Im fünften und letzten Teil des Dokuments beschäftigen wir uns mit den Lehren aus den Erfahrungen in Haiti, mit den Perspektiven der Kubanischen Revolution, und der lateinamerikanischen Integration sowie den indigenen Bewegungen in Lateinamerika. Zum Abschluss versucht das Papier die Eckpunkte einer revolutionären Perspektive zu zeichnen.
Die Lehren von Haiti
Der US-Imperialismus ist sich nicht darüber im Klaren, was er als Nächstes tun soll. Angesichts einer Welle des Widerstands muss Washington auf die Ereignisse reagieren, anstatt selbst die Initiative zu ergreifen. Die Politik des US-Imperialismus scheitert in einem Fall nach dem anderen. In der Vergangenheit hätte die Situation in Venezuela eine militärische Intervention bedeutet, aber diese direkte Vorgehensweise ist auf kurze Frist ausgeschlossen. Anstelle dessen versuchen sie, wie wir gerade gezeigt haben, andere Staaten der Region für ihre Zwecke gewinnen. Sie wollten die Demokratie-Charter der Organisation der Amerikanischen Staaten dafür verwenden, um sich in Venezuela einzumischen. Aber diese Versuche verliefen im Sand. Führungspersönlichkeiten wie Lula, welche Washington bis zu einem gewissen Grad als ihre Verbündeten betrachtet, getrauen sich nicht, die schmutzige Arbeit in Venezuela zu verrichten – aus Furcht vor den Rückwirkungen im eigenen Land.
Washington muss sich auf eine Politik des Manövrierens und der Intrigen beschränken. Es versucht, sich durch Korruption und Bestechung eine gewisse Basis zu verschaffen, in Kombination mit dem Ausüben von Druck und der Androhung von Maßnahmen. Die einzigen Länder, in denen der US-Imperialismus gewagt hat, offen einzugreifen, waren schwache Länder in der Karibik: Haiti und Grenada. Aber selbst dort waren die Ergebnisse alles andere als vielversprechend. Wer die wahren Absichten des Imperialismus sehen möchte, der/die braucht sich die Ereignisse auf der kleinen Insel Haiti zu studieren.
Im Februar 2004 kidnappten US-amerikanische Streitkräfte den Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide, nur um gleich darauf Besatzungstruppen unter der Mitwirkung des französischen und kanadischen Imperialismus in das Land zu schicken. Aristide war nie ein wirklicher Revolutionär; er ließ sich sogar vom US-Imperialismus einspannen, der ihn als ihre Marionette benutzen wollte. Allerdings stellte er sich als höchst unzuverlässiger Verbündeter heraus. Washington beschloss, ihn ganz ohne militärische Ehren fallen zu lassen, und stützte sich dabei auf die heruntergekommensten und skrupellosesten Gangster.
Die Vorgehensweise in Haiti ähnelt so vielen imperialistischen Aktionen auf dieser Hemisphäre. Vor dem Putsch lenkten die westlichen Mächte ihre Hilfsgelder auf jene NGOs um, die gegen Aristide auftraten. Gleichzeitig bewaffnete, trainierte und finanzierte die CIA rechte paramilitärische Gruppen. Kurz bevor die Paramilitärs die Hauptstadt einnehmen konnten, trafen die US-amerikanischen und kanadischen Truppen ein, füllten das „Machtvakuum, und bereiteten die Besetzung durch die UN vor.
Trotz der Anwesenheit von 9.000 UN SoldatInnen und PolizistInnen war der Imperialismus unfähig, die Situation auf Haiti unter Kontrolle zu bringen. 76 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag das Auslangen finden. Die Lebenserwartung beträgt nur 51 Jahre. Die Armen in den Slums unterstützen weiterhin Aristides Lavalas Partei – trotz häufiger Übergriffe durch die Regierung, die dabei von UNO-Truppen unterstützt wird. Es gibt schätzungsweise 700 politische Gefangene in den Gefängnissen des Landes, die Führung von Lavalas inbegriffen.
Die imperialistischen „DemokratInnen, knüpften ihre Hoffnungen an eine gefälschte Wahl, die mehrmals verschoben worden war. Aber als sie schließlich abgehalten wurde und die Wahlfälschung offensichtlich war, zwang eine Massendemonstration den Provisorischen Wahlrat Haitis René Préval als nächsten Präsidenten zu bestätigen. Die Demonstration lähmte ganz Port-au-Prince vier Tage lang und jagte den ImperialistInnen einen ordentlichen Schrecken ein. Nach zwei langen und dunklen Jahren hat die Bevölkerung Haitis den Putsch schließlich durch revolutionäre Massenaktionen zurückgeschlagen. Das war ein harter Schlag für den Imperialismus und die Kräfte der Reaktion auf der Insel.
In der Vergangenheit lief es immer nach demselben Schema ab: Wenn irgendwo in der westlichen Hemisphäre eine Problem auftauchen sollte, würde man schon die Marines hinschicken. Am folgenden Tag würden die Zeitungen titeln: „Die Marines sind gelandet – alles ist unter Kontrolle., Heute liegen die Dinge anders. Die größte Weltmacht schafft es nicht einmal, die Kontrolle über ein kleines und von Armut geschütteltes Land ohne Armee zu erlangen. Es ist dies eine deutliche Widerspiegelung der begrenzten Macht des US-Imperialismus unter den heutigen Bedingungen.
Kuba
In Kuba finden gerade wichtige Veränderungen statt. Die Auseinandersetzung mit der kubanischen Revolution macht ein gesondertes Dokument notwendig. Aber eines ist klar: Das Schicksal der Revolution ist untrennbar mit der Revolution im restlichen Lateinamerika verbunden. Die Entwicklung der venezolanischen Revolution hat Kuba bereits eine Atempause verschafft. In dem Maße, wie die Revolution in Venezuela und am restlichen Kontinent vorwärts schreitet, könnte dieser Einfluss noch größer werden. Dies alles vergrößert nur noch die Sorgen des Imperialismus.
