Griechenland. Der Wienbesuch des Vorsitzenden der griechischen Linkspartei SYRIZA, Tsipras, Ende September sorgte für großes Aufsehen. Im Bruno Kreisky-Forum gab er den vernünftigen Sozialdemokraten. Es berichtet Sandro Tsipouras.
Der „gefährlichste Mann Europas“ würdigte in seiner Rede Bruno Kreisky als großen Sozialdemokraten und äußerte sich kritisch über den Rechtsruck der europäischen Sozialdemokratie. Wenn man aber das von ihm in Wien vertretene Programm mit dem Programm vergleicht, mit dem SYRIZA in den Wahlen im Mai bzw. Juni 2012 in Griechenland zur Massenpartei wurde, wirkt die Beschwerde von Tsipras über den Rechtsruck der sozialdemokratischen Parteien in Europa dann doch etwas komisch. Vor etwas über einem Jahr vertrat SYRIZA ein Programm, das nicht nur das Spardiktat ablehnte, sondern auch Forderungen enthielt, die klar über den Rahmen der Kapitallogik hinausgingen: Verstaatlichung und demokratische Kontrolle der Banken, Rücknahme aller Privatisierungen von Staatsbetrieben, Förderung der Arbeiterkontrolle auf allen Ebenen der Wirtschaft. Zu diesem Zweck strebte man eine „Regierung der Linken“ gemeinsam mit der zweiten großen Arbeiterpartei, der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), an.
Doch die KKE ist schon seit längerem nicht mehr der Hauptansprechpartner für SYRIZA. Tsipras tendiert mittlerweile viel stärker zur nationalistisch-populistischen Partei „Unabhängige Griechen“ (ANEL). Eine „Regierung der Linken“ kann man mit dieser freilich nicht bilden, weswegen er auch immer häufiger eine „Regierung der nationalen Rettung“ als unmittelbares Ziel angibt. Von der völligen Ablehnung der Sparmaßnahmen und der Streichung der Staatsschulden ist längst nicht mehr die Rede, mittlerweile geht es Tsipras & Co. nur noch darum, die Staatsschuldenquote durch Verhandlungen mit den „Partnern“ von der Troika auf ein „gesundes Niveau“ von ca. 100% zu drücken und im eigenen Land eine Umverteilungspolitik zur Bekämpfung der Armut zu machen. Um zu diesem Zweck das „gefährliche“ Image loszuwerden, das ihm noch anhaftet, unternimmt Tsipras ständig ausgedehnte Promo-Touren und spricht, wo immer man ihn hören will – unter anderem auch im Weißen Haus.
In diesem Kontext stand auch die Veranstaltung in Wien. Sein Diskussionspartner, Finanzstaatssekretär Schieder, ließ sich krankheitsbedingt entschuldigen, und da auch sonst kein SPÖ-Promi sich Zeit nehmen wollte, ging Tsipras Kalkül hier nicht ganz auf. Trotzdem verwendete er viel Zeit darauf, dem Publikum sein explizit „sehr realistisches, nicht gerade revolutionäres Programm“ schmackhaft zu machen. Eine Antwort auf die Frage, wie er mit dem zu erwartenden Widerstand der EU und des IWF gegen seine Pläne umgehen wolle, blieb er schuldig. Stattdessen ermahnte er seine ZuhörerInnen, dass SYRIZA auf „Solidarität aus Europa“ angewiesen sei. Dass ein Kurswechsel in der EU-Krisenpolitik irgendeiner europäischen Großmacht nicht im Entferntsten absehbar ist, brachte ihn dabei nicht aus dem Konzept. Anstatt konkreter Antworten gab es viel Propaganda für ein „soziales Europa der Völker“, in dem die nationale Souveränität nicht länger untergraben werden solle und viel oberflächliche Kritik am derzeitigen neoliberalen Kurs der europäischen Krisenpolitik.
Marshall-Plan
Als MarxistInnen argumentieren wir seit langem, dass beide Spielarten kapitalistischer Krisenpolitik – sowohl der von Tsipras heftig kritisierte Neoliberalismus als auch der Keynesianismus, auf dem seine Programmatik beruht – zur Bekämpfung der derzeitigen Krise untauglich sind. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillinge. Wenn man sich an die Regeln des Kapitalismus hält, anstatt die Regeln der Kapitallogik zu durchbrechen, gibt es keinen Ausweg aus der Katastrophe, in der sich Griechenland befindet, die in absehbarer Zeit ganz Südeuropa in der gleichen Intensität befallen wird und die unaufhaltsam droht, auch die reichen europäischen Kernländer in den Abgrund zu ziehen.
