Linkskeynesianismus versus Marxismus – eine Debatte über die Aufgaben der Arbeiterbewegung angesichts der Schuldenkrise.
„Papandreou versucht, die Dinge bestmöglich abzufedern“
Wir sprachen mit Gerti Jahn, der Leiterin der AK-Wirtsschaftspolitik und neuen Klubobfrau der SPÖ im OÖ. Landtag, über Griechenland, die Euro-Krise und die Möglichkeiten sozialdemokratischer Politik.
Funke: Wie siehst du die aktuelle Wirtschaftskrise?
Gerti Jahn: Zwei Faktoren haben im Wesentlichen zur Finanzkrise geführt: erstens die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen, zweitens die völlige Freigabe der Kapitalmärkte. Wenn die Menschen wenig Kaufkraft haben, investieren die Unternehmen nicht. Und wenn sie nicht investieren, haben auch die Anleger mit ihren riesigen Vermögen weniger Möglichkeiten, profitabel anzulegen. Dadurch sind letztendlich die hochspekulativen Finanzprodukte entstanden. Der Hintergrund ist der Druck über das Aktiensystem. Die Aktionäre erwarten immer mehr Profit, die Gewinnvorgaben steigen ständig. Die Leute in den Betrieben müssen das ausbaden. Der Lohndruck ist massiv, die Mehrheit hat kaum reale Lohnsteigerungen.
Funke: War es richtig, dass die SPÖ im Parlament für die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms gestimmt hat?
Gerti Jahn: Unter den bestehenden Voraussetzungen ist es unbedingt notwendig, dafür zu stimmen. Es hätte fatale Folgewirkungen, wenn ein Staat tatsächlich in Konkurs gehen würde. Das könnte die ganze Weltwirtschaft nach unten ziehen. Der Rettungsschirm ist allerdings ein konservatives Instrument: Es wird solange gewartet, bis ein Staat vor dem Kollaps steht. Erst dann gibt man ihm begünstigte Kredite und verlangt gleichzeitig ungeheure Sparmaßnahmen und Privatisierungsmaßnahmen, die wiederum die Staaten noch stärker in die Krise treiben.
Funke: Wärst du in Griechenland, würdest du die Politik Papandreous mittragen?
Gerti Jahn: Griechenland steht unter dem Druck der EU, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank. Ich würde mich schwer zu entscheiden trauen, hier nicht mitzugehen und den Staat in Konkurs gehen zu lassen. Das würde den Menschen nicht nur die Arbeitsplätze kosten, sondern noch mehr. Wenn es zu Zusammenbrüchen kommt, heißt das ja nicht, dass dadurch von selbst ein neues, gutes System entsteht.
Funke: Lässt sich die Sozialdemokratie hier nicht vor den Karren des Kapitals spannen?
Gerti Jahn: Nein. Es gibt ein sehr umfassendes Gegenprogramm der europäischen Sozialdemokratie gegen die Einsparungs- und Kürzungspolitik. Wir benötigen wachstumsfördernde Programme und ein Ende des Steuerwettlaufs nach unten. Die Staaten brauchen niedrige Zinsen und das können wir nur durch gemeinsame EU-Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, möglich machen. Die sollen über einen europäischen Währungsfonds ausgegeben werden – manche nennen es auch Bank für öffentliche Anleihen. Das würde vorläufig Beruhigung auf den Kapitalmärkten bringen.
Wir sind für eine koordinierte Wirtschaftspolitik mit dem Ziel eines nachhaltigen und sozial gerechten Aufschwungs, umgesetzt durch eine Wirtschaftsregierung – oder in irgendeiner anderen institutionellen Form. Es dürfen nicht einseitig nur Leitungsbilanzdefizite gebrandmarkt werden, auch deren Spiegelbild, also die Leistungsbilanzüberschüsse, müssen zumindest strengstens kontrolliert werden und Maßnahmen dagegen gesetzt werden. Dazu müssen wir es schaffen, europaweit eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik zustande zu bringen. Das heißt, die Produktivitätszuwächse sollten auch tatsächlich an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergegeben werden. Exportstarke Länder wie zum Beispiel Deutschland, aber auch Österreich, hatten in den letzten Jahren Lohnsteigerungen unter ihren Produktivitätszuwächsen. Das hat die Krise weiter verschärft. Die Schwierigkeit: Löhne werden ja nicht über Staaten festgelegt, d.h. es braucht auch innerhalb der europäischen Gewerkschaften eine gut akkordierte Vorgangsweise. Ein weiterer wesentlicher Punkt wird sein, ob es gelingt, Währungen zu stabilisieren.
