Die Unterdrückung von Nationen und nationalen Minderheiten, die die Geschichte des Kapitalismus von seiner Entstehung bis heute begleitet, und mögliche sozialistische Gegenstrategien nahmen und nehmen bis heute einen zentralen Platz in den politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung ein. Auch innerhalb der Sozialistischen Internationale entspann sich um diese Frage eine breite Diskussion.
Die österreichische Sozialdemokratie war neben der russischen und der polnischen jene Partei, die sich am intensivsten mit der „Nationalen Frage, auseinandersetze. Das zaristische Russland wie auch die Habsburgermonarchie waren nicht National- sondern Nationalitätenstaaten. Die Nationalitätenpolitik errang dadurch besondere Wichtigkeit. Aus heutiger Sicht kann man ohne Zweifel sagen, dass die Positionierung der Sozialdemokratie in dieser Frage in den beiden Ländern zu einer Schicksalsfrage für Erfolg oder Niederlage der Arbeiterbewegung wurde.
Eine erzwungene Auseinandersetzung
Die Nationale Frage des Habsburger Reiches lag anfangs außerhalb des Interesses der österreichischen Arbeiterbewegung. Das hatte im wesentlichen zwei Gründe: Einerseits entwickelte die Nationale Frage seine volle Brisanz erst mit dem Fortschreiten der Industrialisierung und der damit verbundenen Binnenwanderung bzw. dem Entstehen eines Kleinbürgertums und Bürgertums vor allem tschechischer Nationalität. Andererseits sah man sich als politische Kraft, die sich ausschließlich auf die soziale Frage konzentrieren wollte. Noch die Hainfelder Erklärung von 1888/89 beschränkte sich auf eine Verurteilung der Vorrechte der Nationen und die Bestimmung der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) als einer internationalen Partei. Im Laufe der 1890er Jahre wurde die Partei allerdings von den gesellschaftlichen Realitäten des Habsburgerstaates eingeholt. Die „Deutschen, waren innerhalb des Reichsverbandes die bevorzugte nationale Gruppierung, die anderen Nationen wurden in unterschiedlichem Ausmaß durch die habsburgische Politik unterdrückt. Diese Tatsache spiegelte sich in den Organisationen der Arbeiterbewegung wieder. Die tschechische Sozialdemokratie verlangte und erlangte eine höheres Maß an Unabhängigkeit. 1896 kommt es zu einer Spaltung der galizischen Sozialdemokratie. Seit 1897 existierte in Zisleithanien de facto keine einheitliche Sozialdemokratie mehr sondern eine Reihe nationaler Parteien, die mehr oder weniger miteinander kooperierten. Diese Situation zwang die Partei geradezu, endlich ein Nationalitätenprogramm zu formulieren.
Das Brünner Programm
Das in Brünn 1898 beschlossene Programm bildet die Basis für die Nationalitätenpolitik der Sozialdemokratie bis 1918. Neben dem Ziel, die Monarchie in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat umzuwandeln, ist der Kernpunkt des Programms die Forderung nach nationaler Autonomie und Selbstverwaltung. Nicht nur, dass diese Selbstverwaltung alles andere als vollständig sein sollte und dem Reichsparlament gewichtige Einflussmöglichkeiten vorbehalten waren, liegt die Bedeutung und Hauptkonsequenz dieser Positionierung vor allem darin, dass die österreichische Sozialdemokratie dadurch die Grenzen des Habsburgerstaates voll und ganz akzeptierte. Eine Veränderung dieser staatlichen Strukturen war nicht gewünscht und wurde als schädlich erachtet. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis hin zur staatlichen Lostrennung, wie von Lenin und den Bolschewiki vertreten, wurde verwehrt. Damit befand sich die Partei praktisch in einer Interessenskoalition mit den dynastischen Kreisen. Die staatserhaltende Antwort der Partei kann dabei als das erste Merkmal der politischen Selbständigkeit des „Austromarxismus, gesehen werden.
Der lange Weg in die Niederlage
Die Positionierung der Sozialdemokratie erfolgte nicht zufällig, sondern war nur der konsequente Ausdruck eines Nicht -Verstehens der Bedeutung der Nationalen Frage, einer falschen Charakterisierung der Nation und eines latent vorhandenen Deutschnationalsimus.
