussperrung durch die Bosse im Dezember 2002 und im Januar 2003; die Argentinazo (Aufstände in Argentinien) 2001, den Aufstand in Ecuador 2000, bei dem Mahuad gestürzt wurde und danach der Sturz Lucio Gutierrez 2005, der 2006 zur Wahl von Correa führte. In Bolivien gab es 1999-2000 den „Wasserkrieg“ von Cochabamba und im Oktober 2003 sowie im Juni 2005 die Aufstände während des Gaskriegs, die zur Wahl von Evo Morales führten. Im Süden von Peru kam es 2002 zu den Arequipazo- Aufständen.
Zusätzlich zu diesen massiven Bewegungen könnte man die Wahlfälschung in Mexiko 2006 zählen und die Oaxaca-Kommune im selben Jahr, die enorme und dauerhafte chilenische Studentenbewegung, die Massenmobilisierungen in Honduras gegen den Staatsstreich 2009, sogar die Wahl von Lula in Brasilien 2002, obwohl diese für sich genommen kein revolutionäres Ereignis war. All diese Geschehnisse widerspiegeln die Sehnsucht der Massen nach einer grundlegenden Veränderung.
Als Nebenprodukt dieser großen Bewegungen der ArbeiterInnen und (und in einigen Ländern der Bauern und Bäuerinnen) kamen Regierungen an die Macht, die im Allgemeinen als „progressiv“ oder „revolutionär“ beschrieben wurden. Natürlich unterschieden sie sich alle voneinander. Während z.B. Chavez auf konfuse Art und Weise eine revolutionäre Veränderung suchte und dahin getrieben wurde, waren Evo Morales, Correa und die Kirchners bemüht, die Ordnung wiederherzustellen, den bürgerlichen Staat in diesen Ländern wieder zusammenzufügen, und um das zu tun mussten sie wichtige Zugeständnisse machen, nachdem die Massen die Bühne betreten hatten, während Lula und Dilma Reformisten an der Macht waren, die ein Programm der Gegenreformen ausführten. Die Linke in El Salvador hatte fast keinen Handlungsspielraum und begann damit, einige ihrer bescheidenen Reformen zurückzunehmen und erzeugte damit eine Ernüchterung unter den Massen in ihrem Verhältnis zur FMLN. Diese Stimmung verkörpert in erster Linie der Bürgermeister von San Salvador, Nayib Bukele, der aus der Partei ausgeschlossen wurde und viel Sympathie bei der Jugend genießt.
Diese Regierungen genossen über einen längeren Zeitraum ein gewisses Maß an Stabilität. Das lag teilweise an der Stärke der Massenbewegung, welche die herrschenden Klassen bei direkten Konfrontationen (die Staatsstreiche in Venezuela 2002, Bolivien 2008 und Ecuador 2010 wurden niedergeschlagen) nicht besiegen konnten. Vor allem aber profitierten sie von einem Zeitraum hoher Rohstoff- und Ölpreise, die es ihnen ermöglichten, einige Sozialprogramme auszuführen, um so einen Konflikt mit den Massen zu vermeiden.
Die Rohstoffpreise stiegen aufgrund des ökonomischen Wachstums Chinas zwischen 2003 und 2010 kontinuierlich. Die Ölpreise stiegen von 40 Dollar das Barrel auf 100 Dollar. Der Preis für Erdgas lag bei drei Dollar/ MMBtu und stieg auf zwischen 8 und 18 Dollar. Sojabohnen kletterten von vier Dollar/Bushel (= US-Volumeneinheit) auf 17 Dollar. Zink stieg von unter 750 Dollar/Tonne auf ein Rekordhoch von 4.600 Dollar, Kupfer von unter 0,60 Dollar/Pfund auf 4,50 Dollar und Zinn von 3.700 Dollar/Tonne auf bis zu 33.000 Dollar.
Dieser Preisanstieg bei Waren und Energiequellen, der den Regierungen einen gewissen Handlungsspielraum gewährte, endete und führte die gesamte Region 2014- 15 in eine Rezession. Das ist die ökonomische Ursache für die Wahl- und sonstigen Niederlagen dieser Regierungen, die stets innerhalb der Grenzen des Kapitalismus geblieben waren.
Der Aufstieg der venezolanischen Revolution gab Kuba einen gewissen wirtschaftlichen Aufschub. Dieser ist nun beendet. Die kubanische Wirtschaft basiert immer noch auf einer Planwirtschaft, aber die eingeführten Reformen bieten einen größeren Raum für eine kapitalistische Wirtschaft und gestatten kleinere Unternehmen aber auch den Versuch, größere Privatinvestitionen anzuziehen. Das Ziel ist es, die Produktivität mit kapitalistischen Methoden zu steigern, ohne das Mittel der Arbeiterkontrolle einzuführen. Selbst heute bleiben noch viele soziale Errungenschaften, aber die Spielräume sind begrenzt und ihre Qualität verschlechtert sich. Es herrscht eine wachsende soziale Differenzierung. Das ist sehr gefährlich. In diesem Jahr kommt es zu Wahlen, bei denen zum ersten Mal nicht einer der Castros oder ein Vertreter der historischen Führung der Revolution zum Präsidenten gewählt wird. Wir werden Konflikte und Druck seitens des kapitalistischen Flügels, sowohl des innerkubanischen als auch des ausländischen, erleben, aber auch eine Reaktion in die andere Richtung, von denjenigen, die nicht von den Reformen profitiert haben und die sozialistische Revolution verteidigen wollen.
Trotz des jämmerlichen Klagens der lateinamerikanischen „Linken“, können die Absetzung von Kirchner in Argentinien und Dilma in Brasilien nicht als „Rechtsruck“ bezeichnet werden. Die Machtübernahme von Temer und Macri wurde durch massive Protestbewegungen der Arbeiterklasse gegen die offenen Angriffe durch den rechten Flügel begleitet. Was sich in Lateinamerika auftut, ist keine Periode des sozialen Friedens und der kapitalistischen Stabilisierung, sondern vielmehr eine der sich verschärfenden Widersprüche und des zunehmenden Klassenkampfs. Das zeigte sich bereits bei der Aufstandsbewegung in Honduras nach den Wahlen 2017. Davor 2015, als in Guatemala ein Konflikt innerhalb der Bourgeoisie den Weg für eine Massenmobilisierung der Jugend, der Bauern und der Arbeiterklasse freimachte. Dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. 2017 kam es zu einem Generalstreik, bei dem der Rücktritt von Präsident Jimmy Morales und 107 Parlamentsabgeordneten gefordert wurde. Andere Länder werden diesem Weg folgen, wie z. B. Mexiko, wo in diesem Jahr Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das ist ein Ereignis, das die Massen nutzen werden, um zu verdeutlichen, dass sie von der kapitalistischen Barbarei die Nase voll haben.
Venezuela
Der Versuch der venezolanischen Oligarchie mit Unterstützung des Imperialismus die Regierung Maduro zu stürzen, scheint vorerst gescheitert zu sein. Die Fehler und die Wankelmütigkeit der oppositionellen Führung wie auch die Reaktion der Massen, die während der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Juli 2017 kraftvoll auf die Straße gingen, haben der Offensive der Opposition in der ersten Hälfte des Jahres ein Ende gesetzt. Das aber ändert nichts Grundlegendes an der Wirtschaftskrise oder der Regierungspolitik.