Funke: Die Krise verschärft sich wieder. Kommt nun eine neue Welle von Kurzarbeit und Lohnverzicht?
Gerti Jahn: Die Leute sind nicht mehr dazu bereit, das zu akzeptieren. Ich glaube, dass die Menschen noch viel mehr auf die Straße gehen werden. Ich setze da auf die europäischen Gewerkschaften, die diesen Widerstand anführen müssen.
Funke: Das heißt, du würdest heute in Athen mitdemonstrieren?
Gerti Jahn: Vermutlich. Vermutlich würde ich mitdemonstrieren. Der entscheidende Punkt ist nur, dass es nicht die Schuld der griechischen Sozialdemokratie ist, was dort passiert. Es ist zum einen die Schuld der Finanzmärkte und zum anderen war es eine konservative Regierung, die diese Tricksereien im Haushaltsbereich damals gemacht hat. Auszubaden hat es jetzt die sozialistische Regierung Papandreous. Es kann ja nicht unser Zugang sein, dass wir dafür sorgen, eine sozialistische Regierung zu stürzen, die noch versucht, die Dinge bestmöglich gegenüber den Neoliberalen abzufedern.
Funke: Alle Regierungen müssen das Programm des Kapitals umsetzen, bei Strafe des unmittelbaren …
Gerti Jahn: … Untergangs. Es ist eben nicht eine Frage der Politik von Einzelregierungen, sondern eine Systemfrage. Es ist ein historischer Zufall, ob die eine oder die andere Regierung an der Macht ist. Man braucht sich nur anschauen, was in Großbritannien los ist: Man hat die Labour-Regierung abgewählt in der Zeit der Finanzkrise, weil Labour in den Augen der Leute nicht in der Lage war, die Probleme zu lösen. Damit sind die Menschen aber vom Regen in die Traufe gekommen. Denn die Konservativen setzen gerade ein Sparprogramm um, das die Menschen aus den Sozialwohnungen wirft und dramatischste Kürzungen vorsieht.
Daher ist mein Zugang: Solange von 27 EU-Staaten 23 konservativ regiert sind, ist das Gewicht der Sozialdemokratie natürlich sehr gering. Insofern braucht es eine europäische Gegenbewegung, nicht nur nationale Gegenbewegungen. Die europäischen Gewerkschaften sind mittlerweile sehr gut organisiert. Und es hat auch bereits einen entscheidenden Erfolg gegeben: dass jetzt die europäische Kommission eine Finanztransaktionssteuer vorschlägt, ist ein wesentlicher Erfolg der europäischen Linken, die das jahrelang verlangt hat. Die Finanztransaktionssteuer wird die Spekulationsgeschwindigkeit verringern und auch Geld in die öffentlichen Kassen spülen. So kann ein Schritt nach dem anderen offensiv angegangen werden.
Nein zum Banken-Rettungspaket
Mit der Zustimmung zu den Euro-Rettungsmaßnahmen begeht die Sozialdemokratie einen schweren Fehler. Dabei gäbe es eine Alternative, schreibt Friedrich Pomm.
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine griechische Tragödie. Die handelnden Personen geraten durch die Macht der Ereignisse in eine ausweglose Lage. Sie gehen – die Leserin weiß es von Anfang an – zwangsläufig ihrem Untergang entgegen. Und in der Tat: Egal, was die Bürgerlichen und ihre Regierungen heute gegen die Euro-Krise tun, sie tun das Falsche.
Bereits im Mai 2010 war das Euro-Projekt kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. Deutschland, das sich lange Zeit gegen einen Rettungsschirm ausgesprochen hatte, musste unter dem Druck der Ereignisse schließlich zustimmen. Um die Märkte zu beruhigen, mussten die deutschen Kapitalstrategen sogar dem hunderte Milliarden schweren Kauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) zustimmen – etwas, das sie ein Jahrzehnt lang mit Verweis auf drohende Hyperinflation als den ultimativen Sündenfall gebrandmarkt hatten. Doch man sagte sich: Wenn wir diesen Schritt nicht gehen, wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die unmittelbar zum Zerfall der Euro-Zone führen könnte.
Ein Poker-Vergleich drängt sich auf: Entweder aussteigen und viel verlieren, oder im Spiel bleiben und die Einsätze erhöhen. Der Grundgedanke hinter dem Rettungsschirm: Je höher die staatlichen Garantien für die Kredite angeschlagener Staaten, desto weniger wird man letztlich tatsächlich hinblättern müssen. Bis jemand den Bluff aufdeckt.