Nach dem Fall der Sowjetunion war die kubanische Revolution isoliert – sie fand sich in einer feindlichen internationalen Umgebung wieder. Sie sah sich dem gnadenlosen Druck des US-Imperialismus ausgesetzt. Die harte Wirtschaftsblockade bürdete den Massen unerträgliche Lasten auf. Das Schicksal der Revolution stand auf dem Spiel. Der Zusammenbruch der UdSSR führte natürlich auch zu Unruhe in Kuba – bis in die obersten Kreise. Es ist offensichtlich, dass sich wie in Russland gewisse Elemente eine Rückkehr zum Kapitalismus wünschen. Einerseits stellt sich aber Fidel Castro einer kapitalistischen Restauration mit aller Kraft entgegen. Gleichzeitig gibt es weiterhin eine große Unterstützung für die Ideale der Revolution, für den Sozialismus und die Verteidigung der Planwirtschaft.. Bis jetzt sind alle Versuche des US-Imperialismus gescheitert, Kuba wieder zurück auf den kapitalistischen Weg zu bringen. Castro genießt weiterhin große Beliebtheit, und die pro-kapitalistischen Tendenzen werden unter Kontrolle gehalten.
Die venezolanische Revolution hat der kubanischen Revolution zweifellos neuen Auftrieb gegeben. Sie hat ihr nicht nur das vielfach gebrauchte Erdöl gebracht, sondern auch neue Hoffnung, dass die lange Isolation des kubanischen Volks endlich durchbrochen werde. Das Schicksal der kubanischen und der venezolanischen Revolution sind untrennbar miteinander verbunden. Sie werden gemeinsam siegen oder gemeinsam untergehen. Ein Schritt Richtung Planwirtschaft in Venezuela würde nicht nur die pro-kapitalistischen Kräfte innerhalb der staatlichen Bürokratie schwächen und jene Tendenzen stärken, die sich für die Fortführung der Planwirtschaft aussprechen. Ein solcher Schritt würde auch die Massen und jene Teile des Staatsapparats stärken, die ihnen am nächsten stehen und linkere Positionen vertreten.
Vor kurzem hielt Fidel Castro eine Rede, in der er davor warnte, zu glauben, die kubanische Revolution sei unumkehrbar. Darüber hinaus betonte er, dass die Hauptgefahr im Inneren des Landes liege und nicht von außen drohe. Das war das erste Mal, dass dies so offen ausgesprochen wurde. Castro wies auf Beispiele korrupter Bürokratie hin, auf Betrügereien und Diebstahl. Explizit nannte er den Fall der Benzinverteilung. Er rief die Jugend auf, Brigaden zu bilden, um die Tankstellen zu überwachen.
Die kapitalistische Restauration in Kuba wäre eine große Katastrophe nicht nur für das kubanische Volk, sondern für ganz Lateinamerika. Für die KubanerInnen würde die Einführung eines wilden neoliberalen Kapitalismus und einer Marktwirtschaft einen herben Rückschlag bedeuten. Auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet würde es Rückschritte geben. In weiterer Folge hätte es eine bedrückende Wirkung auf die Arbeiterbewegung und die Jugend überall auf der Welt. Es würde eine unmittelbare Verschärfung des imperialistischen Drucks auf Venezuela und Bolivien bedeuten.
Die heuchlerischen westlichen KritikerInnen des Landes und die bürgerliche Opposition Kubas hören nicht auf, die Einführung von „Demokratie, zu fordern, wobei sie damit eine bürgerliche Demokratie meinen. Sie wollen ein System wie in den USA einführen, wo das Präsidentenamt dem Höchstbieter zugesprochen wird (momentan einem geistig zurückgebliebenen texanischen Ölmilliardär), wo sich der Kongress aus PolitikerInnen zusammensetzt, die die Interessen der großen Firmen vertreten, welche die Kongressabgeordneten wie billige Handelsware kaufen und verkaufen und wo sich die Zeitungen und Fernsehkanäle im Eigentum von einer Handvoll MilliardärInnen befinden und von ihnen kontrolliert werden. Natürlich ist die Einführung einer solchen „Demokratie, untrennbar mit der Abschaffung der staatlichen Planwirtschaft verbunden.
In den 1930ern sagte Trotzki, dass die stalinistische Bürokratie den Weg Richtung Restauration des Kapitalismus einschlagen würde. Sie würde sich nicht mehr mit ihrer privilegierten Position zufrieden geben, sondern die Auflösung der Planwirtschaft fordern, um sich selbst in private EigentümerInnen zu verwandeln. Das Erbrecht – das Recht, sein/ihr Eigentum an seine/ihre Kinder weiterzugeben – spielte dabei eine entscheidende Rolle. Jetzt, mit großer Verzögerung, ist dies tatsächlich eingetreten.
Allerdings ging Trotzki davon aus, dass eine kapitalistische Restauration nur durch einen Bürgerkrieg vollendet werden könnte. Er sagte, dass sich die Bürokratie entlang von Klassenlinien spalten würde, was zur Herausbildung einer linken Strömung (der „Reiss-Fraktion“) auf der einen Seite und dem Entstehen eines rechten pro-kapitalistischen Flügels (der „Butenko-Fraktion) auf der anderen Seite führen würde. Aber der Gang der Geschichte verlief anders. Der Stalinismus hielt sich viel länger als dies Trotzki für möglich gehalten hätte. Die alten revolutionären Traditionen waren völlig zerstört. Die Degeneration der Bürokratie erreichte ungeahnte Proportionen. Korruption und Bürokratismus verschlangen einen riesigen Teil des Reichtums, den die sowjetische Arbeiterklasse erzeugte, und untergruben so die Erfolge der Planwirtschaft. Als Folge davon stürzte das ganze Gebäude unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Ein einziger Anstoß genügte, um die bürokratischen Regimes in Osteuropa zu Fall zu bringen. Derselbe Prozess wiederholte sich wenige Jahre später in Russland.
