Am 25. Juli jährt sich zum 70. Mal die Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuss durch die Nazis. Die Konservativen werden diesen Tag zur Reinwaschung des austrofaschistischen Politikers und Arbeitermörders missbrauchen. Wir wollen zu diesem Anlass einem jungen Arbeiter gedenken, der Tags zuvor von den Austrofaschisten hingerichtet worden war – Josef Gerl.
Wer war nun dieser Josef Gerl? Seine Familie stammte aus Böhmen und kam noch während der Donaumonarchie nach Wien. Kurz nach seiner Geburt im Jahre 1911 ließ sein Vater die Familie sitzen. Unter dem Druck der katastrophalen Lebensumstände war die Beziehung seiner Eltern zerbrochen. Die Wohnung in einer der berüchtigten Mietskasernen war zu eng, das Geld reichte nicht einmal für das Notwendigste. Die Mutter versuchte sich und Josef als Wäscherin durchzubringen. Sie war aber oft krank und ihr Verdienst war viel zu gering.
Josef Gerl machte eine Lehre als Goldschmied, nach Abschluss der Lehre und der gesetzlichen Behaltefrist wurde er jedoch entlassen. Unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise reihte er sich in das Heer der Arbeitslosen ein. Eine Arbeit zu finden, war unmöglich. Bald schon wurde er „ausgesteuert, und erhielt keine Arbeitslosenunterstützung mehr. Die kapitalistische Krise entzog ihm und Hunderttausend anderen ArbeiterInnen jegliche Lebensgrundlage.
Josef Gerl wusste, was es heißt, hungrig zu Bett gehen zu müssen, schlecht angezogen zu sein und nur zerrissene Schuhe zu haben. Die materielle Not machte ihn auch psychisch fertig und nahm ihm jegliches Selbstvertrauen.
Am eigenen Schicksal lernte er zu verstehen, nach welchen Gesetzen der Kapitalismus funktioniert, und dass für die ArbeiterInnen dabei nichts gutes rausschauen kann. Deshalb wurde er Sozialist. Der Kampf für eine Gesellschaft ohne Elend, Ausbeutung und Unterdrückung war die einzige Perspektive, die seinem jungen Leben noch Sinn geben konnte.
Das Bauvolk der kommenden Welt
Josef Gerl war seit 1929 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und aktiv in der SAJ-Gruppe Prater in Wien-Leopoldstadt. Schon zuvor war er bei den Roten Falken. Politisiert wurde er vor dem Hintergrund der zunehmenden Polarisierung zwischen links und rechts und dem Kampf der Arbeiterbewegung gegen die bürgerliche Offensive und den immer aggressiver werdenden Faschismus.
Gerl sah sich als Teil dieser riesigen Massenbewegung, die für eine neue Welt kämpfte. Im Roten Wien schien die Sozialdemokratie bei all dem Elend trotzdem schon einen Vorgeschmack von diesem Paradies auf Erden zu geben. Josef Gerl litt weiter unter den materiellen Bedingungen, doch sein Leben hatte nun einen neuen Sinn bekommen. Er gehörte zu jenen, die Otto Bauer als „Generation der Vollendung, bezeichnet hatte, die als das „Bauvolk der kommenden Welt, besungen wurden.
Sozialismus war für ihn die Hoffnung auf die Befreiung aus dem tagtäglichen Elend, das sich materiell wie auch geistig ausdrückte. Josef Gerl fand in der Sozialdemokratie eine neue Heimat, eine Familie, ein neues Lebensgefühl.
Kurz nach seinem Beitritt zur SAJ konnte Josef Gerl am Internationalen Jugendtreffen teilnehmen, das auf ihn eine unbeschreibliche Wirkung gehabt haben muss.
„Vom Nordbahnhof war er dann mit den Genossen des Empfangskomitees zum Landungsplatz bei der Reichsbrücke gelaufen, denn schon sollten die dort die Jugendgenossen aus Ungarn und Bulgarien ankommen. Gerade legte der Dampfer an, die Ufer waren dicht besetzt, auf der Reichsbrücke blieben die Straßebahnen stehen und brausend wie ein mächtiger Orkan ertönte der Gruß der Wiener: ‚Freundschaft!“
Nur da trat Schweigen tiefster Rührung ein – und heut, noch packt es ihn, heut, noch mehr, erfüllt von der Symbolik dieser Handlung -, als ein stämmiger bulgarischer Jugendgenosse zur roten Fahne hintrat und das heilige Zeichen des internationalen Sozialismus küsste., (aus der im Exil erschienen Broschüre „Die Idee steht mir höher als das Leben“)
Das Gefühl, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, wie er es hier in Wien erleben durfte, prägte Gerl zutiefst.