Einige Spielrunden liegen bereits hinter uns, und die Spielsumme ist bereits gehörig angewachsen. Diesen Frühling mussten sich die Euro-Strategen eingestehen, dass die bisherigen Stützkäufe der EZB und der Rettungsschirm nicht ausreichen. Also: Einsätze erhöhen. Staatliche Garantien ausweiten. Dem Rettungsschirm mehr Befugnisse geben. Ende des Sommers waren die Beschlüsse noch nicht einmal durch die nationalen Parlamente gegangen, da hieß es bereits: Wir müssen die Einsätze weiter erhöhen.
Und der Sog der Ereignisse wird so schnell nicht abreißen. Damit sich die Finanzmärkte nicht auf einzelne, schwächere Länder stürzen können, drängt sich der nächste Schritt auf: eine weitere Zentralisierung der Wirtschafts- und Geldpolitik in der Europäischen Union. Gefordert wird dies v.a. von rechten Sozialdemokraten wie Schröder und Gusenbauer. In ihrem Schlepptau befinden sich aber leider auch die linken Teile der Sozialdemokratie, wie das Interview mit Gerti Jahn zeigt. Sie alle vereint die Argumentation: Den Krieg gegen die Finanzmärkte können wir nur gewinnen, wenn sich die Länder durch gemeinsame Anleihen („Euro-Bonds“) verschulden. Damit würde der unmittelbare Druck von einzelnen schwächeren Staaten genommen, die auf niedrigere Zinsen durch die Finanzkraft Deutschlands bauen können. Umgekehrt würden allerdings die Zinsen, die Deutschland oder Österreich für neue Kredite bezahlen müssen, zwangsläufig steigen. Dementsprechend hart die Forderungen dieser Länder: Eine „Wirtschaftsregierung“ zusammengesetzt aus den Staats- und Regierungschefs aller Staaten müsse das Budget eines jeden Staats billigen. (Die LinkskeynesianerInnen fügen dann hinzu, dass sich die europäische Sozialdemokratie an der Spitze einer solchen EU-Wirtschaftsregierung für eine Budgetpolitik des „sozial gerechten Aufschwungs“ stark machen werde.)
Wohlgemerkt: Diese ganze Dynamik ist zu einer Zeit in Gang gekommen, in der zumindest die wirtschaftlich stärkeren Länder noch etwas Spielraum besaßen. Nun zeichnet sich bereits der nächste Abschwung ab. Alle Hoffnung auf einen Aufschwung, der wieder mehr Geld in die Staatskassen spülen und die Situation entschärfen würde, schwindet dahin. Auch Deutschland und Österreich werden dann die Schrauben bei Löhnen und Sozialausgaben anziehen müssen.
Mehr Staat, weniger private Verluste
Der Kreis um Angela Merkel sieht die Gefahr. Er will auf die schöngeistigen Europa-Appelle nicht eingehen. Man hält es für politisch nicht durchsetzbar, letztlich für alle schwächeren Euro-Länder gradezustehen und gleichzeitig als der Buhmann Europas zu gelten, der immer tiefere Einschnitte anordnet.
Daher braucht es aus Sicht der Bürgerlichen einen anderen Rettungsmechanismus. Im September begann die EU-Kommission das nächste offizielle Bankenrettungspaket zu schnüren – notfalls auch gegen den Willen der Banken, die sich durch die staatliche Einmischung die Boni nicht vermiesen lassen wollen. Einige populistische Manöver gegen „die Banken“ werden wohl notwendig sein, um die Öffentlichkeit von weiteren Rettungsmaßnahmen im dreistelligen Milliardenbereich zu überzeugen. Es kann durchaus sein, dass als Flankenschutz eine Finanztransaktionssteuer oder irgendeine andere „Reichensteuer“ eingeführt wird. Vielleicht bringt man auch ein paar skrupellose Manager öffentlichkeitswirksam hinter Gitter. Vielleicht lässt der Standard Christian Felber etwas öfter zu Wort kommen, oder sogar Die Presse. Wir hören bereits die ÖGB- und AK-ExpertInnen jubeln, dass die Bürgerlichen „endlich“ ein Einsehen haben und man auf dem richtigen Weg sei. Lassen wir uns nicht täuschen: Es würde sich um ein Manöver handeln, um das System als Ganzes zu retten. Auf keinen Fall dürfen sich die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ein weiteres Mal für die Rettung der Banken hergeben.
Gibt es eine Alternative zur Position Gerti Jahns?