Kuba weist wichtige Unterschiede zu Russland auf. In Russland war die Erinnerung an die Traditionen des Oktobers verblasst oder in Vergessenheit geraten. Das erleichterte die Aufgabe der Konterrevolution. Im Gegensatz dazu fand die kubanische Revolution in einer Zeit statt, an die sich viele Menschen noch erinnern, und viele der alten Garde sind bereit, gegen die kapitalistische Restauration zu kämpfen. Ein großer Teil der Massen ist ebenfalls bereit, die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen. Das bedeutet, dass ein „kalter, Übergang zum Kapitalismus weit weniger wahrscheinlich ist als im Falle von Russland und Osteuropa.
Fidel Castro und seine AnhängerInnen versuchen, sich dem Kapitalismus entgegenzustellen und die staatliche Planwirtschaft zu verteidigen. Das ist äußerst wichtig. Aber die Methoden, die sie anwenden wollen, werden das Problem nicht lösen. Nur eine leninistische Arbeiterdemokratie kann dies tun. Nur dann können die Angriffe auf die Neureichen, die korrupten Elemente, den Bürokratismus usw. erfolgreich sein. Es braucht ein Programm der Arbeiterdemokratie – ein Programm, wie jenes, das Lenin 1917 vorschlug und das die Grundlage für das Programm der Russischen Kommunistischen Partei von 1919 bildete (welches von Stalin nach Lenins Tod wieder abgeschafft wurde).
Was notwendig ist, ist nicht die heuchlerische Karikatur der bürgerlichen Demokratie, sondern das Bestärken von Kritik und Diskussion – offen für all jene Strömungen, die sich zur Planwirtschaft bekennen, die kubanische Revolution zu verteidigen bereits sind und gegen die kapitalistische Restauration kämpfen wollen. In dieser Debatte müssen die TrotzkistInnen als legitimer Teil der kommunistischen Familie teilnehmen können. Sie werden eine Einheitsfront all jenen kubanischen KommunistInnen anbieten, die gegen die kapitalistische Restauration kämpfen wollen. Sie werden durch die Tat beweisen, dass sie die besten und loyalsten VerteidigerInnen der kubanischen Revolution sind.
Vor allem aber braucht es die Ausdehnung der sozialistischen Revolution auf das restliche Lateinamerika, um die Isolation Kubas ein für alle Mal zu brechen. Dies war schließlich auch die Idee Che Guevaras – eine Idee, für die er sein Leben gab. Die Bedingungen sind nun unvergleichlich günstiger für den Sieg der sozialistischen Revolution in einem Land in Lateinamerika nach dem anderen. Es geht nicht darum, die Revolution zu „exportieren, (als ob man sie wie einen Sack Kaffee exportieren könne). Die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution reifen schnell, oder sind schon vorhanden in einer Reihe von lateinamerikanischen Ländern. Es braucht eine entschlossene und mutige Führung: Ein Führung im Geiste Bolívars und Guevaras und keine feigen ReformistInnen.
Die indigene Bewegung in Lateinamerika
Es gilt die indigenen Bewegung genau zu studieren. Es gibt sie in einer organisierten Form bereits seit vielen Jahren. Sie spielt eine zunehmend wichtige Rolle in einer ganzer Reihe von lateinamerikanischen Staaten. Die indigene Bewegung stellt eine Herausforderung für die MarxistInnen dar – als eine besondere Spielart der Nationalen Frage, die eng mit der Frage der Agrarrevolution verbunden ist. Die indigenen Völker werden seit über 500 Jahren, seit dem Eintreffen der europäischen KolonialistInnen, unterdrückt. Ein bedeutender Anteil der heutigen armen Bauernschaft ist indigener Abstammung. Allerdings gibt es auch unter den indigenen Völkern, so wie bei jeder nationalen Bewegung, Klassenunterschiede innerhalb der Gemeinschaft; Indígenas gibt es genauso unter der städtischen Armut wie unter den reichen Bauern und Bäuerinnen und selbst und den Bürgerlichen.
Wir stehen für die Verteidigung der sozialen und politischen Rechte aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft, und im besonderen für jene der indigenen Bevölkerung. Wir unterstützen ebenso aus ganzer Kraft die Agrarrevolution der armen Bauernschaft. Die Enteignung des Großgrundbesitzes, der Zugang zu Grund und Boden und seine gemeinwirtschaftliche Nutzung durch die indigenen Gemeinschaften – dies alles ist Teil eines revolutionären sozialistischen Programms. In der Praxis zeigt sich, dass die LandbesitzerInnen und KapitalistInnen in den Städten ein und die selbe Klasse sind. Die armen indigenen Bauern und Bäuerinnen am Land und die Arbeiterklasse in den Städten stehen demselben Feind gegenüber. Deshalb wäre es reaktionär, die Interessen der ArbeiterInnen jenen der Indígenas gegenüberzustellen. Nur ein vereinter revolutionärer Kampf der ArbeiterInnen, der armen Bauernschaft und aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft kann die Herrschaft der GroßgrundbesitzerInnen und der KapitalistInnen stürzen.
Nur durch eine Sozialistische Föderation von Lateinamerika können die indigenen Völker, mit ihrer reichhaltigen und weit zurückreichenden Kultur, das Jahrhunderte alte Joch der Unterdrückung, der Diskriminierung und des Völkermords abschütteln und ihr gesamtes kulturelles Potential voll entwickeln.
Mercosur, die Freihandelsabkommen und ALBA
Das Scheitern der US-amerikanischen Position am Gipfel von Mar del Plata, wo die USA ihren Vorschlag des gesamtamerikanischen Freihandelsabkommens FTAA nicht durchsetzen konnten, zusammen mit der Ankündigung Venezuelas dem Mercosur beizutreten scheinen der Ideen neuen Auftrieb gegeben zu haben, dass eine lateinamerikanische Einigung auch unter den Bedingungen der großen imperialistischen Handelsblöcken der USA und der EU möglich ist.
Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) ist ein Wirtschaftsblock, der als Zollunion konzipiert ist – basierend auf gemeinsamen Außenzöllen auf Güter, die aus Drittstaaten importiert werden. Allerdings geriet das Handelsabkommen in ein Krise als Ende der 1990er Jahre eine Wirtschaftskrise die gesamte Region erfasste. Trotz der gegenwärtigen wirtschaftlichen Erholung bleiben die Beziehung zwischen den Handelspartnern weiter gespannt.