Venezuela verharrt weiterhin in einer tiefen Rezession, mit einer Hyperinflation und schwindenden ausländischen Währungsreserven, und das hat sehr negative Auswirkungen auf den Lebensstandard der Massen. Der Imperialismus zieht die Schlinge mit finanziellen Sanktionen weiter zu. Die Regierung betreibt weiterhin eine Politik der Zugeständnisse an die Kapitalisten und verhandelt mit den politischen Repräsentanten der Opposition. Ihr einziges Ziel ist es, an der Macht zu bleiben. Die momentane Niederlage der Offensive der Opposition hat ein Zeitfenster für eine klarere Differenzierung innerhalb der bolivarischen Bewegung geöffnet. Es gab Demonstrationen der ArbeiterInnen und das Aufkommen linker Kandidaten, die bei den Kommunalwahlen gegen die offiziellen PSUV-Kandidaten angetreten sind.
Unsere Position ist klar: Wir stellen uns gegen den Sturz der Regierung Maduro durch die Opposition, da dies eine Katastrophe für die Massen wäre. Gleichzeitig können wir die Politik der Regierung, die direkt ins Desaster und zur Niederlage der Bolivarischen Revolution führt, nicht unterstützen.
Es gibt wachsende Kritik an der bolivarischen Führung, die nicht die gleiche Autorität besitzt wie Hugo Chavez. Die Entscheidung von Eduardo Saman, einem früheren Minister, der als Verfechter der Arbeiterkontrolle und Gegner des Großkapital und der internationalen Multis gilt, bei den Bürgermeisterwahlen im Dezember 2017 zu kandidieren, war ein deutlicher Beweis für diese veränderte Stimmung.
Obwohl immer klar war, dass die Bürokratie gewillt war, Salmans Wahlkampf zu boykottieren, war es trotzdem ein Wendepunkt, welcher der marxistischen Tendenz in Venezuela neue Möglichkeiten eröffnet. Die Präsidentschaftswahl am 20. Mai änderten nichts Grundlegendes. Der Kern der Chavista-Stimmen (30% der Wähler) stimmten für Maduro. Die Opposition ist demoralisiert und gespalten. Die Regierung fährt fort, eine desaströse Wirtschaftspolitik zu verfolgen, bei der sie Zugeständnisse und Appelle an den privaten Sektor mit Versuchen den Kapitalismus zu regulieren kombiniert. Die Wirtschaftskrise verschlimmert sich weiter und bringt dabei Schlüsselsektoren zu stillstand. Die Auswirkungen der Sanktionen kombiniert mit Korruption, Fehlmanagement und Sabotage haben zu einem katastrophalen Einbruch der Ölproduktion geführt. Hyperinflation hat die Kaufkraft der Löhne pulverisiert. Am Land gibt es einen offenen Kampf zwischen den comunere Bauernkollektiven und dem Staatsapparat. Unter den Arbeitern gibt es Anfänge einer Protestbewegung in Verteidigung ihrer Löhne. In der Armee rumoren Anzeichen eines Putsches. Die Tragödie der venezolanischen Revolution ist das Fehlen des subjektiven Faktors.
Indien und Pakistan
Narendra Modi kam 2014 auf der Grundlage einer weit verbreiteten Ernüchterung über die Kongresspartei, sowohl bei den ArbeiterInnen als auch bei Teilen der Bourgeoisie selbst, an die Macht. Aber es ist ihm nicht gelungen, die Kräfte, die ihn an die Macht gebracht haben, zufriedenzustellen. Seine Kampagne der Geldentwertung und die Waren- und Dienstleistungssteuerreform sollten die Geschäftsaktivitäten erleichtern, sie haben stattdessen zur Schwächung der Wirtschaft beigetragen, die von einer Wachstumsrate von 9% auf weniger als 7% zurückging.
Die kurze Periode des starken Wachstums zwischen 2014 und 2016 hat jetzt den Weg für eine markante Verlangsamung bereitet. Selbst in der Zeit des schnelleren Wachstums stieg die Arbeitslosigkeit an und Modi startete eine ganze Reihe von Angriffen auf die Arbeiterbewegung, in deren Folge es zu einem zunehmenden Klassenkampf kam. StudentInnen, Bauern und ArbeiterInnen sind alle auf die Straße gegangen. Im September streikten 180 Millionen ArbeiterInnen, das sind 50% mehr als bei einem ähnlichen Generalstreik im Jahr davor.
Auch in Kaschmir sind die Massen mit einer Bewegung, welche die Regierung schwer erschütterte, auf die Straße gegangen. Nur durch die Anwendung brutaler Repressionsmaßnahmen ist es ihr gelungen, die Bewegung vorübergehend in die Knie zu zwingen. Trotzdem hatte die Bewegung einen gewissen Einfluss auf den Rest des Landes, besonders auf die studentische Jugend.
Modi hat versucht, die Aufmerksamkeit von diesen Entwicklungen abzulenken, indem er den Hindu-Nationalismus geschürt hat, aber dies kann auch nur für eine begrenzte Zeit funktionieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird dieser von der stärker werdenden Arbeiterbewegung durchbrochen werden.
Die Ereignisse in Pakistan und Indien sind eng miteinander verbunden. Die indische und pakistanische herrschende Klasse haben ein gemeinsames Interesse daran, den Konflikt zwischen den beiden Staaten am Leben zu halten, um die Aufmerksamkeit der Massen umzuleiten. Aber die Lage für die herrschende Klasse in Pakistan wird zunehmend schwächer.
Nachdem die USA die Hilfe für das Regime zurückgefahren hat, springt China ein. Die Chinesen haben ein besonderes Interesse an Pakistan sowohl als Verbündeten und Puffer gegen Indien als auch als Knotenpunkt für Marine- und Schifffahrtsoperationen im Indischen Ozean. Jedoch schaffen die chinesischen Investitionen weder Arbeitsplätze noch lösen sie die Widersprüche in der Gesellschaft.
Die nationale Frage wird zunehmend schädlicher und in Regionen wie Belutschistan verschärft die chinesische Präsenz das Sektierertum, welches nur eine Hülle für einen blutigen Stellvertreterkrieg zwischen widerstreitenden auswärtigen Mächten (Amerika, China, Saudi-Arabien, Indien etc.) ist. Täglich wird die Politik der herrschenden Klasse in den Augen der Massen entlarvt, die nur noch Verachtung für die verkommene Elite, die das Land regiert und ausplündert, verspüren.
In der Vergangenheit spielten die Führer der PPP eine Rolle bei der Kanalisierung der Wut der Massen und stützten sich dabei auf die Tradition des Kampfes unter Ali Bhutto Ender der 1960er. Aber nach langer Zeit in der Regierung, in der sie Sparpolitik durchführte, ist die PPP in Korruption verstrickt und größtenteils diskreditiert. Das ermöglichte es Sharifs Muslimliga ein Comeback. Jetzt ist aber auch Sharif in den Augen der Massen als korrupter bürgerlicher Politiker, der ihnen nichts zu bieten hat, entlarvt worden.