Die Enttäuschung
Die Strategie der Sozialdemokratie entpuppte sich bei allen Leistungen, die mit dem Begriff „Rotes Wien, in Verbindung gebracht werden können, angesichts der kapitalistischen Krise aber als völlig wirkungslos. Das ständige Zurückweichen vor dem Faschismus, die Passivität der Parteispitze rund um Otto Bauer, welche die Arbeiterschaft immer wieder zurückhielt, waren für viele GenossInnen aus der SAJ völlig unverständlich.
Josef Gerl sah die Bedrohung durch den Faschismus und war bereit mit aller Kraft die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu verteidigen. Wie viele andere junge Genossen war er dem Republikanischen Schutzbund beigetreten. Josef Hindels beschreibt ihn als einen jener „zornigen Jungsozialisten, die das ständige Zurückweiche vor dem immer aggressiver werdenden Faschismus heftig kritisierten und dafür den Parteivorstand verantwortlich machten“.
Als die Parteispitze auch nach der Auflösung des Parlaments im März 1933 kampflos klein beigab, rumorte es an der sozialdemokratischen Basis gewaltig. Die Kritik wurde immer lauter. Auf der Jugendkonferenz am 17. März 1933 gehört Josef Gerl zum linken Flügel, der in hitzigen, stundenlangen Debatten eine politische Alternative im antifaschistischen Kampf forderte.
Am Maiaufmarsch und beim Fackelzug der SAJ am 30. April wollten Gerl und seine GenossInnen ihre Kampfentschlossenheit demonstrieren. Das Dollfuß-Regime sollte dies aber nicht zulassen und verhängte ein Demonstrationsverbot für diese Tage. Trotzdem beteiligten sich Zehntausende am 30. April 1933 an illegalen Demonstrationen im Wienerwald. Dieser Fackelzug war bis in die Stadt hinein zu sehen. Die Polizei bereitete den TeilnehmerInnen an dieser illegalen Demo einen blutigen Empfang. Mit unvorstellbarer Brutalität prügelten die Polizisten in die Menge. Josef Gerl gehörte zu den unzähligen Verhafteten an diesem Abend.
Dass die Parteispitze auch unter dem Eindruck dieser dramatischen Entwicklungen nicht bereit war zu handeln, löste bei Josef Gerl eine enorme Enttäuschung aus. Während viele andere völlig resignierten, begab sich er jedoch auf die Suche nach einer radikaleren Alternative.
Der blutige Februar 1934
Als am 12. Februar 1934 die Austrofaschisten damit beginnen „ganze Arbeit zu leisten“ (Innenminister Fey) und die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen, gehört Josef Gerl zu jenen, die trotz aussichtsloser Lage mit der Waffe in der Hand den antifaschistischen Kampf zu führen bereit sind. Gerl überquert die Donau und schließt sich den kämpfenden Schutzbündlern im Goethehof an. Dort tobt in der Folge einer der härtesten Kämpfe in jenen blutigen Februartagen.
Drei Tage lang wird der Goethehof von Kanonen und Minenwerfern beschossen. Und aus dem Radio tönt die austrofaschistische Lügenpropaganda. Zwischen der trällernden Schlagermusik die kurzen Nachrichten von der Hinrichtung des Schutzbundführers Georg Weissel.
Der Übermacht aus Heimwehr, Bundesheer und Polizei konnten die hungrigen, von der eisigen Kälte gebeutelten Schutzbündler, die ohne Unterstützung durch die Partei diesen Abwehrkampf führten, auf Dauer nichts entgegensetzen. Nach der Niederschlagung des Kampfes flüchtet Gerl mit anderen Schutzbündlern in die Tschechoslowakei. Doch schon bald sollte er nach Wien zurückkehren. Er wollte einen aktiven Beitrag zum illegalen Widerstand gegen den Faschismus leisten. Nach seiner Rückkehr schließt er sich der Jugendorganisation der Revolutionären Sozialisten (RS) an.
Wir kommen wieder!
Gerl beteiligte sich an all den Aktivitäten des illegalen Widerstands: Verbreitung illegaler Flugblätter, Vertrieb der nach Österreich geschmuggelten sozialistischen Presse, vor allem der „Roten Jugend“ (dem Organ der RSJ), das Kleben von Pickerln mit kämpferischen Parolen.