Das zugrundliegende Problem ist der Handelskonflikt zwischen Brasilien und Argentinien. Buenos Aires traf eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen wie etwa Zölle, um die brasilianischen Importe einzubremsen. Hinzu kommen Drohungen von Uruguay und Paraguay aus dem Vertrag auszusteigen und das FTAA zu unterzeichnen – was die geringen Vorteile widerspiegelt, die sich die schwachen nationalen Bourgeoisien dieser beiden Länder von Mercosur in Zukunft versprechen. Allerdings spielten auch die USA eine nicht unwesentliche Rolle, wenn es darum ging, einen Keil in den Mercosur zu treiben, es dadurch zu zerstören und damit Brasilien an der Vormachtstellung in der Region zu hindern.
Wenn Mercosur überleben sollte, dann aus zwei Gründen. Erstens profitieren davon die multinationalen Konzerne, die auf beiden Seiten der argentinisch-brasilianischen Grenzen operieren, weil sie geringere Zölle zahlen müssen, wenn sie Vorprodukte zwischen den beiden Ländern transferieren. Und zweitens hat Brasilien ein politisches Interesse daran, Mercosur als einen wirtschaftlich-politischen Block zu benutzen, um seine regionale Rolle und Prestige zu stärken – was sich auch in seiner Forderung nach einer größeren Rolle in der Weltdiplomatie ausdrückt.
Langfristig sind die Aussichten für Mercosur allerdings düster. Im Falle einer weltweiten Rezession, die unabwendbar ist und gerade die südliche Halbkugel besonders hart treffen wird, werden sich die wirtschaftlichen und Widersprüche zwischen Argentinien und Brasilien potenzieren. Sobald die Märkte drastisch schrumpfen, wird jede nationale Bourgeoisie auf Kosten aller anderen sich zu retten versuchen. Diese Spannungen, die bereits heute fast die Qualität eines Handelskriegs annehmen, würden unerträgliche Ausmße erreichen. Unter solchen Bedingungen ist es nur wahrscheinlich, dass Mercosur auseinanderbrechen wird.
Venezuelas Eintritt in den Mercosur wird daran nichts ändern. Die Chávez-Regierung betrachtet Mercosur als bloß diplomatische Waffe gegen die Manöver des US-Imperialismus, der Venezuela international zu isolieren versucht. Wirtschaftlich verspricht man sich wenig von dem Handelsbündnis.
Ein weiterer Faktor, der die Krise des Mercosur verschärft, sind die zunehmenden inner-imperialistischen Spannungen zwischen Brasilien und dem US-Imperialismus. Höhepunkt dieser Widersprüche war die Opposition Brasiliens gegen das FTAA. Brasilien als wirtschaftliche und militärische Macht in Lateinamerika möchte sich zur regionalen imperialistischen Macht aufschwingen und benötigt daher eine gewisse Unabhängigkeit vom US-Imperialismus. Es versucht, sich durch Manöver mit dem europäischen Imperialismus und China etwas Spielraum zu verschaffen. Indem es das FTAA ablehnt schützt es die Interessen des brasilianischen Großgrundbesitzes und kann der eigenen nationalen Bourgeoisie leichter staatliche Aufträge zuschanzen. Ähnlich verhält es sich mit der ablehnenden Haltung Kirchners gegenüber dem FTAA.
Im Gegenzug zwingen die USA die anderen lateinamerikanischen Staaten bilaterale Freihandelsabkommen zu unterzeichnen. Durch diese Verträge versuchen sie ihre eigene Position zu stärken, dem Vormarsch des europäischen Imperialismus und der aufsteigenden chinesischen Bourgeoisie Hindernisse in den Weg zu legen und auch die Pläne Brasiliens zu durchkreuzen. Sie haben bereits mit Peru und Kolumbien eigene Handelsabkommen geschlossen (zusätzlich zu den bereits bestehenden Verträgen mit Mexiko, Zentralamerika und Chile) und verhandeln gerade mit Ekuador. All dies ruft Massenproteste in diesen Ländern hervor und heizt die politische und soziale Lage in der Region weiter an.
Angesichts des räuberischen Charakters dieser imperialistischen Wirtschaftsverträge schlägt die Chávez-Regierung einen eigenen Weg der Integration, der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität vor – die ALBA. Man tauscht Erdöl und andere Rohstoffe gegen Nahrung, Bildung und Gesundheitsleistungen. Einige sehr Erfolg versprechende Schritte in diese Richtung sind von Kuba und Venezuela unternommen worden, und nun wird auch Bolivien miteinbezogen. Aber all dies ist nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, was für ein riesiges Potential freigesetzt werden könnte, wenn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ressourcen dieser Länder im Rahmen eines demokratisch kontrollierten zentralen Plans eingesetzt werden würden. Es wäre allerdings naiv zu glauben, dass die anderen lateinamerikanischen Staaten, die direkt oder indirekt von AgentInnen der nationalen Bourgeoisie und des Imperialismus beherrscht werden, an einer solchen Integration interessiert wären.
Auf kapitalistischer Basis ist es unmöglich, eine wirkliche Einheit und wirtschaftliche Integration Lateinamerikas zu erreichen. Dies muss zwangsläufig an den widersprüchlichen nationalen Interessen der lokalen Bourgeoisien und den Absichten des Imperialismus scheitern.
Die lateinamerikanische Revolution
Die am weitsten fortgeschrittene Region vom Standpunkt der Revolution ist zurzeit Lateinamerika. Es entwickeln sich revolutionäre Bewegungen überall auf dem Kontinent. Wir sind Zeugen nicht einfach nur der venezolanischen Revolution, sondern der lateinamerikanische Revolution als Ganzes – ein essentielles Bindeglied in der Kette der Weltrevolution. Die Vorgänge in Bolivien und Ecuador sind nicht unabhängig von jenen in Venezuela. Die US-amerikanischen ImperialistInnen glauben das nicht, und wir tun das genauso wenig. Die Verhältnisse in den verschiedenen Staaten sind organisch mit einander verbunden, sie bilden ein und denselben Prozess. Die Frage des subjektiven Faktors steht auf einem anderen Blatt.