Es besteht eine wachsende Ablehnung gegenüber allen Politikern, die als sich selbstbedienende Verbrecher betrachtet werden, die der Arbeiterklasse und den Armen feindlich gesonnen sind. In der Vergangenheit hätte die Armee spätestens jetzt die Macht ergriffen, aber die Armee selbst ist gespalten und demoralisiert. Die Generale zögern, die Verantwortung für das Chaos zu übernehmen. In diesem Zusammenhang sehen wir den Beginn neuer Kämpfe der ArbeiterInnen und der Jugend. Politische Instabilität in Pakistan und eine Gärung in den Massen traten in den letzten Monaten zutage, unter anderem durch die Schaffung der Pashtun Tahafuz Bewegung, einer Protestbewegung die entstand, um die Armut und Repression der paschtunischen Minderheit zu beleuchten. Über eine kurze Zeit gewann diese Bewegung viele Kräfte und, trotz der gewalttätigen Repression durch das pakistanische Regime, hatte sie das Potenzial die ethnischen Spaltungen mit ihrer Anprangerung der Korruption und der Barbarei der pakistanischen Politiker und des Militärs zu überwinden.
Afrika
In Südafrika haben viele Jahre des zunehmenden Klassenkampfs die Allianz der drei Parteien (ANC-CPSA-COSATU) zerschlagen. Die Streikbewegungen und die Bewegung der Jugend an den Universitäten hat zum Aufstieg der Economic Freedom Fighters und eines neuen Gewerkschaftsbundes unter Führung der NUMSA geführt. Obwohl die Bewegung vorläufig abebbt, haben all diese Umwälzungen ernsthafte Auswirkungen auf das Regime.
Die Wirtschaftskrise, die Wut der Massen und die offene Plünderung von Staatsreserven durch die neureiche schwarze Elite um die Familien Zuma und Gupta destabilisieren die Lage und untergraben die Autorität des ANC. Die Großbourgeoisie, die mit Mandela kollaborierte, um den Zustand nach den revolutionären Ereignissen der 1980er und 1990er zu stabilisieren, ist mit der neureichen Fraktion und der herrschenden Clique um Zuma in Konflikt geraten.
Andererseits kann es sich die herrschende Klasse nicht leisten, den ANC auszurangieren, weil sie über keine alternative Partei verfügt, um die Lage zu stabilisieren. Der Zuma-Flügel war sich dessen bewusst und hat rücksichtslos den Einsatz in einem gefährlichen Spiel erhöht. Die offene Spaltung zwischen den beiden Lagern und die mögliche Spaltung des ANC könnten für Afrikas fortschrittlichste Wirtschaft revolutionäre Konsequenzen haben.
In Nigeria wurde die Hauptstütze der bürgerlichen Herrschaft, die PDP, nach dem enormen Aufschwung des Klassenkampfes im Jänner 2012 in den Augen der Massen diskreditiert. Deshalb wurde auf die Schnelle eine neue Partei, die APC, zusammengeflickt – hierbei handelt es sich in Wirklichkeit um die Fusion kleinerer Parteien – und Buhari an die Spitze gestellt. Buhari hielten sie für einen guten Kandidaten, um Unterstützung unter der Masse der Bevölkerung zu bekommen und die wachsende Radikalisierung zu stoppen.
Dieses Manöver war möglich, weil der NLC, der größte Gewerkschaftsverband, seine gesamte Autorität eingesetzt hat, um die Bewegung von 2012 im Zaum zu halten anstatt sie aufzubauen, während er sich gleichzeitig weigerte, sich für eine unabhängige Partei der Arbeiterklasse einzusetzen. Dieses Vakuum, das die Gewerkschaftsführer zurückgelassen haben, konnte Buhari füllen. Trotzdem konnte keines der brennenden Probleme, vor denen die Massen in Nigeria stehen, gelöst werden. Das zeigte sich kürzlich bei den Unruhen für eine Republik Biafra im Südosten des Landes. Obwohl diese Bewegung vom Militär niedergeschlagen wurde, offenbart es die unterschwelligen Spannungen in der nigerianischen Gesellschaft. Und wenn die letzten Illusionen in Buhari sich schließlich auflösen, werden wir ein Wiederaufleben des Klassenkampfes auf einem höheren Niveau als 2012 erleben.
In West- und Zentralafrika hat es in der letzten Zeit zunehmend Massenbewegungen gegen die korrupte und ausbeuterische lokale Bourgeoisie in verschiedenen Ländern gegeben. Dabei handelte es sich um enorme Bewegungen, die sich über eine lange Zeit hinzogen und Millionen Menschen mobilisierten. Die Massen verfolgten den heldenhaften Aufstand in Burkina Faso genau, während die anfälligen Ökonomien dieser Länder besonders stark von der globalen Krise getroffen werden. Die Angriffe auf die demokratischen Rechte seitens der schwächelnden Regimes – wie vor Kurzem in Togo und der Demokratischen Republik Kongo geschehen – dienen als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Besonders die Masse der jungen Leute verbinden ihre Unterdrückung mit den jahrzehntealten Regierungen. Das weit verbreitete Elend in der Region sowie die betrügerische Rolle der bürgerlichen Oppositionsführer – deren einziges Interesse darin besteht die Köpfe des Regimes auszutauschen – bestätigen sowohl die Richtigkeit der Theorie der Permanenten Revolution und die Notwendigkeit zum Aufbau einer internationalen revolutionären Organisation. Aufgrund des Fehlens einer kämpferischen Führung ebbte die Bewegung nach einem enormen Aufschwung von Massenmobilisierungen ab. Den einzigen Schluss, den die Massen ziehen können, ist, dass sie der alten Führung nicht vertrauen können. Marxistische Theorie und eine revolutionäre Organisation sind erforderlich, um die Blockade zu durchbrechen.
Der Pessimismus der Bourgeoisie
Der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution gab den Strategen des Kapitals die Möglichkeit über die Geschichte nachzudenken – und sich Sorgen um die Zukunft zu machen. Am 15. August schrieb Martin Sandbu in der Financial Times:
„Zwei Jahrestage, die wir in diesem Jahr begehen – die Hundertjahrfeier der Russischen Revolution und das Jahrzehnt seit dem Beginn der globalen Finanzkrise – haben mehr gemeinsam als es auf dem ersten Blick scheint.“ „Die globale Finanzkrise […] erschütterte die Grundfesten des Modells, das aus dem Kalten Krieg siegreich hervorgegangen ist.“ „Der lähmende Kommunismus, der sich im sowjetischen Block bis in die 1980er herausgebildet hatte, brach unter dem Gewicht seiner eigenen ökonomischen und politischen Widersprüche zusammen. Die politischen Wirren des letzten Jahres zeigen, dass wir jetzt genau beobachten sollten, ob die freie Marktwirtschaft das gleiche Schicksal erleiden wird.“ (Unsere Hervorhebung)
Er fährt fort:
“Friedrich von Hayeks Erkenntnis, dass flexible Marktpreise mehr Informationen enthalten als jegliche Planungsmechanismen sie erhoffen könnten zentral zu sammeln; und dass dezentrale Entscheidungsfindung deshalb effizienter funktioniert als staatliche Behörden es können. […]“ „Aber dies erfuhr ein böses Erwachen während der globalen Finanzkrise, welche jede Behauptung des westlichen Finanzkapitalismus untergrub, dass es die beste Methode zur Organisierung der Wirtschaft sei.“
Und er kommt zu dem Schluss:
“Was in diesem Monat vor 10 Jahren geschah, war die erschreckende Erkenntnis, dass Geldforderungen, die über die vergangenen Jahre der Hochkonjunktur angehäuft worden waren, nicht mit der Realität zusammenpassen, dass die zukünftige ökonomische Produktion, für die sie beansprucht werden sollten, für sie alle nicht ausreichten, um vollständig erfüllt zu werden.“ „[…] der Marktliberalismus wiederum verriet die Träume, die er versprochen hatte. Die westlichen Ökonomien sind heute alle viel ärmer als es die Vorhersagen vor dem Zusammenbruch behaupteten. Die Krise und deren Nachwirkungen haben vor allem den jungen Leuten wenige Gründe zur Hoffnung gegeben, die gleichen Wohlstandschancen zu haben wie ihre Eltern und Großeltern. […]“ „[…] ein soziales System kann eine lange Zeit eine Phase der Ernüchterung überstehen.[…] Aber wenn die Menschen nicht länger auf ihre Existenzgrundlage zählen können, bricht die Unterstützung weg.“
Einige der seriöseren kapitalistischen Experten fangen an zu begreifen, dass ihre Rezepte der letzten 30 Jahre nicht länger funktionieren. In einem Artikel in der deutschen Zeitung Die Zeit mit dem Titel „Der Neoliberalismus ist tot“, werden wir informiert, dass selbst der IWF zugegeben hat, dass seine Politik nicht die gewünschte Wirkung hat. Aber sie ziehen daraus natürlich nie die notwendigen Schlüsse. [Quelle: Der Neoliberalismus ist tot, Die Zeit, Juni 2016]
Wolfgang Streeck vom Max Planck Institut listete sämtliche Probleme des Kapitalismus in einem langen Artikel auf, der im New Left Review mit dem Titel „How will capitalism end?” (Mai/Juni 2014) veröffentlicht wurde, und das er 2016 zu einem Buch erweiterte. Er sagt, dass es eine Legitimationskrise des kapitalistischen Systems gebe, weil es nicht mehr das gleiche biete wie in der Vergangenheit und die Menschen deshalb anfingen das System in Frage zu stellen. Das erkläre die Schwankungen bei Wahlen, die in vielen Ländern beobachtet werden können. Er stellt auch die Frage, ob ein „demokratisches System“ die Politik bietet, welche der Kapitalismus braucht. Was er damit meint, ist, ob man der Arbeiterklasse das aufzwingen kann, was die Bourgeoisie benötigt.
