Jährlich steigende Mieten bei stagnierenden Einkommen rücken die Frage nach leistbarem Wohnraum wieder in den Mittelpunkt der sozialen Frage. Sandro Tsipouras und Yola Kipcak gehen ihr auf den Grund.
Weltweit leben ungefähr 860 Millionen Menschen in Slums, also fast jeder achte Mensch auf der Erde. In Ländern wie der Zentralafrikanischen Republik, Tschad und Niger machen sie 80-95% der Stadtbevölkerung aus. Aber auch in den ‚wohlhabenden‘ industrialisierten Ländern beweist der Kapitalismus immer wieder seine Unfähigkeit, allen Menschen auch nur die Grundbedürfnisse des Leben zu sichern. So gibt es in den USA etwa 560.000 Obdachlose (ein Viertel davon Kinder), und allein im Jahr 2015 gab es dort über sechs Millionen Räumungsverfahren, von denen jedes zweite erfolgreich war, also zu einer Delogierung führte. Im selben Jahr wurden auch in Spanien 120.000 Delogierungen durchgeführt – jeden Tag wurden fast 100 Familien aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben.
In Österreich gibt es schätzungsweise 39.000 Obdachlose – eine grobe Schätzung, da Erhebungen nicht systematisch durchgeführt werden und genaue Daten fehlen überall. Während in Wien 35.000 Wohnungen leer stehen sollen, finden einer Schätzung zufolge im Schnitt jeden Tag sieben Zwangsräumungen statt. In Dornbirn stehen 800 Wohnungen leer, im ganzen Bundesland Vorarlberg sollen es 7.000 bis 10.000 sein.
Die Zwangsräumung und die darauf folgende Obdachlosigkeit sind in Österreich noch gesellschaftliche Randphänomene. Doch die Bedingungen, die sie erzeugen, kennt jede und jeder aus eigener Erfahrung: Mieten, die bis zu 30% des Nettoeinkommens verschlingen (im „Roten Wien“ waren es 4%), Maklergebühren und Kautionen, die den Eintritt in ein neues Mietverhältnis um mehrere Tausend Euro verteuern können. Auf dem Wohnungsmarkt herrscht erbitterte Konkurrenz: Für eine 50m² Wohnung um 800€ (die Stadt Wien geht davon aus, dass diese Größe für eine Person angemessen ist) erhält man auf ein Inserat binnen weniger Stunden mehrere hundert Anfragen. Die Mietpreise stiegen allein seit 2010 österreichweit um über 40%. Besonders erschreckend ist der Anstieg in Wien um 71,8% (10,9% allein im letzten Jahr), doch drastische Erhöhungen gab es fast überall: Salzburg (+58,2%) in Bregenz (+50,6%), Graz (+41,6%) und Linz (+36,1%).
Der Anstieg ist damit atemberaubend (EU-Schnitt +5,4%), doch damit landet Österreich bei den Immobilienpreisen allgemein noch im Mittelfeld. Die Bourgeois sind zufrieden. Thomas Gell aus dem Vorstand der ViennaEstate Immobilien AG meint händereibend: „Obwohl die Preise in Österreich in den letzten Jahren ständig gestiegen sind (…) gibt es im europäischen Vergleich noch Platz nach oben und wir haben noch lange nicht das Preisniveau anderer Hauptstädte erreicht.“ (Solidbau, 7.4.2017). International kann man der Immobilienpreis-Blase wieder förmlich beim Wachsen zusehen – Ausnahmen sind lediglich eine Hand voll krisengebeutelter Länder wie Italien, Spanien und Zypern.
Warum ist Wohnen so unglaublich teuer?
Laut Angaben aus dem Immobiliensektor betragen die Renditen für Wohnungen bei Altbauwohnhäusern in Wien aktuell zwischen 2,5 und 4,5 Prozent. Beim Neubau zwischen 3 und 4,75 Prozent. Im Gewerbebereich liegen die Renditen bei Büros bei 4 bis 6 und bei Fachmarktzentren bei 5 bis 6,5 Prozent. Obwohl die Eigentums- und Baupreise stärker steigen als die Mieten, die Renditen für Vermietungen also fallen, liegt der Zinsertrag bei Wohnungen deutlich über dem Ertrag vergleichbarer Anlageformen (etwa Staatsanleihen). Zudem steigen die Immobilienpreise in 80 Prozent der österreichischen Bezirke, in Wien über Jahre hinweg um jährlich 10 %, die Kapitalanleger können sich also um große Wertsteigerungen ihres Eigentums erfreuen. In Zeiten von Null-Zinspolitik und einer krisenhaften Konjunktur werfen Immobilieninvestments also glänzende Renditen und Wertsteigerungen ab. Kommen diese Mieten völlig zufällig zustande, können Hauseigentümer einfach so viel verlangen, wie sie möchten, um so viel Profit wie möglich zu machen?