Josef Gerl gehörte aber zu jenen, die instinktiv spürten, dass dies nicht ausreichen würde, um den Spruch der RS „Wir kommen wieder!, wahr zu machen. Es war greifbar, dass das austrofaschistische Regime nur ein Intermezzo auf dem Weg in die völlige Barbarei darstellt. Die Gefahr einer Machtübernahme durch die Nazis, die aus Hitler-Detschland enormen Rückenwind verspürten und immer aggressiver auftraten, wurde immer aktueller. Gerl und andere wussten, dass die Arbeiterbewegung viel aktiver auftreten müsste, dass es gelingen müsse, die Massen zu mobilisieren, um dem Faschismus ein Ende zu setzen. Noch herrschten in Österreich Bedingungen, die eine solche Politik in gewissem Maße erlaubt hätten. Das Fehlen einer revolutionären Führung lähmte aber die österreichische Arbeiterbewegung.
Für den 15. Juli 1934 organisierten die RS jedoch endlich eine große Veranstaltung mit mobilisierendem Charakter. Es sollte der Opfer der Straßenschlachten vom 15. Juli 1927 gedacht werden. Ort der illegalen Kundgebung war die Predigtstuhlwiese bei Kaltenleutgeben im Wienerwald. Drei junge Sozialisten trugen große rote Sturmfahnen. Die TeilnehmerInnen sangen Arbeiterlieder. Als die noch junge Rosa Jochmann, eine der Führerinnen der RS, mit ihrer Ansprache begann, wurde plötzlich auf die Versammlung geschossen. Zwei Jungsozialisten aus Liesing starben im Kugelhagel. Die Polizei und örtliche Faschisten hatten willkürlich die Kundgebung überfallen.
Einer der beiden Ermordeten war ein Freund und Kollege Josef Gerls. Dieses schreckliche Erlebnis ging Gerl nicht mehr aus dem Kopf und war wohl der Auslöser dafür, dass er wenig später eine Verzweiflungstat begehen sollte. Gegenüber Freunden sagte er nun immer wieder, dass man sich das nicht gefallen lassen dürfe, dass man zurückschlagen müsse usw.
Der Anschlag
Am 20. Juli verübt Gerl in Begeleitung seines Freundes Rudolf Anzböck entlang der Donauuferbahn in Wien-Brigittenau einen Sprengstoffanschlag, der aber nur geringen Sachschaden verursacht. Die beiden haben neben den Amonitpatronen noch eine Pistole dabei. Als sie von Polizisten verfolgt wurden, benutzte Gerl die Waffe und verletzte einen Beamten.
Die beiden wurden verhaftet und vor das Standgericht gestellt. Der Tod durch den Henker war ihnen angesichts einer Verschärfung des Sprengstoffgesetzes, das als Antiterrorgesetz gedacht war, nun gewiss.
Die RS lehnten ausgehend von einem marxistischen Verständnis die Methoden des individuellen Terrors prinzipiell ab. Dies gehörte zum ABC der politischen Schulung, die Gerl genossen hatte. Er selbst sprach auch immer wieder von der Notwendigkeit des Massenkampfes. Trotzdem griff er zu diesem Mittel. Gerl war durch die Entwicklung der letzten Jahre und Monate völlig verzweifelt. Der Sprengstoffanschlag markierte keinen lang durchdachten Wechsel in seiner politischen Strategie. Er sah in seinem Leben aber nur noch einen Sinn – er wollte ein Zeichen setzen, zeigen, dass es Genossen gibt, die noch für die sozialistische Idee einstehen und bereit sind, alles zu geben – notfalls auch das eigene Leben.
Vor dem Standgericht
Gerl und Anböck werden in der Haft gefoltert und schwer misshandelt. Es gibt sogar einen ärztlichen Befund, der dies belegt. Gerls Karten standen besonders schlecht. Er war nämlich bereits vorbestraft, nachdem er bei einer antifaschistischen Aktion einen Nazi geprügelt hatte.
Während der Verhandlung legt Gerl noch einmal sein politisches Bekenntnis ab:
„Ich habe das Amonit für ein Terrorattentat gegen die Regierung erhalten, weil sie das Volk versklavt durch die Unterdrückung der Arbeiterschaft. Auch ich bin unterdrückt worden. Wenn man ein freies Wort sagt, bekommt man den Gummiknüppel der Polizei zu spüren.“
Und weiter: „Ich habe das Leben in dieser Art nicht mehr ertragen. Es ist unwürdig, in einem solchen Staat zu leben, wo man unterdrückt wird.“
Auf die Frage des Staatsanwalts, warum er, obwohl er wusste, dass ihm die Todesstrafe droht, diese Tat begangen hat, antwortete Gerl kurz:
„Ich hatte es mir trotzdem in den Kopf gesetzt. Und mein Ideal stand mir höher als das Leben.“
Der sozialdemokratische Volksbildner Josef Luitpold Stern betonte später die Bedeutung dieses mutigen Auftretens von Josef Gerl vor dem Gericht, indem er sagte, dass dieser damit allen, die im Dunkeln der Illegalität den Kampf gegen den Faschismus führten, Mut und Zuversicht gegeben hat. Sie begriffen dadurch, dass eine Idee, für die junge Menschen bereit sind zu sterben, letztlich über die Henker triumphieren wird.