In seinem Artikel stellt Streeck fest, dass sich der Kapitalismus „in der absehbaren Zukunft in einem Schwebezustand befindet, tot oder kurz davor mit einer Überdosis von sich selbst, aber immer noch vorhanden, da niemand die Kraft hat, seinen verfallenen Körper aus dem Weg zu räumen.“ Das ist keine schlechte Beschreibung des Zustands des gegenwärtigen Kapitalismus.
Es ist bedeutsam, dass der Leiter des Ressorts Wirtschaft bei der Financial Times, Martin Wolf, sich genötigt fühlte, auf Streeck in einem Artikel zu antworten, mit dem interessanten Titel „The case against the collapse of capitalism“ (Plädoyer gegen den Zusammenbruch des Kapitalismus) [FT 2, November 2016]. Wie gut doch die Strategen des Kapitals die Krankheit ihres eigenen Systems verstehen!
Lenin erklärte, dass das kapitalistische System sich von den tiefsten Krisen erholen wird, wenn es nicht gestürzt wird. Selbst in den 1930ern gab es solche Erholungsphasen. Die bürgerlichen Medien sprechen in den letzten sieben Jahren immer wieder von einer wirtschaftlichen Erholung. In Wirklichkeit handelt es sich um die schwächste Erholung in der Geschichte und daraus folgen gewisse Dinge.
Das kapitalistische System hat natürlich immer noch wichtige Reserven und wenn die Kapitalisten und Banker sich bedroht fühlen, alles zu verlieren, werden sie zu keynesianischen Methoden greifen. Aber diese Reserven sind nicht unbegrenzt und sie sind in den letzten zehn Jahren in erschreckendem Maße aufgebraucht worden. Daraus folgt, dass sie sich bei der nächsten Krise, die unausweichlich kommen wird, in einer weitaus schwächeren Position befinden, um die Folgen abzuschwächen wie in der Vergangenheit.
Sie wiederholen immer wieder, dass sie die Lektion von 2008 gelernt haben. Sie haben aber auch gesagt, dass sie die Lektion von 1929 gelernt haben. Und wie Hegel aufzeigte, hat jeder, der die Geschichte studiert hat, feststellen müssen, dass niemand bisher daraus gelernt hat.
Letztendlich, spielt es keine Rolle, was die Bourgeoisie unternimmt, ob sie zu den Mitteln des Keynesianismus, des Monetarismus, des Protektionismus oder sonst etwas greift, es ist falsch. Im Mittelalter sagten die Priester: Alle Wege führen nach Rom. Heute können wir eine leicht veränderte Variante benutzen: Im Kapitalismus führen alle Wege in den Ruin.
Der Molekularprozess der Revolution
Vor nicht so langer Zeit schien es, als ob in der Welt nicht viel passieren würde. Eine Diskussion über die Weltperspektiven konzentrierte sich auf ein oder zwei Länder. Jetzt aber findet der gleiche revolutionäre Prozess mit größerer und geringerer Intensität in jedem einzelnen Land der Welt ohne Ausnahme statt. Deshalb diskutieren wir den allgemeinen Prozess der weltweiten Revolution.
Für MarxistInnen ist eine Diskussion der ökonomischen Perspektiven keine akademische oder abstrakte Übung. Wichtig sind die Auswirkungen für den Klassenkampf und das Bewusstsein. Da aber das Bewusstsein stets hinter den Ereignissen zurückbleibt, kam es zu einer unvermeidbaren Verzögerung zwischen dem Beginn der Krise und der Zunahme des Klassenkampfs.
Die Bourgeoisie, wie immer in rein empirischer Manier, war nicht in der Lage die explosive Ansammlung von Unzufriedenheit unter der Oberfläche zu erkennen, die leise an Kraft gewann. Sie gratulierte sich selbst, dass keine Revolution stattgefunden hatte. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatten, verlief das Leben für die Kapitalisten und Banker in alten Bahnen. Wie ein Betrunkener, der am Rande eines Abgrunds tanzt, machten sie mit dem fröhlichen Karneval des Geldverdienens weiter, das ein noch fieberhafteres Tempo erreichte, während sich die Verhältnisse für die Massen verschlechterten.
Trotzki erklärte, wie er es nannte, den molekularen Prozess der Revolution. In Die Geschichte der Russischen Revolution wies er darauf hin, dass das Bewusstsein der Massen nicht nur durch die ökonomische Krise bestimmt wird, sondern vielmehr durch die Ansammlung von Unzufriedenheit, die über den gesamten vorhergehenden Zeitraum aufgebaut wurde. Die Unzufriedenheit der Massen häuft sich unbemerkt an, bis sie schließlich diesen kritischen Punkt erreicht, an dem Quantität in Qualität umschlägt.
Jetzt ist plötzlich das Gefühl der Erleichterung in der herrschenden Klasse durch Pessimismus und dunkle Vorahnung ersetzt worden. Es gibt überall soziale und politische Erschütterungen, die von einer weltweiten extremen Instabilität und gewaltsamen Veränderungen in den internationalen Beziehungen begleitet werden.
Selbst wenn es zu einem Konjunkturaufschwung kommt, wird sich das nicht automatisch im Bewusstsein der Massen bemerkbarmachen, das durch die Erinnerung an Jahrzehnte der Stagnation und des gesunkenen Lebensstandards geformt wurde. Die sehr schwache wirtschaftliche Erholung in den USA bedeutet nur eine leichte Verbesserung, die auf bestimmte Sektoren begrenzt ist. Sie wirkt sich nicht auf die Arbeitslosen im Rust Belt aus. Und auch sonst überall fühlt es sich nicht wie eine echte Erholung an und hat keinerlei Vertrauen in das System oder Zukunftsoptimismus wiederhergestellt – ganz im Gegenteil.