Es ist ein paradoxes Bild: Gerti Jahn, die als politische Hoffnungsträgerin des Linkskeynesianismus in Österreich gilt, würde in Griechenland für die Sparmaßnahmen stimmen, und gleichzeitig vor dem Parlament protestieren. Paradox vielleicht, aber nur konsequent. Denn sie würde nicht gegen ihr eigenes Abstimmungsverhalten demonstrieren, sondern für eine Änderung der europäischen Wirtschaftspolitik, die den armen Papandreou in diese Lage gebracht hat. Ob die Arbeiterinnen und Arbeiter und die Jugendlichen diesen feinen Unterschied verstehen würden? Wir wagen es zu behaupten. Genossin Jahn würde wahrscheinlich genauso verprügelt werden, wie viele andere Parlamentarier, die es heute wagen sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und die der aufgebrachten griechischen Menge zu nahe kommen.
„Aber“, wenden unsere LinkskeynesianerInnen unisono mit den Bürgerlichen ein, „es gibt eben keine Alternative“. Zumindest nicht, bis „wir“ wieder die Mehrheit der Regierungen in der EU stellen. Wir lassen dahingestellt, ob und wie sich Europas Wirtschaftspolitik ändern wird, wenn der Schattenfinanzminister der SPD Frank-Walter Steinmeier des Kontinents mächtigster Mann sein wird. Aber gibt es tatsächlich keine Alternative?
Durchaus, es gibt sie: Was spricht dagegen, den Spieß umzudrehen und die Bürgerlichen unter Zugzwang zu bringen? Wir sagen: „Unsererseits ist eine Zustimmung zum Rettungsschirm völlig ausgeschlossen. Er bedeutet Elend und Verzweiflung für die breiten Massen und hunderte Milliarden für die Banken. Am Ende wird er den wirtschaftlichen Verfall trotzdem nicht aufhalten können. Daher bringen wir die Streichung aller Staatsschulden und die Verstaatlichung des gesamten Bankensektors zur Abstimmung.“ Die Rechtsparteien (BZÖ und FPÖ), die mit Euro-Kritik punkten können, würden sich schnell als Feinde der Lohnabhängigen entlarven. Und damit die Verstaatlichungen nicht wieder zur sprichwörtlichen Korruption in staatlichen Unternehmen führt, rufen wir zu nationalen branchenübergreifenden Betriebsratskonferenzen auf, die Delegierte wählen, um die Geschäfte der Banken zu kontrollieren. Wir würden die verstaatlichten Banken zu einer einzigen staatlichen Zentralbank zusammenschließen, deren Kreditpolitik das Herzstück einer geplanten Wirtschaft darstellen würde, mit der eine harmonische Entwicklung der Gesellschaft entlang den Bedürfnissen der Menschen in Angriff genommen werden könnte.
Eine Vereinigung Europas auf einer kapitalistischen Grundlage ist unter den Bedingungen der Krise eine reaktionäre Angelegenheit. Die EU ist das Europa des Kapitals und lässt sich nicht reformieren. Die einzige Alternative liegt in der Perspektive eines Vereinigten Sozialistischen Europas. Nur in einer europäischen Planwirtschaft könnte der gesellschaftliche Reichtum dieses Kontinents zur Rettung von Ländern wie Griechenland eingesetzt werden.
Nun werden die LinkskeynesianerInnen vielleicht einwenden: „Wenn wir heute ein solches Programm vorschlagen, wird man uns ansehen, als seien wir vom Mond. So wie die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften heute aufgestellt sind, ist das völlig unmöglich. Stimmen wir lieber für den Rettungsschirm und gewinnen so Zeit, um dann für ein soziales Europa kämpfen zu können.“
Ja, wir machen uns nichts vor – die gesamte heutige Führung der ArbeiterInnenbewegung ist nicht gewillt einem sozialistischen Kurswechsel zuzustimmen. Die politischen Halbheiten der reformistischen Linken bieten jedenfalls keinen Ausweg aus dieser Krise. Nur ein scharfer Bruch mit der bürgerlichen Logik kann die Basis legen für eine Neuorientierung der Linken. Eine vollständige Distanzierung von allen Konzepten zur Rettung des Euros, wie sie heute in den Regierungen und Notenbanken diskutiert werden, muss der erste Schritt sein. Die Linke darf keine Verantwortung für die damit verbundene Politik des sozialen Kettensägenmassakers übernehmen. Die ArbeiterInnen müssen sehen, dass es eine politische Kraft gibt, die kompromisslos ihre Interessen zum Ausdruck bringt. Die Ereignisse werden uns Recht geben.