Alle führenden Theoretiker des Austromarxismus, allen voran Otto Bauer und Karl Renner, behandelten die Nationale Frage vollkommen unabhängig von der sozialen Frage. Während die Bolschewiki nicht nur erkannten, dass die Nationale Frage in letzter Konsequenz „eine Frage des Brotes, ist, sondern vor allem auch, dass die Bourgeoisie vollkommen unfähig ist, die Problematik zu lösen und dass die Aufhebung jeglicher nationaler Unterdrückung folglich nur nach der Machtübernahme der Arbeiterklasse möglich ist, gab es bei den Austromarxisten keinerlei Zusammenhang von Nationaler Frage und Sozialismus. In Wahrheit hoffte man, dass sich die herrschende Klasse einsichtig zeigen würde und die Nationalitätenkonflikte für die Sozialdemokratie lösen würde. Denn erst wenn die Nationale Frage gelöst sei, könne man für den Sozialismus kämpfen. Gleichzeitig verstand die SDAP nie, was Nation und nationale Kultur eigentlich bedeutet. Die Nation wurde, vor allem bei Otto Bauer, zu etwas Überhistorischem. Sie war für Bauer „die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen., Ein gemeinsames Siedlungsgebiet oder Wirtschaftsraum waren für ihn keine Kriterien. Die Nation hört dadurch auf ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung zu sein – Bauer meint, dass es auch schon bei den Germanen Nationen gegeben habe. Die Nation ist also nicht mehr etwas, das entsteht und sich verändert oder sogar verschwindet, sondern etwas ewiges. Was vielleicht wie eine rein akademische Fragestellung erscheinen mag, hatte weitreichende Konsequenzen für die praktische Politik.
Vom Internationalismus zur Deutschtümelei
Die Nation ist bei den Austromarxisten nicht etwas, das es gilt zu überwinden, sondern der Klassenkampf wird Mittel für die Nation. Bei Otto Bauer ist „der internationale Klassenkampf das Mittel, dessen wir uns bedienen müssen, um unser nationales Ideal zu verwirklichen“. Von dieser Position ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur „Erkenntnis“, dass alle gesellschaftlichen Klassen ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Nation und des jeweiligen National- oder Nationalitäten-staats haben – womit wir bei Karl Renner wären. Die Nation war für ihn die natürliche Form des menschlichen Zusammenlebens. Der Erhalt und die Fortentwicklung der Nationen im Donauraum konnte seiner Ansicht nach nur gesichert werden, wenn die Donaumonarchie zumindest in ihrem territorialem Rahmen erhalten bliebe. Er sah seine Hauptaufgabe darin, die Herrschenden davon zu überzeugen, dass die Arbeiterklasse ein ebenso großes Interesse an der Erhaltung bestehender staatlicher Strukturen wie sie selbst habe. Der habsburgische Staat wird zum Bündnispartner der Arbeiterbewegung! Diese Positionierung Renners ist keineswegs mit einer generellen Ablehnung des Nationalismus zu begründen. Renner ging es auch darum, die deutsch-österreichische Vormachtstellung über ein großes Wirtschaftsgebiet zu erhalten. 1902 schrieb er: „Der Deutschösterreicher war einmal der herrschende Stamm in Österreich, mit der Herrschaft hat es ein Ende, aber das führende Volk wird er immer sein., Kein Wunder, dass Renner 1938 bei der „Volksabstimmung, über den Anschluss an Deutschland ein „ja, empfahl.
Kein Gegenmittel gegen den nationalistischen Wahn
Die austromarxistische Politik ging aber nicht nur mit den Herrscherhaus Kompromisse ein sondern auch gegenüber bürgerlich-nationalistischen Strömungen. Da man durch die staatsorientierte Politik in der Nationalen Frage die zentrifugalen Kräfte in- und außerhalb der Partei nicht aufhalten konnte, sondern im Gegenteil förderte, musste man weitreichende Zugeständnisse an nationalistische Strömungen machen. Ausdruck dessen war auf innerorganisatorischer Ebene die Schaffung de facto unabhängiger nationaler Parteien in den Kronländern der Monarchie. Bei Gemeinderatswahlen in Brünn 1905 kandidierten deutsche und tschechische Sozialdemokraten gegeneinander! Tschechische sozialdemokratische ArbeiterInnen in Wien waren von ihren deutschsprachigen GenossInnen vollkommen getrennt organisiert. Gesamtgesellschaftlich vertrat man das Konzept der national-kulturellen Autonomie, das im Prinzip auf eine abgeschwächte Apartheidspolitik hinaus lief. Nationalitäten sollten in verschiedenen Lebensbereichen getrennt werden – u.a. im Schul- und Erziehungswesen.
Während sich die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki als ein wirksames Mittel gegen den nationalistischen Wahn herausstellte, scheiterte die SDAP vollkommen. 1906 kam es zu einer Spaltung der Gewerkschaftsbewegung, im Reichsrat lieferten sich tschechische und deutschösterreichische Abgeordnete Kampfabstimmungen, ab 1911 gab es auch formal keinen internationalen Sozialdemokratischen Abgeordnetenverband mehr. Die Nationalitätenpolitik wurde zum klarsten Ausdruck des Opportunismus und Reformismus in der österreichischen Partei. Sie ist mitverantwortlich für das Erstarken von Chauvinismus und Nationalismus im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und die Zerschlagung der internationalen Arbeiterbewegung.