Das Gleiche spiegelte sich beim britischen Referendum über die EU-Mitgliedschaft wieder. Es gibt viele Gründe, warum die Mehrheit für den Brexit stimmte. Ein sehr wichtiger Grund zeigte sich bei den regionalen Unterschieden zwischen dem Norden und dem Süden. Die Banker und Spekulanten in der Londoner City haben von der EU-Mitgliedschaft profitiert, die ihnen den privilegierten Zugang zu den lukrativen Finanzmärkten gewährte. Aber die Mitgliedschaft hat den armen Regionen z. B. im Nordosten oder in Wales, die an einer jahrzehntelangen Deindustrialisierung, der Schließung von Bergwerken, Stahlwerken und Schiffswerften gelitten haben, nichts gebracht.
Die zunehmende Ungleichheit
Überall besteht eine große Wut über die groteske Zunahme der Ungleichheit, mit einem obszönen Reichtum einer winzig kleinen parasitären Minderheit, die in einem scharfen Kontrast zur wachsenden Armut und Verzweiflung am unteren Ende der Gesellschaft steht. Die seriösen Vertreter der Bourgeoisie sind über diese Tendenz zunehmend beunruhigt, weil sie die Stabilität des gesamten Systems gefährdet. Überall gibt es einen starken Hass auf die Reichen. Viele Menschen fragen sich: Wenn die Wirtschaft so gut läuft, warum verbessert sich dann nicht auch unser Lebensstandard? Warum kürzen sie immer noch die Ausgaben für Soziales, für Wohnungen und Bildung? Warum zahlen die Reichen keine Steuern? Und auf diese Fragen finden sie keine Antworten.
Die Bourgeoisie wird über die Konsequenzen der Krise zunehmend beunruhigt. Die Menschen in der Arbeiterklasse sind weit davon entfernt, von der Erholung zu profitieren, den meisten von ihnen geht es schlechter als vor dem Crash. Das McKinsey Global Institute fand heraus, dass 65-70% der Einkommenskategorien in den hochentwickelten Volkswirtschaften zwischen 2005 und 2014 eine Stagnation oder einen Rückgang ihres Einkommens hinnehmen mussten. In Ländern wie Italien waren sogar alle Kategorien davon betroffen. (Poorer Than Their Parents, McKinsey Global Institute)
In den reichsten und mächtigsten kapitalistischen Ländern, die je existiert haben, hat es seit 40 Jahren keine wirkliche Steigerung des Lebensstandards gegeben. Bei den meisten AmerikanerInnen ist der Lebensstandard gesunken. Und das ist keine Ausnahme. In allen Ländern ist die jetzige junge Generation die erste seit 1945, die nicht erwarten kann einen höheren Lebensstandard zu haben als ihre Eltern.
Die Polarisierung beim Reichtum in den USA geht unvermindert weiter. Von 2000–2010 stiegen die Profite um 80% und die Löhne um 8%, während das durchschnittliche Familieneinkommen um 5% sank. Diese Zahlen zeigen, dass der enorme Profitzuwachs auf Kosten der Arbeiterklasse erreicht wurde. (The Economist, What about the workers? May 25th 2011, https://www.economist.com/blogs/buttonwood/2011/05/profit_margins_and_wages )
Die Zahlen über Brutto- und verfügbares Einkommen spielen die wahren Zahlen herunter. Sie berücksichtigen andere Faktoren nicht wie die Erhöhung der Arbeitszeiten und die zunehmende Prekarisierung – ob aufgrund von Null-Stunden- Verträgen oder befristeter Beschäftigung – und die Einschnitte bei den Sozialausgaben. Das alles trägt zum gesammelten Druck auf Familien der Arbeiterklasse bei.
Die Krise hatte die schmerzhaftesten und direkten Auswirkungen auf junge Menschen. Zum ersten Mal in vielen Jahrzehnten wird die neue Generation nicht den gleichen Lebensstandard haben wie ihre Eltern. Das hat ernsthafte politische Konsequenzen. In allen Ländern findet der unerträgliche Druck auf die Jugend seinen Ausdruck in einer zunehmenden politischen Radikalisierung. In allen Fragen steht die Jugend weiter links als die übrige Gesellschaft. Sie ist wesentlich offener für revolutionäre Ideen als die übrigen Schichten und sie ist deshalb unsere natürliche Zielgruppe.
Lektionen über den Zusammenbruch des Stalinismus
1991 änderte der Zusammenbruch der Sowjetunion den Lauf der Geschichte. Zur damaligen Zeit waren die Bourgeoisie und ihre Sprachrohre in der Arbeiterbewegung, die Reformisten, euphorisch. Sie sprachen vom Ende des Sozialismus, dem Ende des Kommunismus und sogar vom Ende der Geschichte.
Francis Fukuyama meinte mit seinem berüchtigten Satz nicht, dass die Geschichte geendet hätte, sondern dass der Zusammenbruch der Sowjetunion das Ende des Sozialismus bedeutete. Daraus folge logischerweise, dass das einzige System, das weiterbestehen könne, der Kapitalismus (die freie Marktwirtschaft) sein müsse und in diesem Sinne hätte die Geschichte geendet.
Erstaunlich am Sturz des Stalinismus war die Geschwindigkeit, mit der die augenscheinlich mächtigen und monolithischen Regimes, die von den Massenbewegungen in Osteuropa herausgefordert wurden, zusammenbrachen. Das war eine Widerspiegelung der inneren Morschheit und Zerfalls der Regimes. Aber der Zerfall des altersschwachen Kapitalismus wird Millionen Menschen immer deutlicher vor Augen geführt.
Als die Berliner Mauer fiel, sagte Ted Grant voraus, dass der Fall des Stalinismus rückblickend nur der erste Akt eines weltweiten Dramas gewesen sei, dem ein zweiter, noch dramatischer Akt folgen würde – die globale Krise des Kapitalismus. Jetzt erkennen wir die Richtigkeit dieser Aussage. Anstatt eines allgemeinen Wohlstands gibt es jetzt Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend. Anstatt eines Friedens gibt es jetzt einen Krieg nach dem anderen.
Die gleichen Prozesse, die einst den Niedergang des Stalinismus verursachten, können im Kapitalismus auftauchen. In einem Land nach dem anderen werden wir Zeuge plötzlicher Erschütterungen, welche die Belastbarkeit des Systems prüfen und seine Schwächen offenbaren.
Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie, denen vorher blind vertraut wurde, beginnen überall diskreditiert zu werden. Die Menschen vertrauen den Politikern, der Regierung, der Justiz, der Polizei, den Sicherheitsdiensten und selbst der Kirche nicht: Das gesamte System wird in Frage gestellt und kritisiert.
Ein Vertreter von WikiLeaks wurde im britischen Fernsehen gefragt: „Behaupten Sie wirklich, dass die Geheimdienste in den USA lügen?“ Er antwortete: „Warum nicht? Sie lügen immer!“ Immer mehr Menschen fangen an, das zu glauben.