Lateinamerika ist daher der Schlüssel zur Weltrevolution, und die venezolanische Revolution ist der Schlüssel zur lateinamerikanischen Revolution. Deshalb ist Washington entschlossen, die venezolanische Revolution zu zerschlagen, bevor sie sich auf andere Länder ausdehnen kann. Hugo Chávez hat öffentlich gesagt, dass Trotzki gegenüber Stalin im Recht war, als er sagte, dass die sozialistische Revolution nicht in einem einzigen Land siegen könne. Die bolivarische Revolution darf nicht, wenn sie siegen soll, auf halbem Wege stehen bleiben. Sie kann nur triumphieren, wenn sie die Großgrundbesitzer und Kapitalisten enteignet und dann einen Aufruf an die ArbeiterInnen und Bauern und Bäuerinnen von ganz Lateinamerika und der ganzen Welt startet, es Venezuela gleich zu tun.
Die bolivarische Revolution dient trotz ihres unabgeschlossenen Stadiums, ihrer Verwirrungen und inneren Widersprüchen als Beispiel für den Rest Lateinamerikas. Chávez startete einen Fernsehkanal, Telesur, der ganz Lateinamerika und selbst Teile der USA erreicht. Washington protestierte lauthals wegen angeblicher „Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder, und vergaß geflissentlich, dass sich die Propaganda CNNs über die ganze Welt ergießt, ganz abgesehen von anderen, direkteren Arten der Einmischung durch die CIA weltweit.
Der Slogan „Für die Sozialistische Föderation von Lateinamerika, nimmt nun lebenswichtige Bedeutung an. Die Wiederbelebung des Interesses an Bolívars Ideen hat die Frage der lateinamerikanischen Einigung wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Der Kampf gegen das FTAA und die Idee der lateinamerikanischen Integration sind Beispiele dafür. Große Hoffnungen wurden unter den lateinamerikanischen Volksmassen geweckt. Das Verlangen der Massenbewegung nach Einheit hat einen revolutionären und anti-imperialistischen Charakter. Die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, die revolutionäre Jugend und die fortschrittliche Intelligenz sehen zu Recht, dass die Balkanisierung Lateinamerikas den Kontinent schwächt und so dem US-Imperialismus unterordnet.
Es stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass ein mächtiger Kontinent, der im Überfluss Mineralien, Erdöl, Rinder und Weizen besitzt – und damit alle notwendigen Voraussetzungen, um ein Himmelreich auf Erden zu schaffen -, zur sehr realen Hölle für Millionen von Menschen geworden ist? Seit fast zwei Jahrzehnten sind die Staaten Lateinamerikas formal unabhängig. Aber diese so genannte Unabhängigkeit ist ein bloßes Feigenblatt, um die sklavische Abhängigkeit von den USA ihren riesigen transnationalen Konzernen zu verhüllen, welche seit jeher das kontinentale Blut vampirhaft aussaugen.
Was ist nun der Grund für die Prostration eines so mächtigen Kontinents? Nur eines: Nach dem Tod Simon Bolívars hat die Oligarchie – die Großgrundbesitzer und Kapitalisten – den Traum eines vereinten Lateinamerika und der Karibik verraten. Sie haben den lebendigen Körper des Kontinents in eine Reihe von Ministaaten geteilt, die keine besondere Existenzberechtigung hatten. Der wahre Grund für die Versklavung Lateinamerikas ist seine Balkanisierung. Der wahre Grund für seine Balkanisierung wiederum ist die Herrschaft der Oligarchie. Kein Fortschritt wird möglich sein, solange diese Situation andauert.
In den Thesen der Vierten Internationale „Krieg und die Vierte Internationale, vom Juni 1934 schrieb Trotzki:
„Sich aus der Zurückgebliebenheit und Knechtschaft losreißen können Süd- und Mittelamerika nicht anders als durch die Einigung all ihrer Staaten in einem mächtigen Bund. Diese grandiose geschichtliche Aufgabe zu lösen, heißt jedoch nicht, die rückständige südamerikanische Bourgeoise ausersehen – eine ganz und gar käufliche Agentur des fremdländischen Imperialismus -, sondern das junge südamerikanische Proletariat als der berufene Führer der unterdrückten Volksmassen. Die Losung des Kampfes gegen die Gewalttaten des Weltimperialismus und gegen das blutige Treiben der einheimischen Kompradorencliquen lautet daher: die Vereinigten Sowjetstaaten von Süd- und Mittelamerika.,
Die MarxistInnen unterstützen bedingungslos die Vereinigung von Lateinamerika, aber wir schlagen einen Zusatz zu den Ideen Bolívars vor. Die letzten 200 Jahre haben bewiesen, dass eine Einheit unter kapitalistischen Bedingungen nicht herzustellen ist. Seit dem Tod Simon Bolívars hat die korrupte und degenerierte Bourgeoisie Lateinamerikas ihr Erbe für einen Silberling verkauft. Die Großgrundbesitzer, Bankbesitzer und Kapitalisten Lateinamerikas sind nur die örtlichen Laufburschen des Imperialismus. Sie sind unfähig, die gleiche Rolle zu spielen, wie sie der französischen oder englischen Bourgeoisie in der Vergangenheit zukam. Sie stellen in jeder Hinsicht ein Hindernis für den Fortschritt dar. Das zeigt sich am Beispiel der verrotteten konterrevolutionären Bourgeoisie in Venezuela oder ihren Vettern in Bolivien. Kein Fortschritt ist möglich, solange die wirtschaftliche Macht in den Händen der Großgrundbesitzer und Kapitalisten verbleibt. Diese Macht muss zerschlagen werden. Die einzige Klasse, die dies kann, die fähig ist, die Ziele von Bolívar zu erreichen, ist die Arbeiterklasse. Nur durch sie können die künstlichen Barrieren beseitigt und Lateinamerika geeint werden – als sozialistische Föderation.