Grund und Boden unterscheidet sich dadurch von einer gängigen Handelsware, dass er nicht von Menschen hergestellt wurde und folglich keinen objektiv messbaren Wert hat. Sein Preis ist von einer ganzen Reihe sekundärer Faktoren, insbesondere seiner Lage abhängig.
Die kapitalistische Wirtschaft hat Ballungszentren geschaffen, in denen Grund und Boden wesentlich begehrter sind, als an anderen Orten. In Städten gibt es Infrastruktur für Verkehr, Handel, Produktion und Bildung. In ländlichen Gebieten ist es aus diesem Grund schwerer, Profit zu machen, weswegen Grundstücke dort weniger begehrt sind. Dieser Prozess der Urbanisierung lockt wiederum Menschen in die Städte, die dort in Scharen nach einem Platz zum Wohnen und Arbeiten suchen. Das Auseinanderklaffen von Stadt und Land ist eine notwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise, die damit sowohl verödete ländliche Gebiete, wie auch überfüllte Betonwüsten erschafft. Von diesem Unterschied zwischen Stadt und Land schrieb schon Engels in seinem Artikel „Zur Wohnungsfrage“:
„Die Wohnungsfrage ist erst dann zu lösen, wenn die Gesellschaft weit genug umgewälzt ist, um die Aufhebung des von der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft auf die Spitze getriebenen Gegensatzes von Stadt und Land in Angriff zu nehmen. Die kapitalistische Gesellschaft, weit entfernt, diesen Gegensatz aufheben zu können, muß ihn im Gegenteil täglich mehr verschärfen. (…) Nur eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung über das ganze Land, nur eine innige Verbindung der industriellen mit der ackerbauenden Produktion, nebst der dadurch nötig werdenden Ausdehnung der Kommunikationsmittel – die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise dabei vorausgesetzt – ist imstande, die Landbevölkerung aus der Isolierung und Verdummung herauszureißen, in der sie seit Jahrtausenden fast unverändert vegetiert.“
Dabei muss natürlich beachtet werden, dass die Zustände, die Engels mit den drastischen Worten „Isolierung und Verdummung“ beschreibt, heute schon teilweise überwunden sind. Dennoch ist es so, dass in kleineren Städten und Dörfern die Möglichkeiten der Menschen zu Bildung und kultivierter Freizeitgestaltung beschränkt sind. Es gibt auf dem Land weniger Universitäten, weniger Forschungszentren, weniger Freibäder, Freizeitparks, Kinos, Diskotheken, Theater oder Opern als in den Städten. Die Errungenschaften der Kultur und Wissenschaft werden der Landbevölkerung tendenziell vorenthalten. Dieser Zustand wurde durch die Entstehung der Massenmedien und der modernen Fortbewegungsmittel im Kapitalismus teilweise aufgehoben, kann ohne revolutionäre Umgestaltungen aber nie ganz überwunden werden, weil er der Tendenz des Kapitals zu stetiger Konzentration entspricht. Die Bildung von Zentren und Peripherie reproduziert sich deshalb im Kapitalismus stets aufs Neue.
In der Stadt selber kommt es folglich zu einer erbitterten Konkurrenz um die Nutzung des Bodens. Dabei versuchen die EigentümerInnen den maximalen Profit aus ihm herauszupressen. Wenn es sich für sie rentiert, tausende Wohnungen leer stehen zu lassen und das Angebot zu verknappen, damit die Preise steigen, werden sie das zuungunsten der ArbeiterInnen tun. Wenn es sich lohnt, billige Miethäuser niederzureißen, aufzuwerten und schicke Läden an ihre Stelle zu bauen, tun sie dies ebenso. Dieser allgemein als Gentrifizierung bezeichnete Prozess, in dessen Verlauf die ArbeiterInnen an die Ränder der Städte gedrängt werden, war ebenfalls schon im 19. Jahrhundert gang und gäbe. So spricht Engels von der „Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer großen Städte, ob diese nun durch Rücksichten der öffentlichen Gesundheit und der Verschönerung oder durch Nachfrage nach großen zentral gelegenen Geschäftslokalen oder durch Verkehrsbedürfnisse, wie Eisenbahnanlagen, Straßen usw., veranlaßt worden. Das Resultat ist überall dasselbe, mag der Anlaß noch so verschieden sein: die skandalösesten Gassen und Gäßchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie von wegen dieses ungeheuren Erfolges, aber – sie erstehn anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.“ (Ebd.)