Die Massenorganisationen: Die Krise des Reformismus
Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise des Reformismus. Überall befinden sich die traditionellen Parteien, egal ob rechts oder links, in der Krise. Organisationen, die eine solide und unverrückbare Basis zu haben schienen, geraten vermehrt in die Krise, erleben einen Niedergang oder zerfallen komplett. Die reformistischen Parteien, die in Regierungen vertreten waren, die tiefe Einschnitte ausgeführt haben, werden von ihren traditionellen WählerInnen abgelehnt.
In unterschiedlichem Ausmaß und Tempo können die gleichen Prozesse praktisch überall in Europa beobachtet werden. Wie in Frankreich, so auch in den Niederlanden, wo die rechte Partei von Geert Wilders bei den Wahlen eine Niederlage erlitt. Die Vertreter der Bourgeoisie atmeten erleichtert auf. Aber viel bedeutender als die Niederlage von Wilders war das vernichtende Fiasko der sozialdemokratischen PvdA, die praktisch ausradiert wurde und 75% ihrer WählerInnen verlor.
Der Aufstieg der Arbeiterpartei in Belgien (PTB) ist ebenfalls eine bedeutende Entwicklung. Die ehemalige maoistische Sekte hat sich zu einer linksreformistischen Partei entwickelt, obwohl sie sich selbst als marxistisch und kommunistisch bezeichnet. In der französischsprachigen Region Wallonien liegt sie nur knapp hinter den Sozialisten. Das trifft auch auf Brüssel zu. In den roten Gegenden kann sie um die 25% der Stimmen erreichen. Aber auch in Flandern beginnt sie zuzulegen.
Die Massen suchen und verlangen nach Veränderung. Sie müssen einen organisierten politischen Ausdruck für ihre Wut finden. In den letzten Jahren haben die griechischen Massen alles in ihrer Macht stehende getan, um die Gesellschaft zu verändern. Es gab viele Massenstreiks, Generalstreiks und Massendemonstrationen. Aber jetzt kommen wir zur entscheidenden Frage: dem subjektiven Faktor.
Bei ihrem Versuch, einen Ausweg aus der Krise zu finden, wenden sich die Massen zuerst an eine politische Option, die sie auf die Probe stellen, dann verwerfen und nach einer anderen suchen. Das erklärt die heftigen Richtungsänderungen in der öffentlichen Meinung nach links und rechts. Aber sie finden nicht das, wonach sie suchen. Die Menschen, die früher eine Führungsrolle übernahmen – die Sozialdemokraten, die sogenannten Ex-Kommunisten und vor allem die Gewerkschaftsführer – wollen nicht gegen die Sparpolitik und für eine ernstzunehmende Veränderung kämpfen.
Trotzki erklärte, dass der Verrat dem Reformismus innewohnt. Damit meinte er nicht, dass alle Reformisten die Arbeiterklasse absichtlich verraten. Es gibt sowohl ehrliche Reformisten als auch korrupte Karrieristen und Bürokraten, die Agenten der Bourgeoisie in den Arbeiterorganisationen sind. Aber auch ehrliche linke Reformisten haben keine Perspektive für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft. Sie glauben, dass es möglich ist, Reformen, welche die ArbeiterInnen verlangen, innerhalb der Grenzen des Kapitalismus durchzuführen. Sie betrachten sich selbst als überlegene Realisten, aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Krise erweist sich dieser „Realismus“ als die schlimmste Art des Utopismus.
Die Pasok, die über Jahrzehnte die Massenpartei der griechischen ArbeiterInnen war, zerfiel wegen ihres Verrats und der Beteiligung an Regierungen, die Kürzungen vornahmen. Die ArbeiterInnen wandten sich Syriza zu, einer Partei, die vorher sehr klein und unbedeutend gewesen war. Alexis Tsipras wurde zum beliebtesten politischen Führer in Griechenland. Er hielt ein Referendum ab, in dem gefragt wurde: „Sollen wir die Kürzungen von Frau Merkel akzeptieren?“ Darauf gab es eine gewaltige Reaktion.
Die Menschen in Griechenland stimmten mit überwältigender Mehrheit für die Ablehnung der Sparmaßnahmen, nicht nur die ArbeiterInnen, sondern auch die Mittelschichte, die Taxifahrer und die kleinen Geschäftsleute. Zu diesem Zeitpunkt hätte Tsipras sagen können: „Wir werden diesen Verbrechern keinen Euro zahlen! Es ist genug! Wir nehmen die Macht in unsere eigenen Hände und rufen die ArbeiterInnen in Spanien, Italien, Deutschland und Britannien auf, unserem Beispiel zu folgen. Wir müssen gegen die Diktatur der Banker und Kapitalisten und für ein demokratisches sozialistisches Europa kämpfen.“
Hätte er das getan, hätte er eine überwältigende Unterstützung erhalten. Die Menschen hätten auf der Straße getanzt. Und die Menschen in Griechenland wären bereit gewesen, Opfer zu bringen, wenn nötig auch große Opfer, und sie hätten ihre Führung unter einer Bedingung unterstützt: dass sie überzeugt gewesen wären, dass sie für eine gerechte Sache kämpften und alle die gleichen Opfer bringen würden. Tsipras hätte den Finger heben können und das hätte das Ende des Kapitalismus in Griechenland bedeutet. Er hätte die Banker, Reeder und Industriellen enteignen können.
Aber Tsipras ist kein Marxist. Er ist ein Reformist und deshalb ist es ihm nicht in den Kopf gekommen, sich auf die Macht der Massen zu stützen. Er kapitulierte vor der Erpressung aus Berlin und Brüssel und unterschrieb einen weitaus schlimmeren Vertrag als den ursprünglich vorgeschlagenen, was zu einer riesigen Demoralisierung und einem großen Rückgang bei der Unterstützung von Syriza führte, aber er ist immer noch im Amt, weil es keine Alternative gibt.
Der Prozess hatte auch Auswirkungen auf Spanien, das eine tiefgreifende politische Krise durchläuft. Wie der Aufstieg von Syriza in Griechenland war der schnelle Aufstieg von Podemos eine deutliche Reflektion der massiven Unzufriedenheit mit den alten Parteien und der brennende Wunsch nach Veränderung. Aber die konfuse und schwankende Politik der Führung verursachte unter den Anhängern Enttäuschung, selbst bevor die Partei an die Macht gekommen ist. Pablo Iglesias Flirt mit der Sozialdemokratie führte zu einem Rückgang bei den Wählerstimmen und einer Spaltung in der Führung.
Seit einiger Zeit schauen die Führer von Podemos nach rechts in Richtung PSOE, in der Hoffnung irgendeine Übereinkunft zu schließen, um die verhasste Regierung Rajoy zu ersetzen (was schließlich mit dem Zusammenbruch der PP Regierung im Juni geschah). Das hat zu einer Mäßigung in ihrer Sprache geführt und sie stehen unter dem enormen Druck, respektabler und „staatsmännischer“ zu erscheinen. Das wird die AnhängerInnen weiter verwirren und desorientieren.
Der neue Führer der Sozialisten Pedro Sanchez ist das blasseste aller blassen Abbilder von Jeremy Corbyn und Mélenchon. Aber weil er es wagte die Frage nach einer Koalition mit PODEMOS und den katalanischen Nationalisten zu stellen, versuchte die herrschende Klasse Spaniens ihn aus seiner Funktion zu entfernen. Das wurde von der Basis bei parteiinternen Wahlen abgelehnt und Pedro Sanchez wurde erneut zum Generalsekretär der PSOE gewählt.