Eine neue revolutionäre Welle
Shakespeare schrieb einst: „Es herrscht Flut in der Menschen Dinge“. Das gilt ebenso für den Klassenkampf, der sich, im historischen Maßstab gesehen, den Gezeiten gleich in Form von Flut und Ebbe bewegt. In den 1970ern gab es auf internationaler Ebene eine große Welle des Klassenkampfs. Sie nahm ihren Ausgang im Frankreich des Jahres 1968 und schwappte über Europa, riss ein Land nach dem anderen mit: Portugal, Spanien, Griechenland, Italien und Großbritannien. Es gab eine Revolution in Pakistan, in der die Arbeiterklasse eine führende Rolle einnahm, wie im Russland des Jahres 1917. Es kam außerdem zu revolutionären Situationen in Chile und Argentinien.
In all diesen Ländern spürten die ArbeiterInnen, dass die Macht schon in Griffweite war. Sie lagen nicht falsch. In Portugal hielten sie tatsächlich bereits die Macht in Händen. Die Londoner Times veröffentlichte einen Leitartikel unter dem Titel: „Der Kapitalismus in Portugal ist tot., Die ArbeiterInnen hatten die Macht, aber sie verloren sie aufgrund des Verhaltens der Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei. Die Geschichte wiederholte sich daraufhin in Spanien und Italien, wo die Macht schon greifbar schien und die Chance letztlich der Arbeiterklasse wieder entglitt.
In Pakistan schwächte die Politik Bhuttos die Revolution, was schließlich seiner Hinrichtung und der brutalen Diktatur von Zia ul Haq den Weg bereitete. Die revolutionäre Welle in Lateinamerika wurde zum Teil vom Reformismus aufgehalten, zum Teil durch die falsche Taktik der Stadtguerilla. Das Ergebnis davon war die Einrichtung von brutalen Militärdiktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay. Die Bewegung wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Gleichzeitig bereitete sich auch die herrschende Klasse des „demokratischen, Europas auf den Bürgerkrieg und auf Militärdiktaturen vor, nicht nur in Italien, sondern auch in Belgien und selbst in Großbritannien. Es gab Militärverschwörungen wie etwa die Gladio-Verschwörung. Das sollte uns eine Warnung für die kommende Zeit sein. Viele ArbeiterInnen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten glauben, dass die Demokratie für immer und ewig festgeschrieben sei. Aber wenn es die Umstände verlangen, wird die herrschende Klasse von der Demokratie zur Diktatur umschwenken – mit der Leichtigkeit, mit der ein Mensch von einem Zugabteil ins andere wechselt, wie die Briten sagen. Die Bourgeoisie kann nur solange die Demokratie tolerieren, als ihre Herrschaft dadurch nicht gefährdet ist.
In der kommenden Periode erlebten wir eine enorme Polarisierung der Gesellschaft zwischen links und rechts. Neben dem Aufschwung der revolutionären Strömung und des Klassenkampfs werden wir auch das Wachstum von faschistischen und bonapartistischen Tendenzen erleben. Die Angriffe auf die demokratischen Rechte werden im Namen des so genannten „Kriegs gegen den Terror, geführt. Sie sind nur eine Vorahnung auf das, was uns bevorsteht. Aber das bedeutet noch nicht, dass wir unmittelbar mit einem Aufschwung der Reaktion rechnen müssen. Lange bevor die herrschende Klasse zur offenen Reaktion übergeht, wird die Arbeiterklasse viele Male die Chance haben, die Gesellschaft zu verändern.
Unter den gegebenen Bedingungen kann sich das Bewusstsein blitzartig ändern. Es ist ein allgemeines Gesetz, dass das Bewusstsein den Ereignissen hinterher hinkt. Das menschliche Bewusstsein ist, ganz im Gegensatz zur Meinung der IdealistInnen, tief konservativ und widersetzt sich der Veränderung und neuen Ideen. Aber ab einem gewissen Punkt holt es mit einem Paukenschlag auf. Das ist es gerade, was eine Revolution ausmacht. Das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse hinkt seit zwanzig Jahren den Ereignissen hinterher, vor allen Dingen in den USA und in Europa. Dafür gibt es objektive Gründe.
Als die ArbeiterInnen die Chance sahen, die Macht zu übernehmen, sie aber scheiterten, hatte dies ein äußerst demoralisierenden Effekt auf die Klasse, allen voran ihre fortgeschrittensten Schichten. Es braucht lange Zeit, sich davon zu erholen. Ein Grund ist, dass die Avantgarde der Arbeiterklasse, die Menschen, die die Kämpfe in den 1970ern führten, ausgebrannt waren. Mehr noch, diese Schicht wurde sogar zu einem Hindernis. Sie wurden von einer Stimmung des Pessimismus, der Depression und der Demoralisierung erfasst. Sie hatten die Hoffnung in die Arbeiterklasse verloren und sahen keine andere Perspektive.
Der wirtschaftliche Boom in den 1980ern und 1990ern hat diese reaktionäre Stimmung weiter gestärkt. Die Arbeiterorganisationen selbst (die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und die KPen) sind verstärkt unter den Druck der Bourgeoisie und bürgerlicher Ideologie geraten. Sie wurden zu riesigen Hindernissen auf dem Weg zur Veränderung der Gesellschaft. Diese Periode hat die reformistische Degeneration der Kommunistischen Parteien und der Sozialdemokratie endgültig besiegelt. Vom Druck seitens der Arbeiterklasse befreit schwenkten sie weit nach rechts.
Aus unserer Sicht sind diese Massenparteien weniger Teil des subjektiven Faktors als vielmehr Teil der objektiven Faktoren – und zwar ein alles andere als unwesentlicher. Für die Jugend und die fortgeschrittensten ArbeiterInnen gab es ganz einfach keinerlei Referenzpunkt. Das ist Teil der Erklärung für das „fehlende Klassenbewusstsein“. In linksintellektuellen Zirkeln ist es modern über das „niedrige Bewusstsein der ArbeiterInnen, die Nase zu rümpfen. Selbst in Venezuela gibt es genügend, die solche Töne anschlagen. Wir halten es jedoch völlig falsch, den Massen die Schuld am Versagen der Führung zu geben.