Die Grundidee des Keynesianismus, die Tsipras unter dem Namen „Marshall-Plan für Europa“ zu verkaufen versucht, besteht darin, dass der Staat – oder in diesem Fall, die Europäische Union – Wirtschaftswachstum aus eigener Tasche finanzieren soll. Diese durchaus nicht neue Idee ist für die Bekämpfung der Krise – in Griechenland im Speziellen sowie auf der ganzen Welt – völlig untauglich. Eines der größten Probleme Griechenlands ist die Kapitalflucht. Um sie zu bekämpfen, stürzt der neoliberale Rettungsansatz Griechenland in einen Teufelskreis: Durch die Senkung von Löhnen und Steuern für Unternehmen sollen Investoren angezogen werden, doch die damit einhergehende Senkung der Kaufkraft verhindert, dass Unternehmen in Griechenland ihre Waren absetzen können und führt sie in den Konkurs, was die Kaufkraft der GriechInnen noch weiter vermindert. Doch ein staatlich finanziertes Konjunkturprogramm, wie es Tsipras vorschlägt, ist keine Alternative dazu. Davon abgesehen, dass es dafür schlicht kein Geld gibt, gibt es im Land auch keine nennenswerte Industrie, der ein solches Konjunkturprogramm zu gute kommen könnte. Die einzige Möglichkeit, der Kapitalflucht effektiv und nachhaltig entgegenzutreten, ist und bleibt, “der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen”, also Betriebe zu verstaatlichen und unter demokratische Kontrolle zu stellen, wie Marx im Kommunistischen Manifest formuliert hat – nicht, ihr noch staatliches Geld hinterher zu schmeißen, wie Tsipras es vorhat.
In Griechenland sind mehr als ein Viertel der Menschen und mehr als 60 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, das Gesundheitssystem ist praktisch zusammengebrochen, mordende Nazibanden terrorisieren die Menschen und beinahe alle Universitäten des Landes haben aufgrund der Sparpolitik schließen müssen. Es ist unmöglich, zu übersehen, dass in Griechenland die Zivilisation auf allen Ebenen zerfällt. Die Situation ist so aufgeladen, so dramatisch und schreit so sehr nach einer radikalen Änderung aller Verhältnisse, dass die griechischen ArbeiterInnen beginnen, revolutionäre Schritte zu gehen, weil es einfach offensichtlich keinen anderen Weg gibt. So befinden sich die ehemalige öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt ERT, die Chemiefabrik BIO.ME, die Zeitung Eleftherotypia und einige Krankenhäuser nun in Arbeiterkontrolle. Die Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten – die in der letzten Zeit von heftigen Entlassungswellen betroffen waren – sowie die Gewerkschaft in der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft fordern nun einen unbefristeten Generalstreik zum Sturz der Regierung. Die LehrerInnen des Landes befinden sich seit Anfang September im unbefristeten Streik.
SYRIZA wäre in der Lage, die ND-Regierung binnen einer Woche zu stürzen. Die Weigerung, das zu tun und stattdessen abzuwarten, wann es Wahlen gibt, ermöglicht die weitere Eskalation der kapitalistischen Barbarei. Die Führung von SYRIZA steht dabei nicht allein in der Verantwortung – auch die reformistische Führung der großen Gewerkschaftsverbände GSEE und ADEDY sowie die sektiererische Führung der KKE müssen endlich beginnen, den unbefristeten Generalstreik auf die Tagesordnung zu setzen.
Doch mit dem Sturz der Regierung ist es natürlich nicht getan. Wenn SYRIZA mit ihrem derzeitigen Programm zur Macht käme, würde sich sofort herausstellen, wie unzureichend es ist. SYRIZA kann die Universitäten, Krankenhäuser und Schulen nicht wieder in Betrieb setzen, solang kein Geld da ist, um die Angestellten zu bezahlen, weil die Staatsschulden bezahlt werden sollen. Und die Verhandlungen mit den “Partnern” über einen Schuldenschnitt würden sich zweifellos lange hinziehen, so dass selbst bei einem für SYRIZA glücklichen Verhandlungsergebnis die Situation in der Zwischenzeit noch weiter eskalieren würde.
Dieser Artikel erschien in Funke, Nr. 120. In der aktuellen Ausgabe schreiben wir über die Politik der KKE.