Kapitalanlage Wohnen
Weil ihr Preis sich so leicht und so häufig vervielfacht, bevor er wieder zusammenbricht, eignen sich Immobilien hervorragend als Investitionsobjekte. Immobilien werden erstens immer gebraucht und sind zweitens weit langsamer verderblich als etwa Nahrungsmittel – gerade dieser letztere Vorteil sorgt dafür, dass sie letzteren als Spekulationsobjekte vorgezogen werden.
Indem die Spekulation das Angebot zusätzlich verengt, treibt sie die Preise nach oben und motiviert so weitere Kapitaleigentümer, in das Spekulationsgeschäft einzusteigen, so dass der Preis immer schneller steigt. Diesen Vorgang nennt man auch die Bildung einer Blase. Solche Immobilienblasen lösen mit notorischer Regelmäßigkeit katastrophale Wirtschaftskrisen aus, wie etwa in Japan in den 1980er Jahren, in den USA 2007, in Spanien 2008 und so weiter. Auch jetzt erleben wir die Bildung einer gigantischen Immobilienblase in vielen Ländern der Erde.
Aber warum entscheiden sich die Bourgeois dann trotzdem immer wieder dafür, mit Immobilien zu spekulieren?
Damit im Kapitalismus Profit generiert werden kann, muss die Arbeiterklasse an Löhnen weniger erhalten, als sie an Ware produziert. Das muss früher oder später dazu führen, dass es zu viele Waren gibt, die am Markt nicht mehr abgesetzt werden können – eine Überproduktion (oder „Überkapazitäten“, wie es bürgerliche Wirtschaftswissenschafter vorzugsweise bezeichnen). Wenn Investoren merken, dass sich die Märkte so verengen, suchen sie nach neuen Anlagemöglichkeiten, wofür Immobilien, wie bereits erklärt, hervorragend geeignet sind. Gleichzeitig war es eine Strategie der meisten Regierungen der Welt, seit der ersten großen Überproduktionskrise nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1970er Jahren, die Kredite stark auszuweiten, damit der Konsum und die Investitionen angetrieben werden. Auch einfache ArbeiterInnen konnten nun viel leichter an Kredite kommen, was nichts anderes bedeutet, als dass sie der Bank ein Versprechen auf in Zukunft geleisteter Arbeit ablegen. Diese andere Seite der Immobilienblase besteht somit aus einer großen Zahl von „Häuselbauern“ und WohnungseigentümerInnen, die die Chance von niedrigen Zinsen am Schopfe packten, und sich für ihr Heim verschuldeten. Diese Investitionen bilden einen wesentlichen stabilisierenden Faktor für die Weltwirtschaft und ermöglichen es, den Ausbruch von Krisen hinauszuschieben. Welch zentrale Rolle diese Immobilienkredite für die allgemeine Stabilität des Finanzsystems spielen, ist daran ersichtlich, dass sie 64% des Gesamtvolumens der Privatkredite ausmachen.
Je mehr sich eine Blase aufbläht, desto leichter platzt sie dann auch. So reichte in den USA 2006 eine leichte Erhöhung des Leitzinses aus, um Millionen von Häuselbauern in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben, ihre Kredite ausfallen zu lassen und damit das weltweite Finanzsystem in den Abgrund zu reißen. Oft wird argumentiert, dass die Krise hätte vermieden werden können, wenn man die Spekulation eingedämmt hätte. Dabei wird aber übersehen, dass die exzessive Spekulation nur eine Reaktion auf den Hauptauslöser der Krise, die Überproduktion an Waren und Dienstleistungen, ist.
Wohnungsfrage – soziale Frage
Es hat sich gezeigt, dass das Privateigentum an Immobilien die Versorgung der Menschen mit Wohnraum grundsätzlich gefährdet und über vielerlei Wege destabilisiert. Diese Erkenntnis lässt keine andere Möglichkeit offen, als den einfachen Schluss zu ziehen: Nur wenn Wohnraum sich in öffentlicher Hand befindet und mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung verwaltet und erweitert wird, sind die Menschen vor den unausweichlichen Folgen geschützt, die seine kapitalistische Nutzung mit sich bringt: Steigende Mieten, künstliche Verengung des Marktes, Maklerprovisionen, Zwangsräumungen und so weiter, wie sie oben umrissen wurden.