Über die ganze letzte Periode hinweg gab es niemanden unter diesen „Arbeiterführern“, der ein sozialistisches Programm, ganz zu schweigen eine Perspektive der Machteroberung, vertreten hätte. Die Gewerkschaften haben stillgehalten, während die UnternehmerInnen unsere hart errungenen Rechte zu zerstören versuchten. Die linken Parteien stellten gegenüber bürgerlichen Reaktionären vom Schlage einer Thatcher keinerlei Alternative dar. Im Gegenteil, sie ahmten die Politik der Konservativen nach und verschrieben sich einem „neuen Realismus, (sprich der Marktwirtschaft) und gingen gegen die Linke in den eigenen Reihen vor.
ArbeiterInnen denken sehr realitätsbezogen. Unter diesen Bedingungen, wo ihre eigenen Organisationen keine Alternative anzubieten hatten, begann die Mehrheit individuelle Lösungen für ihre Probleme zu suchen. Der wirtschaftliche Boom erlaubte es ihnen, ihren Lebensstandard zu halten oder sogar zu heben, auch wenn dies nur über einen enormen Anstieg des relativen und absoluten Mehrwert ging: längere Arbeitszeiten, größerer Arbeitsdruck, steigende Produktivität usw.
Für eine Zeit lang waren die ArbeiterInnen bereit die Tyrannei der UnternehmerInnen hinzunehmen: Entlassungen, wachsenden Arbeitsdruck, erzwungene Überstunden, Angriffe auf Gewerkschaftsrechte usw. Sie sahen keine Alternative, haben ihren Kopf in den Sand gesteckt und hofften, durch hartes Arbeiten ein Durchkommen zu finden. Sie verzichteten auf Urlaubsansprüche, arbeiteten am Wochenende und machten Überstunden. Nach einem langen und harten Arbeitstag war für die meisten eine Mitarbeit in der Gewerkschaft und den Arbeiterparteien ausgeschlossen. Das wiederum stärkte die Macht der Rechten in diesen Organisationen, was die normalen ArbeiterInnen nur noch mehr entfremdete.
Doch diese Suche nach individuellen Lösungen konnte nicht ewig weitergehen. Sie zeitigte schreckliche Folgen: Nervenerkrankungen, physische und psychische Erkrankungen, ein gewaltiger Anstieg an Arbeitsunfällen usw. Der massive Anstieg des absoluten und relativen Mehrwerts ist an seine Grenzen gestoßen. Die Kapitalisten können die ArbeiterInnen nicht unbegrenzt auspressen. Früher oder später sagen die ArbeiterInnen: genug ist genug! Jetzt sehen wir den Beginn einer Gegenreaktion seitens der Arbeiterklasse, was sich international in einer Welle von Streiks ausdrückt. Der ganze Prozess beginnt sich in sein Gegenteil umzukehren.
Eine revolutionäre Perspektive
Lenin schrieb einst einen Artikel mit dem Titel Inflammable Material in World Politics. Heutzutage sehen wir auf der ganzen Welt ausreichend viel Zündstoff. Keine Region auf dieser Welt ist davon ausgenommen. Instabilität wohin man blickt: Krieg, Terrorismus, Gewalt und Krisen. Was spiegelt das wider? Es ist ein Ausdruck für die Sackgasse, in der sich dieses sozioökonomische System, das an seine Grenzen stößt, befindet.
Der Kapitalismus steckt heute in einer Sackgasse. Überall sehen wir die Symptome eines katastrophalen Niedergangs. Immer mehr Menschen sehen diese negativen Symptome: die Gewalt, die sinnlosen Tode unzähliger Menschen, die Verschwendung, die Korruption, die Ungleichheit, der kulturelle Verfall und die spirituelle Leere. Viele verfallen angesichts dieser Auswüchse in Verzweiflung. MarxistInnen nähern sich an die Geschichte aber nicht von einem sentimentalen oder moralistischen Standpunkt aus, sondern von einem wissenschaftlichen und dialektischen.
Ein Boom, in dem gleichzeitig die Beschäftigung zurückgeht und der Lebensstandard nicht steigt und die ArbeiterInnen nur Kürzungen und wachsenden Arbeitsdruck zu spüren bekommen, hat überall zu einer Wiederbelebung des Klassenkampfes geführt. Genau in dieser Phase der Entwicklung befinden wir uns derzeit: Sie ist gekennzeichnet von einem generellen Wiedererwachen der Arbeiterklasse und einem Anstieg des Klassenkampfniveaus. Aus der Sicht des Klassenkampfes könnte eine tiefe Krise bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit zu einem Rückgang der Streikziffern führen, aber es könnte auch zu einer Welle von Fabrikbesetzungen kommen, in der Menschen politische Schlussfolgerungen – revolutionären Schlussfolgerungen – ziehen können. Das ist ein fertiges Rezept für den Klassenkampf, der ab einem bestimmten Punkt seine Widerspiegelung in den Massenorganisationen der Klasse findet. Dies gilt für die Gewerkschaften und die politischen Parteien. Das eröffnet für die marxistische Strömung ungeahnte Möglichkeiten, vorausgesetzt wir arbeiten mit den korrekten Methoden und machen keine Fehler.
All diese Faktoren liefern ausreichend Beweise dafür, dass wir an einem Wendepunkt in der Weltlage angelangt sind. Die allgemeine Instabilität spiegelt sich in plötzlichen und großen Sprüngen im Bewusstsein der Massen wider. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein, dass die gegenwärtige Krise nicht nur eine konjunkturelle Krise ist, sondern dauerhaft und von einer unvorstellbaren Tiefe ist. Es macht sich immer mehr die Ansicht breit, dass „mit dieser Welt irgendetwas nicht in Ordnung ist“. Das reflektiert – wenn auch auf eine sehr konfuse Art und Weise – ein Hinterfragen des kapitalistischen Systems selbst. Die Aufgabe der MarxistInnen, als dem entschlossensten und vorwärtstreibendsten Teil der Arbeiterklasse, ist es das unbewusste oder halbbewusste Streben der ArbeiterInnen zur Veränderung der Gesellschaft bewusst zu machen.