Die o. g. Fälle sind verschiedene Varianten desselben Prozesses. Überall befinden sich die reformistischen und ex-stalinistischen Parteien in der Krise. Nach Jahren des Verrats, Klassenkollaboration und nie endendwollendem Driften nach rechts sind viele der alten Massenorganisationen gründlich diskreditiert. Es ist daher nicht sicher, dass der aufsteigende Klassenkampf sich in diesen ausdrücken wird. Einige haben sich gespalten, während andere ganz verschwunden sind (Italien ist dafür ein extremes Beispiel, wo sowohl die die sozialistischen als auch die kommunistischen Parteien verschwunden sind). Wir haben auch das Aufkommen neuer politischer Formation, wie Syriza, France Insoumise und Podemos gesehen und, abhängig von den Traditionen und konkreten Bedingungen in jedem Land, könnten wir ähnliche Phänomene in anderen Ländern sehen und werden uns entsprechend orientieren müssen.
Wie der Schaum auf den Wellen des Meeres sind diese neuen Formationen eine Widerspiegelung der tiefen und mächtigen Strömungen unter der Oberfläche. Diesen neuen Formationen fehlt aber eine stabile Basis in der Arbeiterklasse und den Gewerkschaften. Als Folge davon, und wegen ihrer kleinbürgerlichen Zusammensetzung, sind sie von Natur aus instabil und können genauso schnell auseinanderbrechen wie sie aufgestiegen sind.
Das Beispiel Corbyn in Britannien ist bisher eine Ausnahme der Regel. Wie wir erklärt haben, war diese Entwicklung Produkt eines Zufalls, aber wie Hegel erklärte, ist es ein Zufall der eine Notwendigkeit ausdrückte. Die starke Seite der Corbyn-Bewegung ist, dass sie den notwendigen Kristallisationspunkt für die aufgestaute Wut der Massen, besonders der Jugend, liefert. Ihre schwache Seite wird sich zeigen, wenn die begrenzte Reichweite des linksreformistischen Programms in einer linken Labour-Regierung auf die Probe gestellt wird.
Das bedeutet, dass unsere Taktik immer flexibel sein muss, sich auf die konkreten Bedingungen, den Bewusstseinsgrad der Arbeiterklasse und vor allem ihrer aktivsten und fortschrittlichsten Schichten einstellt. In all diesen Fällen muss unser Herangehen gleich sein: kritische Unterstützung.
Wir werden die linken Reformisten in ihrem Kampf gegen den rechten Flügel unterstützen und sie antreiben, weiter zu gehen. Aber gleichzeitig müssen wir den fortschrittlichsten ArbeiterInnen und der Jugend geduldig die Grenzen eines Programms erklären, dass nicht das Ziel hat, den Kapitalismus zu stürzen, sondern versucht, diesen von innen zu reformieren – eine utopische Politik, die trotz der guten Absichten ihrer Verfechter, unter den Bedingungen der kapitalistischen Krise nur zu einer Niederlage führen kann und den Weg für einen Rechtsruck bereitet.
Radikalisierung der Jugend
Die politische und soziale Instabilität weht wie ein heißer Wind von einem europäischen Land in das nächste. Das veränderte Bewusstsein widerspiegelte sich in einer Meinungsumfrage für die Jugend, die in Quartz vom 28. April 2017 veröffentlicht wurde. Diese war Teil einer von der EU geförderten Erhebung mit dem Titel „Generation what?“. Ca. 580.000 UmfrageteilnehmerInnen wurde die Frage gestellt: „Würdest du in den nächsten Tagen oder Monaten aktiv an einem breitangelegten Aufstand gegen die Generation, die sich momentan an der Macht befindet, teilnehmen?“ Mehr als die Hälfte der 18 – 34jährigen bejahte diese Frage. Der Artikel kommt zu dem Schluss: „Junge EuropäerInnen haben vom Status quo in Europa die Nase voll. Und sie sind bereit auf die Straße zu gehen, um etwas zu verändern.“
Der Bericht konzentrierte sich dann auf UmfrageteilnehmerInnen aus 13 Ländern, um besser zu verstehen, worüber die jungen Leute optimistisch oder frustriert in Europa sind. Unter diesen Ländern waren junge Menschen aus Griechenland „besonders daran interessiert, an einem breitangelegten Aufstand gegen die Regierung teilzunehmen, 67% bejahten diese Frage“. Die Befragten in Griechenland glaubten auch eher, dass Politiker korrupt sind und sie hatten ein negatives Bild über den Finanzsektor ihres Landes.
Danach folgten junge Leute in Italien und Spanien, von denen 65% bzw. 63% bereit waren am o.g. Aufstand teilzunehmen. In Frankreich, ein Land, das die Revolution in seiner DNA hat, antworteten 61% mit ja. Aber sogar in den Niederlanden, ein Land, das nicht so schwer von der Krise getroffen wurde, stimmte ein Drittel der Befragten zu, in Deutschland 37% und in Österreich fast 40%.
Während des Wahlkampfes veranstalteten französische Teenager Kundgebungen in Rennes und anderen Städten, um gegen die beiden Präsidentschaftskandidaten zu protestieren. Einige Protestierende blockierten Schulen, während andere mit Plakaten in die Stadt marschierten, auf denen stand: „Schmeißt Marine Le Pen raus, nicht die Migranten“ und „wir wollen weder Macron noch Le Pen“. In dem o.g. Bericht heißt es, dass Befragte aus Frankreich sich über eine Anzahl negativer Entwicklungen beschwerten: zu viel Korruption, zu viele Steuern, zu viele reiche Leute, im Verhältnis zur übrigen EU.
Diese Zahlen weisen darauf hin, dass eine grundlegende Veränderung stattfindet. Der Bericht kommt zu dem Schluss: „Die geringe Wahlbeteiligung ist lange als besorgniserregender Trend beschrieben worden. Im Vereinigten Königreich z.B. fiel die Wahlbeteiligung bei jungen Leuten um 28%, von 66% 1992 auf 38% 2005. Aber dieser Rückgang ist nicht notwendigerweise ein Beweis für politische Apathie.“
Das Problem der Führung
Einige oberflächliche Menschen haben gefragt: “Wenn die Dinge so schlecht sind, warum hat es dann keine Revolution gegeben?“ Die herrschende Klasse hat sich selbst gratuliert, dass das nicht geschehen ist, denn sie hat das Schlimmste befürchtet. Und da das Schlimmste nicht eingetreten ist, atmete sie tief durch und kehrte zum lustigen Karneval des Geldverdienens zurück, während alle anderen erleben mussten, dass ihr Lebensstandard und ihre Zukunftsaussichten geschmälert wurden. In anderen Worten, die Vertreter der herrschenden Klasse benehmen sich wie ein Mann, der den Ast abschneidet, auf dem er gerade sitzt.
In Wirklichkeit ist der Verzug des Prozesses der Revolution keine Überraschung. Über Jahrzehnte haben die Banker und Kapitalisten mächtige Abwehrmaßnahmen für ihr System gebaut. Sie kontrollieren Presse, Radio und Fernsehen. Ihnen stehen nahezu grenzenlose finanzielle Ressourcen zur Verfügung, mit denen sie sich die Dienste der politischen Parteien – nicht nur der rechten, sondern auch der „linken“ und auch vieler „verantwortungsbewusster“ Gewerkschaftsführer – kaufen. Sie können sich auf die Unterstützung der Universitätsprofessoren, Juristen, Ökonomen, Bischöfe und den privilegierten Oberschichten der Intelligenz verlassen. Und wenn das nicht funktioniert, können sie immer noch auf die Polizei, die Richter und Staatsanwälte und das Gefängnissystem zurückgreifen.