Warum baut aber beispielsweise die Wiener SPÖ keine Gemeindewohnungen mehr? Weil die Tendenz der Wiener und österreichischen Politik, ja die Tendenz der Politik in Europa überhaupt und darüber hinaus fast auf der ganzen Welt eben darin besteht, stetig neue Investitionsfelder für das Privatkapital zu eröffnen. Da steht ein öffentliches Wohnbauprogramm, das den gegenteiligen Effekt hat, natürlich nicht ernsthaft zur Debatte. Nein, in Gesundheits-, Bildungs- und eben auch Wohnungsfragen hat heutzutage die gleiche „Flexibilität“ zu gelten, die uns auch am Arbeitsplatz schon abverlangt wird.
„Errichtet aus den Mitteln…“
Als marxistische Strömung stehen wir für eine gegenteilige Politik. Wer durch die Straßen Wiens spaziert, findet deutliche Hinweis darauf, wie sie zu bewerkstelligen wäre. Auf dem Gemeindebau in der Latschkagasse/Nußdorfer Straße oder am Anton-Schrammel-Hof in Simmering ist beispielsweise – wie eine Mahnung an die Nachwelt – zu lesen: „Errichtet aus den Mitteln der Wohnbausteuer.“ Die Wohnungsnot ist die Konsequenz politischer Entscheidungen, die auch anders getroffen werden könnten. Die Hinterlassenschaft des Roten Wien macht es unmöglich, diesen Umstand zu leugnen.
Der Marxismus steht allgemein dafür, dass die gewaltigen technischen Hilfsmittel der Gesellschaft auch der Gesellschaft zugute kommen sollen. Im Bereich des Wohnbaus bedeutet das eine Wohnbauoffensive, die so umfassend sein muss, dass sie dem Immobilienmarkt und seiner profitorientierten Unmenschlichkeit das Wasser abgräbt.
Um dafür zu sorgen, dass Wohnungen wirklich im Interesse und nach den Bedürfnissen der Menschen gebaut werden, die darin wohnen sollen, wird es notwendig sein, auch die Grundstoffindustrie sowie die Verteilung des Grund und Bodens unter demokratische Kontrolle zu nehmen und darüber hinaus die engen Grenzen der Städteplanung zu überwinden: Heute richten Städte und Kommunen in Konkurrenz zueinander Gewerbe-, Industrie- und Wohngebiete ein und bedrohen dabei einerseits die Arbeiterklasse ständig mit Gentrifizierung in den Städten, während andererseits die unkontrollierte Entvölkerung ländlicher Gegenden oftmals soziales Elend zurücklässt. Stattdessen muss es eine umfassende, zentrale Planung der Verteilung von Wohnraum, Arbeitsplätzen sowie Konsum- und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten über das ganze Land geben, sodass die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Stadtbezirke, in „strukturschwache“ und „entwickelte“ Regionen, in ärmere und reichere Bundesländer – wie Engels eben zusammenfassend sagte, der Gegensatz zwischen Stadt und Land – überwunden wird. Das führt in weiterer Folge auch zur Überwindung von Erscheinungen wie dem Pendelverkehr, der die Nerven der Menschen ebenso ruiniert wie die Luft und die restliche Natur, wird damit in weiterer Folge die ganze Automobilindustrie umkrempeln und so fort.
Hier wird deutlich, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, die wir anstreben, nicht wirklich in einzelne Bereiche wie Wohnen, Arbeitszeitverkürzung, Demokratisierung, Umweltpolitik und so weiter zerfällt, die getrennt voneinander zu bewerkstelligen wären, oder wo man gar einzelne Maßnahmen herauspicken und im Rahmen des Kapitalismus umsetzen könnte, in dem wir leben, sondern dass es wegen der engen Verbindungen zwischen diesen Bereichen um nichts weniger gehen kann als um eine vollständige Umwälzung der Gesellschaft. Wir fordern:
– Öffentlichen Wohnbau in einem Umfang, der den privaten Immobilienmarkt bedeutungslos macht
– Mietobergrenze bei 4% eines durchschnittlichen Facharbeiterlohns
– Maklerprovisionen müssen von den VermieterInnen übernommen werden
– Verpflichtende Sanierung von Substandardwohnungen auf Kosten der EigentümerInnen
– Die demokratische Gestaltung unseres Lebensraums unter Beteiligung aller Menschen
Diese Forderungen, die im Grunde nur das Grundrecht der Menschen auf eine Wohnung verwirklichen, werden nur gegen den erbitterten Widerstand der KapitalistInnen durchsetzbar sein.