Diese Ansicht drückt sich wie schon so oft zuerst in einer Revolte von Jugendlichen aus den Mittelschichten aus. Man denke nur an Entwicklungen wie die Antiglobalisierungsproteste, die Antikriegsbewegung und Bewegungen wie das Weltsozialforum. Diese Bewegungen hatten keinerlei unabhängige Bedeutung, sondern waren lediglich Symptome der wachsenden Krise des Weltkapitalismus. Die politische Verwirrung, die in den Konzepten und Ideen dieser Bewegungen zum Ausdruck kam, ihr amorpher Charakter und die fehlende Klarheit brachten auf perfekte Art und Weise die Kennzeichen der ersten Stufe der Revolution zum Ausdruck. Mittlerweile wurden sie aber von einer weit ernsthafteren Bewegung ersetzt, die mit einem Wiedererwachen der Arbeiterklasse zusammenfällt.
Der wichtigste Grund dafür, dass die Bewegung der Arbeiterklasse erst verspätet die Bühne betreten hat, liegt im völligen Bankrott der Führungen der traditionellen Massenorganisationen: den StalinistInnen und den SozialdemokratInnen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade zu dem Zeitpunkt, wo das Pendel wieder nach links geht, all diese Leute sich entschlossen haben, dem Sozialismus den Rücken zuzukehren und eine moderate Politik der Klassenkollaboration vertreten. Blair ist nur das schlimmste Beispiel dafür, mehr oder weniger folgen ihm aber alle anderen „sozialistischen, und „kommunistischen, Führer auf diesem Weg – das zu einem Zeitpunkt, wo die ArbeiterInnen und die Jugendlichen eine radikale Lösung für ihre Probleme fordern.
Das ist der Beginn eines Wandels in der internationalen Situation. Natürlich ist es unmöglich, den genauen Zeitablauf im Vorhinein vorauszusagen. Der Grund dafür, dass dieser Prozess aber ein relativ langer sein wird, liegt einerseits in der tiefen Krise des Systems und der Schwäche der Kräfte der Reaktion einerseits und dem Fehlen des subjektiven Faktors andererseits: der Krise der Führung der Arbeiterklasse. Das bedeutet, dass die Situation über Jahre so weiter gehen kann, mit Hochs und Tiefs.
In jedem Land beschleunigt sich der Rhythmus des Klassenkampfes. Dieser wird sich aber nicht in einer geraden Linie entwickeln. Perioden des Fortschritts werden sich mit den Phasen der Ermüdung, der Apathie, der Niederlagen und sogar der Reaktion abwechseln. Jede Niederlage wird aber nur das Vorspiel zu neuen Kämpfen abgeben, bis es zu einer endgültigen Entscheidung für die eine oder die andere Seite kommt. Immer und immer wieder werden wir Bewegungen der Arbeiterklasse zur Veränderung der Gesellschaft erleben. Das wird in einem Land nach dem anderen zur Herausbildung von revolutionären oder vorrevolutionären Situationen führen. Es ist unvermeidlich, dass sich dabei die Machtfrage stellen wird. In Lateinamerika ist dies bereits heute der Fall.
Es ist die Pflicht von MarxistInnen, die Klarheit anzubieten und den ArbeiterInnen zu erklären, was notwendig ist, die Fehler zu korrigieren und ein korrektes Programm und eine richtige Strategie zu verteidigen. Das kann aber nicht über ein sektiererisches Vorbeten am Rande der Bewegung gehen. Ein korrektes Programm ist absolut notwendig, damit allein ist es aber noch nicht getan. MarxistInnen müssen einen Weg zu den Massen finden, müssen sich verankern, um die Bedingungen dafür zu schaffen für einen fruchtbringenden Dialog zwischen den MarxistInnen und den ArbeiterInnen, beginnend mit den aktivsten und bewusstesten Elementen (der proletarischen Avantgarde). Es sollte es selbstverständlich sein, dass man die Massen nur dann erreichen wird, wenn man dort hin geht, wo sich die Massen befinden.
Der Grund für unsere Erfolge liegt in der Kraft unserer Ideen: den Ideen des Marxismus. Die marxistische Theorie ist ein ausgesprochen machtvolles Instrument. Sie bietet den einzigen Weg zur Herausbildung von Kadern, die mit der Avantgarde der ArbeiterInnen- und Jugendbewegung in Verbindung treten können. Das ist der Weg zu den Massen. Auf diese Art und Weise bauen wir die Kräfte auf, die es zur Durchführung der Weltrevolution benötigt. Ideen für sich allein genommen sind aber nicht ausreichend. Wir brauchen auch den festen Willen, die vor uns liegende Schlacht zu gewinnen. Unsere wichtigste Aufgabe liegt nun im Aufbau der Internationalen Marxistischen Strömung.
Wir müssen die Kader der revolutionären Jugend, der militanten ArbeiterInnen und den Besten aus der alten Generation von KämpferInnen, die sich ihr Klassenbewusstsein und ihren Kampfeswillen erhalten haben, für die Ideen des Marxismus gewinnen und schulen. Für den Aufbau einer revolutionären Tendenz braucht es Entschlossenheit. In einer revolutionären Tendenz ist kein Platz für Skeptizismus. Die Führung muss aber den korrekten Ton anschlagen; wir müssen die Basis im Geiste eines revolutionären Optimismus schulen. Wir müssen die Kräfte des Marxismus international aufbauen. Diese Arbeit wird schlussendlich von Erfolg gekrönt sein. Früher oder später wird die Arbeiterklasse in dem einen oder anderen Land die Macht erobern. Der Sieg des Proletariats in nur einem Land wird die ganze Weltlage umwälzen.