Aber es gibt noch eine mächtigere Barriere für die Revolution. Das menschliche Bewusstsein ist, anders als die Idealisten denken, nicht fortschrittlich und gewiss nicht revolutionär. Es ist von Natur aus hochgradig konservativ. Die meisten Menschen fürchten sich vor Veränderungen. Unter normalen Bedingungen klammern sie sich an das Vertraute: vertraute Ideen, Parteien, Führer, Religionen. Das ist vollkommen natürlich und widerspiegelt einen Selbsterhaltungstrieb. Dieser geht zurück in die Zeit, als wir in Höhlen lebten und die dunklen Nischen fürchteten, in denen wilde Tiere sich versteckt hielten.
Der normale Tagesablauf, Gewohnheiten, Traditionen und sich auf alten Pfaden bewegen, haben etwas Beruhigendes. In der Regel akzeptieren die Menschen den Gedanken an Veränderung auf der Grundlage großer Ereignisse, welche die Grundfesten der Gesellschaft erschüttern und das Bewusstsein so verändern, dass die Menschen gezwungen werden, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. Das geschieht nicht allmählich, sondern auf explosive Weise. Wir können momentan beobachten, wie das überall passiert. Das Bewusstsein holt mit einem Schlag auf.
Die wichtigste Frage ist die Frage der Führung. 1914 beschrieben deutsche Offiziere die britische Armee in Frankreich mit folgendem Satz: „Löwen, die von Eseln geführt werden.“ Das ist eine gute Beschreibung für die Arbeiterklasse in allen Ländern. Die reformistischen Führer spielen eine sehr schädliche Rolle und klammern sich an den „freien Markt“, selbst wenn dieser um sie herum zusammenbricht.
Die rechten reformistischen Führer sind vollkommen korrupt. Sie haben vor Jahrzehnten jeglichen Anspruch für den Sozialismus zu sein, aufgegeben und sind zu den treuesten Dienern der Banker und Kapitalisten geworden. Sie übernehmen bereitwillig die Verantwortung für Kürzungen im Sozialbereich und Angriffen auf den Lebensstandard, um den Kapitalismus zu verteidigen. Aber damit diskreditieren sich selbst in den Augen der Massen, die sie früher unterstützt haben.
Darin bestand eine klare Logik. In einer Zeit des kapitalistischen Aufschwungs war es möglich, der Arbeiterklasse gegenüber Zugeständnisse zu machen, besonders in den fortgeschrittenen Ländern Nordamerikas, Europas und Japan. Aber in einer Zeit der tiefen Krise sagen die Vertreter der Bourgeoisie, dass sie sich nicht länger Reformen leisten können. Im Gegenteil, sie verlangen die Rücknahme der Reformen, die seit 1945 erkämpft wurden. Für die Massen macht der Reformismus mit Reformen Sinn. Aber ein Reformismus ohne Reformen oder vielmehr ein Reformismus mit Konterreformen, macht überhaupt keinen Sinn.
Der lange Zeitraum des kapitalistischen Aufschwungs, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte, besiegelte die Degeneration der Sozialdemokratie endgültig. Diese Degeneration ist tief in die Mitgliedschaft eingedrungen. Die meisten älteren AktivistInnen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sind von der vorhergehenden Periode demoralisiert. Sie sind desillusioniert, desorientiert und zutiefst skeptisch. Sie sind ohne Bezug zur wirklichen Stimmung und widerspiegeln nicht die Klasse.
Diese Schicht von Aktivisten hat nie wirklich etwas verstanden. Sie vertreten weder die Gegenwart noch die Zukunft, sondern sind einfach nur ein Ausdruck der Demoralisierung aus vergangenen Niederlagen. Die Lage bei den Ex- Stalinisten, die jegliche sozialistische Perspektive oder jeglichen revolutionären Klasseninstinkt, den sie einst besaßen, vollständig aufgegeben haben, ist noch schlimmer. Einige von ihnen könnten wieder aktiv werden, wenn der Klassenkampf zunimmt. Aber meistens sind Linksreformisten und Ex-Stalinisten von einem skeptischen Geist durchdrungen, sodass sie zu einem Hindernis auf dem Pfad der ArbeiterInnen und der Jugend, die den Weg zur sozialistischen Revolution suchen, geworden sind.
Unsere Position als revolutionäre Organisation darf keineswegs von den Vorurteilen dieser Schicht bestimmt oder beeinflusst werden. Unsere Taktik basiert auf der realen Lage: die organische Krise des Kapitalismus, die wiederum eine neue Generation von KlassenkämpferInnen hervorbringt, die wesentlich revolutionärer sein wird, als es die alte Generation je war. Wir müssen uns auf die Jugend stützen, sowohl die SchülerInnen und StudentInnen und vor allem auf die Jugend in der Arbeiterklasse, die brutal ausgebeutet werden und für revolutionäre Ideen offen sind.
Wir befinden uns in einem Zeitalter der plötzlichen Schocks und Veränderungen, die alle Länder ohne Ausnahme treffen. Die politische Mitte bricht überall zusammen, das ist eine Widerspiegelung der zunehmenden Klassenpolarisierung. Wo es früher politische Stabilität gab, ist jetzt wachsende Instabilität. Wahlen führen von einem Schock zum nächsten, es kommt zu scharfen Schwüngen nach rechts und links. Dinge, von denen man annahm, dass sie nie passieren würden, passieren jetzt. Deshalb müssen wir auf große Veränderungen vorbereitet sein, die schneller eintreten können als wir denken. Wenn die Linke die Hoffnungen der Massen enttäuscht, kann es einen Rechtsruck geben, der wiederum noch größere Schwenks nach links vorbereitet.
Wir müssen dem Prozess folgen, wenn er sich entfaltet. Wir müssen uns mit revolutionärer Geduld bewaffnen, da es unmöglich ist, den Ereignissen, die ihrem eigenen Lauf und ihrer eigenen Geschwindigkeit folgen, unseren Zeitplan aufzuzwingen. Aber wir müssen auch auf scharfe und plötzliche Veränderungen vorbereitet sein, die in dieser ganzen Situation inbegriffen sind. Kolossale Ereignisse können schneller geschehen als wir denken. Es gibt keinen Raum für Selbstzufriedenheit. Wir müssen die Kräfte der IMT so schnell wie möglich aufbauen. Wir brauchen ein Gefühl von Dringlichkeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir müssen uns selbst in Aktionen und der Praxis bewähren, um wahre und würdige Erben der Traditionen von 1917, von Lenin und Trotzki und der Bolschewistischen Revolution zu sein.
Wir müssen absolutes Vertrauen in unsere Klasse, die Arbeiterklasse, haben, die Klasse, die all den Reichtum in der Gesellschaft schafft und die einzige revolutionäre Klasse ist, die das Schicksal der Menschheit in ihren Händen hält. Wir müssen totales Vertrauen in die Ideen des Marxismus haben, und schließlich auch in uns selbst: Vollstes Vertrauen, dass wir, bewaffnet mit den Ideen des Marxismus, die notwendigen Kräfte schaffen, die wir brauchen, um den Kampf zur Veränderung der Gesellschaft anzuführen, dem Regime der Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Sklaverei ein Ende zu bereiten und den Sieg des Sozialismus weltweit herbeizuführen.
Bardonecchia, 25. Juli 2018