Josef Gerl und Rudolf Anzböck wurden vom Standgericht zum Tode verurteilt. Gerl setzte sich noch dafür ein, dass Anzböck, der eigentlich nichts gemacht hatte, eine geringere Strafe bekommt, für sich selbst wollte er allerdings kein Gnadengesuch einreichen.
Seine Verteidiger wollten aber unbedingt eine Begnadigung erwirken. Nun war Engelbert Dollfuß als Bundeskanzler an der Reihe. Dieser wandelte Anzböcks Strafe zwar in lebenslange Haft um, blieb im Fall von Gerl aber hart. Ernst Karl Winter, ein katholischer Soziologe und Freund von Engelbert Dollfuß, der die Arbeiterbewegung mit dem Regime versöhnen wollte, setzte sich ebenfalls für Gerls Begnadigung ein. Dollfuß vertröstete Winter auf ein Gespräch im Bundeskanzleramt. Während Winter dort auf Dollfuß, der sich um Stunden einfach verspätete, wartete und draußen die Angehörigen Gerls bangten, wurde die Hinrichtung jedoch schon vollstreckt. Als Dollfuß endlich eintraf und von Winter zur Rede gestellt wurde, antwortete dieser: „Wir können Gott danken, dass es ein Roter und kein Nazi war, gegen den wir das neue Gesetz anwenden mussten.“
Dollfuß wurde einen Tag später selbst von den Nazis ermordet. Die Wochenzeitung der deutschen Trotzkisten, „Unser Wort“, schrieb damals: „Der Mörder der Wiener Arbeiter ermordet von den Mördern der deutschen Arbeiter…“. Und weiter: „Was das persönliche Schicksal von Dollfuss betrifft – kein aufrechter Arbeiter wird ihm eine Träne nachweinen. Noch vor 2 Tagen verurteilten die Schergen des kleinen Metternich zwei sozialdemokratische Arbeiter als erste Opfer des Standgerichts zum Tode. So sieht der fromme Christ aus, der mit dem Kruzifix in den Händen starb! Bei Dollfuss wie bei Röhm, wie bei Heines – die Faschistenkugeln nahmen den künftigen Volksgerichten die Arbeit ab!“
Der Naziputsch im Juli 1934 war die logische Konsequenz der Entwicklung der vorangegangenen Monate. Das Dollfuß-Regime lebte in erster Linie nicht von seiner eigenen Kraft, es verfügte über eine viel zu schwache soziale Basis, sondern stützte sich vielmehr auf das Gleichgewicht zwischen den Nazis und der Arbeiterklasse. Im Februar 1934 zerstörte sie mit der blutigen Zerschlagung der Arbeiterbewegung dieses Gleichgewicht. Damit hatten die Nazis freie Bahn. 1934 war die Zeit noch nicht reif für die Nazis, aber der Weg in den Nationalsozialismus war bereits geebnet. Die Vorläufer der heutigen ÖVP, welche noch immer ihren Dollfuß huldigt, haben hier wahrlich ganze Arbeit geleistet.
Niemals vergessen!
Josef Gerl konnte angesichts dieser Entwicklung nicht mehr still halten. Er büßte für seine Verzweiflungstat mit dem Leben.
Die illegale Arbeiter-Zeitung berichtete am 12. August 1934 über seine letzten Stunden in der Todeszelle. Ein letztes Gespräch mit seinem Freund Anzböck wurde im verweigert. Geistlichen Beistand lehnte er, wie es sich für einen Sozialisten gehört, ab. Seiner Freundin, die er aus der SAJ kannte und die ihn noch einmal besuchen durfte, soll er tröstend gesagt haben: „Du bist doch Sozialistin. Und ich sterbe einen schönen Tod. Ich sterbe für mein Ideal.“
Seine letzten Wort waren: „Die Genossen sollen nicht vergessen, wofür ich mein Leben gelassen habe.“
Josef Gerl war ein einfacher Arbeiterjugendlicher, den die konkreten Erfahrungen zu einem bekennenden Revolutionär und Sozialisten machten. Wir werden sein Vermächtnis, stellvertretend für alle, die gegen den Austrofaschismus und den Nationalsozialismus aktiven Widerstand geleistet haben, niemals vergessen.